Nivram and not being Oneself
Aus dem Fenster des hohen Turmzimmers starre ich nach draußen. Wehmütig beobachte ich, schon seit einigen Tagen, wie die weißen Schneeflächen überall auf dem Berg schrumpfen und kurzer Wiese über kargem Boden Platz machen. Im Innenhof der Burg erblühen sieben ordentliche Blumenbeete in allen Farben von Belletristica, und es wird fleißig gejätet, gegossen und geschnibbelt, auch einige andere Beete warten auf ihre Stunde.
Ich hebe den Blick zur Sonne - und entlasse ein Seufzen. Lebewohl, herrlicher, friedlicher Winter. Lebewohl, du weiche Schneedecke, durchbrochen und zerrissen von den frühen Blumen. Lebewohl, dichter Nebel, geschmolzen in der Sonne! Lebewohl, mein lieber, lieber Winter.
Als ich mich vom Fenster abwende, streift mein Blick den hohen, schmalen Spiegel an der Wand. Ich bin schon fast an der Tür, als mein Gehirn den flüchtigen Eindruck verarbeitet hat und sich mein Fell aufstellt.
Ich erstarre und drehe den Kopf ganz langsam zurück. Im Spiegelglas sehe ich den düsteren Raum, der außer dem Spiegel nur einen knarzenden Schaukelstuhl und einen spinnwebenbehangenen Kerzenständer beherbergt. Im Spiegel befindet sich ein grauer Wolf mit Narben auf dem Rücken, jedoch steht dieser nicht kurz vor der Tür zur Treppe nach unten, sondern sitzt mittig vor dem Spiegel und beobachtet mich.
"Nivram!", keuche ich, als ich meine Sprache wiederfinde. "Du sollst das lassen!"
Der Spiegelwolf zuckt zusammen. "Hups, stimmt. Tschuldigung."
Kopfschüttelnd trete ich näher. "Was machst du hier?"
"Also, eigentlich wollte ich mit dir reden." Statt allerdings seinen Vorsatz umzusetzen, tritt Nivram nur nervös von einer Pfote auf die andere.
Ich warte eine Weile geduldig, dann hüstele ich. "Ja ...?"
"Ich, also, eigentlich ... hatte ich gehofft, dass du 'ich auch' sagst und sich herausstellt, dass ich nicht einfach nur komisch bin."
Ich runzele die Stirn. Wieso sollte ich ...? Mein Gehirn rattert und entlässt leise pfeifend Dampf. Es muss also irgendwas sein, von dem er glaubt, dass ich es auch wissen würde. Ist irgendwas in der Burg in letzter Zeit kaputt gegangen? Hat Nivram wieder meinen Bro erschreckt? Mir fällt nichts ein.
"Tut mir leid, Vram. Ich ..."
"Ich fühle mich einfach komisch!", platzt mein Undercover hervor. "Als wäre ich aus Versehen auf der falschen Seite des Spiegels gelandet! Aber das kann nicht sein, denn sonst hättest du auch dieses Gefühl, und das hast du offenbar nicht!" Nach diesem übersprudelnden Geständnis ist er erst einmal außer Atem.
"Die falsche Seite des Spiegels?" Ich sehe mich um. "Aber ... die Spiegelwelt sieht doch ganz anders aus als diese, oder nicht?"
Nivram setzt sich und kratzt sich verlegen hinter dem Ohr. "Schon, aber das läuft wie im Traum. Irgendwie merkst du es nicht, solange du im Spiegel bist. Verrückte Sache."
Ich sehe mich mit ganz neuen Augen um. Seit wann habe ich eigentlich solche leeren, trostlosen Räume in der Burg? Klar, ich habe nicht alle Zimmer möbliert, aber für gewöhnlich halte ich mich für erzählerische Zwecke immer in hübschen Räumen auf.
"Jetzt bin ich doch unsicher", gestehe ich Vram. "Was ist das für ein Gefühl, das du meinst? Vielleicht verdränge ich es nur."
"Das ist eigentlich schwer möglich." Das Undercover überlegt eine Weile mit schiefgelegtem Kopf. "Es ist ... als hättest du Hummeln im Hi- nein, Ameisen im Fell. Alles kribbelt und juckt. Du hast Hunger, jedoch nicht viel, aber keine Speise vermag ihn zu stillen. Weder Brotchips noch Möhren noch Lachs. Es ist, als würde Lyssa in deinem Kopf kreischen, dass du arbeitest, aber jeden Buchstaben streichst du wieder vom Bildschirm und schickst ihn in die Welt des Vergessens, denn sobald du zu tippen beginnst, endet der Schrei in Stille, nur um wiedergeboren zu werden, sobald du aufgibst. Dann versuchst du ein anderes Projekt, doch auch dieses funktioniert nicht." Nivram seufzt. "Du willst rennen und dich verstecken, jubeln und tanzen, trauern und brüllen, und allezeit bist du so erschöpft, dass du auch keine Pfote vor die andere setzen willst." Er steht auf und beginnt, hinter dem Spiegelglas auf und ab zu laufen. Er fletscht die Zähne, ein Schauer gesträubten Fells läuft über seinen Rücken. "Und alles von Außen, jedes Wort, jeder Duft, jedes Geräusch - all das ist zu viel."
Ich fühle, dass mich ein Echo seiner Anspannung erreicht, und zucke nervös mit einem Ohr. Allerdings straffe ich mich. Mit Schreibblockaden kenne ich mich aus - kein Problem!
"Ich weiß nicht, ob das etwas mit Spiegeln zu tun hat", beruhige ich ihn. "Aber du brauchst eindeutig eine Ablenkung!"
Wie zum Beweis jault Nivram plötzlich auf. Er ist mit der Nase gegen den Spiegelrand gestoßen - der aus Metall ist. Statisch aufgeplüscht springt er zurück.
Ich grinse. "Du stehst eindeutig unter Strom!"
"Nicht witzig! Also, was hilft dagegen?"
"Hm, da gibt es keine simple Antwort. Wölfe sind sehr komplexe Lebewesen. Wie die Natur im Großen befinden wir uns im Kleinen in einem fragilen Gleichgewicht. Jede Form von Übermaß oder Mangel kann alles ins Chaos stürzen! Wir müssen herausfinden, was es bei dir ist. Also, Verdacht eins: Zu viel geschrieben!"
"Das geht?!"
"Ja - aber verrate bloß Lyssa nicht, dass ich das gesagt habe. Also, wie viel hast du heute geschrieben?"
"Etwas über eine Seite. Mindestmaß - na gut, fast zwei Seiten."
"Mehr als genug!"
"Aber ich will noch mehr schaffen."
"Unfug! Was nicht will, kann nicht gezwungen werden."
"Vielleicht noch ein, zwei Sätze ...?"
"Zuerst gehen wir über zum Essen! Hattest du schon deine Brotchips?"
Nivram seufzt, dann nickt er. "Ja! Und als ich immer noch Hunger hatte, bin ich einmal durch die Küche gelaufen. Also hatte ich auch Lachs von Xenon, Möhren und Äpfel von Mac, und Mobu hat mir ganz viel Zeug gegeben, wo ich vielleicht noch ein, zwei Namen weiß ..."
"Ich dachte, die leben in meiner Welt", wundere ich mich leise.
Nivram sieht auf und schüttelt den Kopf. "Oh, nein. In der Spiegelwelt leben Abbilder von jedem lebenden Wesen. Oder auch mal dämonische Zwillingsbrüder. Die meisten von uns können nur nicht hinaus, wir bleiben hinter dem Glas gefangen. Und hier kann man auch, wenn man sich zu weit von den Spiegeln entfernt, in das NICHTS UND ALLES fallen. Erst nachdem du mich daraus befreit hast, hast du mir ein Pseudonym und damit den Aufenthalt in eurer Welt gestattet. Aber diese Seite ist eigentlich genauso bevölkert."
"Na gut, also ... Brotchips, Fisch, Obst. Das hast du alles gefressen?"
Nivram guckt unschuldig. "Eventuell war auch Sam da."
"Zu viel durcheinander gegessen!", diagnostiziere ich. Wer einige der Spezialitäten von Samstag Asparagin probiert hat, kann froh sein, wenn er danach nicht im Krankenhaus landet. "Und wie sieht es mit Sport aus?"
"Ich bin schon dreißig Mal nervös im Kreis gelaufen und hatte zwei Kämpfe mit einem Kissen."
Ich mache einen gedanklichen Haken. "Und Entspannung? Hast du dich mal ausgeruht?"
"Ausgewas?"
Ich hebe den Blick. "Verstehe! Wir brauchen ein Bad."
Nivram zuckt zusammen und guckt mich entsetzt an. "B-b-b-b-..."
"Hey, atmen, Grauer!", mahne ich den hyperventilierenden Wolf. "Das wird halb so schlimm, ich verspreche es. Wir nehmen die neue Kristallgrotte dafür."
Nivram beruhigt sich. Sonderlich glücklich sieht er nicht aus, aber die Grotte macht ihn dann doch neugierig. Das ist ein ganz neuer Anbau im Inneren des Berges, an den sich die Feste schmiegt und worin sich zahllose Tunnel und Zimmer erstrecken. Im Herzen dieser Anlage haben wir nun bei mehreren Räumen Decken und Wände entfernt und daraus einen riesigen Raum geschaffen. Inmitten von Becken, in die sich klares Wasser aus zahlreichen Wasserfällen ergießt, erhebt sich eine große Trauerweide mit gläsernen Zweigen, die in einem sachten Windhauch klimpern und violettes oder silbriges Licht ausstrahlen. Kleinere Kristallbäume zieren die Ufer. Hinter einem Wasserfall verborgen liegt ein privates Zimmer für eine sehr liebe Seerose, während sich in den oft naturbelassenen Höhlen an den Seiten Whirlpools und Saunen befinden. Es ist ein richtiges Traum-Badezimmer für alle, die das gewisse Salamander-Feeling mögen. Schon als ich eintrete rieche ich den Duft klaren Wassers, vermischt mit einem Hauch Badeschaum aus irgendeinem der abgegrenzten Becken. Die Luft ist relativ kühl und das Wasser eisig, sofern man nicht einen Tümpel über einer vulkanischen Quelle wählt. (Die übrigens hoffentlich nicht echt sind, sondern nur irgendein Belle-Zauber - ich möchte nicht herausfinden, dass meine Burg auf einem Vulkan steht!)
Als ich die Grotte betrete, die erfüllt ist vom melodiösen Klimpern der Kristallpflanzen und dem Plätschern von Wasser, taucht Nivram in einer spiegelnden Oberfläche auf und bricht im nächsten Moment triefend daraus hervor. Er schüttelt sich kräftig, ehe er sich umsieht. "Schick."
"Die Pflanzen hat White Moon gezüchtet." Ich lächele versonnen. "Ich glaaaube, mit Lyssas Hilfe."
Nivram schnuppert. "Was ist das für ein Duft?"
"Öhm, ich glaube, irgendwas mit Rose, Lavendel und Vanille oder so."
Ich tapse in einen der Seen und lasse mich ins Wasser gleiten. Nivram folgt mir. Ich höre sein erleichtertes Seufzen, als er sich im Wasser treiben lässt und vorsichtig entspannt.
Ich schließe die Augen und dümpele neben ihn. Seltsam - müsste ich mich nicht eigentlich freuen, dass ich ihm helfen konnte? Wieso habe ich jetzt so ein merkwürdiges Kribbeln? Als würde irgendwas nicht stimmen - ein Kapitel nicht in das Buch passen, weil eine Konstante durchbrochen wurde.
Jetzt hab' ich es: Normalerweise bin ICH derjenige, dem in diesem Buch geholfen wird. Und nicht andersherum!
Ich will ja nicht meckern, ich helfe echt gerne. Aber der Erzähler bricht doch niemals aus seinen Vorgaben aus ...
Ein blaues Licht sirrt in die Grotte. "Marv! Marv!"
Ich hebe den Kopf. "Ja?"
"Nicht du - MARV!"
Ich starre Lyssa an. "Lys, ich ..."
"Klappe!", faucht das Licht mich an. "Ich komme die ganze Zeit nicht mit meiner neuen Idee durch, und warum? Weil ihr Idioten euch heute besonders witzig findet!"
Ich werfe einen Blick zu Nivram, der meine Verwirrung seiner Natur gemäß perfekt spiegelt.
"Häh?", fragen wir eloquent.
Das Krea-Ich plustert sich zornig auf. "Du bist Marv", sie deutet mit einem Lichtstrahl auf Nivram, "und du bist Nivram!" Sie deutet auf mich.
Wir starren einander wieder an, diesmal länger. Bis Lyssa entnervt stöhnt und aus Niv- Marvin zurast. Mit einem leisen Zischen fährt sie in seine Brust. Zeitgleich strahlt ein blauer Funke im Schwarz seiner Pupillen auf.
"Oh", mache ich. Das kann Lyssa wirklich nur bei Marvin machen, weil er der Autor ist.
Ich starre auf meine Pfoten.
"Ähm ... vielleicht brauchte ich doch keine Entspannung", murmelt Marvin. "Ich war nur auf der falschen Seite des Spiegels."
Ich muss kichern. "Wusste gar nicht, dass diese Fähigkeit sogar mich täuschen kann!"
"Das liegt daran, dass Lyssa die Logik immer weiter runterdreht", meint Marvin. "Irgendwann implodiert noch das Universum deswegen!"
"Dauert aber noch", kommt es gleich darauf schnippisch aus seinem Maul.
"Na gut - dann gehe ich mich mal trocknen und zurück in den Spiegel." Ich sehe schon, dass Marvs Blick abwesend wird. Er sieht nur noch, was Lyssa ihn sehen lässt. Irgendwelche neuen Größenwahnsinnsprojekte. Die blühen im Frühjahr auf wie Unkräuter.
"Viel Spaß und ... danke, Niv."
Ich schnippe mit einem Ohr. "Kein Ding."
~*~
Und schließlich sitze ich in einem Turmzimmer, das nur einen Spiegel, einen knarzenden Schaukelstuhl und einen spinnwebenbehangenen Kerzenständer beinhaltet. Aus dem Fenster, dessen Oberfläche leicht spiegelt, sehe ich den Innenhof. Oder eher zwei Bilder, die sich überlagern.
In dem einen Bild erblühen zarte, edelsteinerne Knospen auf ordentlichen Reihen von Feldern, gehegt und gepflegt von fleißigen Pseudonymen, die sich abwechseln, sodass fast jede Stunde jemand vorbeikommt. Leuchtendes Schilfgras begrenzt die Felder auf allen Seiten. Die Pflanzen glitzern im Sonnenschein im Spektrum aller Farben.
Doch wenn ich den Kopf bewege, blitzt ein anderes Bild auf. Der eisige, zugeschneite Innenhof der Spiegelwelt, in der der Frost noch nicht vom Sonnenschein verdrängt wurde. Zarter Schnee bedeckt den Boden mit einer schützenden Decke, die die Geheimnisse des Frühlings unter sich verbirgt.
Und ich fühle, dass ich endlich am richtigen Ort angekommen bin. Ein unglaubliches, mächtiges Gefühl, von dem mein Herz überfließen will wie ein Fluss zur Schneeschmelze. Ohne große Worte, ohne besonderen Anlass, eine goldene Stunde - dies ist wahres Glück.