The wanderer on being stuck in dreams
Fast einen Meter hoch türmen sich die Schneewehen rings um die graue Burg auf der abgeflachten Kuppe des Berges. Die dunklen Tannen draußen beugen sich im Wind, der so dichtes Flockentreiben aus den Wolken schüttelt, dass die kleinen, im Schnee versunkenen Hütten außerhalb der Burgmauern gar nicht mehr zu erkennen sind.
Draußen ist nicht geräumt. Wer in einer der Blockhütten sitzt, ist den Rest des Winters an die einsame Schreibstube gefesselt, jedenfalls bis der Schnee schmilzt und sich die Türen wieder öffnen lassen. Einmal pro Tag bekommt man Besuch von einem Otter auf einem selbstgebastelten Fluggerät. Xenon kontrolliert in meinem Auftrag, dass alle Gäste genug Brennholz und Nahrung haben. Sollte da irgendwas nicht stimmen, kann ich Ressourcen aufwenden, um Benötigtes zu liefern oder sogar jemanden zu evakuieren.
Doch um alle Hütten täglich freizuräumen, dafür reicht es nicht. Der Schnee fällt so dicht und in solchen Mengen, dass ich kaum eine Pfote vor meine Burg setzen kann.
Durch ein hohes Fenster, an dessen Glas Schnee klebt, beobachte ich Mac unten im Hof. Der braune Hengst lässt sich dreimal pro Tag vor den Schneepflug spannen und räumt freundlicherweise den Innenhof frei. Da wir in wenigen Tagen die Teilnehmer des Valentinstagswichteln erwarten, muss der Weg vom Luftschiffhafen bis zur Burg frei sein. Zwar schneit es sowieso ohne Unterlass, aber wenn wir nicht regelmäßig freiräumen, würde der Schnee zu hoch werden und am 14. hätten wir keine Chance mehr.
Also kämpft der arme Mac sich täglich vorwärts, während Sepia sich weigert, in ein Geschirr gespannt zu werden.
Ich wende den Blick ab und sehe durch das Kaminzimmer. In der Feuerstelle glimmt etwas Glut vor sich hin, ansonsten liegt das Zimmer in Dunkelheit, die für Wolfsaugen jedoch recht angenehm ist. An den Wänden stehen Bücherregale, vor dem Kamin zwei Sessel, in einer Ecke ein gemütliches Sofa. Es gibt ein dreibeiniges Gestell mit einem kupfernen Globus, ein Hundekörbchen neben dem Kamin, einen kleinen, runden Tisch samt Stuhl, darauf ein Notizbuch und ein Stift, eine Kiste, in der sich Decken, Kissen und auch eine Schachtel mit Kerzen befinden, auf einer Anrichte einen Teekessel, den man über das Feuer hängen könnte, und eine Schale Brotchips. Ein Kronleuchter hängt unter der Decke, in den Ecken stehen große Kerzenhalter statt Stehlampen. Weiche Teppiche schützen Wolfspfoten vor dem kalten Stein des Bodens. Ein paar Landschaftsbilder laden zum Träumen ein. Alles in allem die typische Einrichtung für Zimmer in meiner Burg. So sehen hier fast alle Räume aus. Nur tief im Berg gibt es die Gästezimmer, und weiter unten auch Küche, Wäscherei und den Thronsaal. Dazwischen liegen endlose leere Zimmer.
Trotzdem ... irgendwas stört mich gerade.
Ich sehe mich noch einmal genauer um und bemerke einen Gegenstand, der nicht hierher gehört.
Dann bewegt sich der Gegenstand!
Ich stoße ein Quieken aus und hüpfe hinter den Sessel.
"Huch!", sagt jemand. "Hallo? Ist da jemand?"
Die Stimme ist absolut unauffällig. Ich kann nicht einmal sagen, ob sie einem Mann oder einer Frau gehört. Was daran liegt, dass der Besitzer weder noch ist.
Ich stecke den Kopf hinter dem Sessel hervor. "Weltenwanderer! Seit wann sitzt du da?"
"Ich ..." Verwunderung liegt auf der weißen Maske, die der Weltenwanderer statt eines Gesichts trägt. "Keine Ahnung. Welches Jahr haben wir?"
"2021."
Der Weltenwanderer legt den Kopf schief. "Dann ... schon eine Weile."
Ich trete neben diese wohl merkwürdigste Gestalt.
Falls der Weltenwanderer einmal einen Namen hatte, so ist dieser lange vergessen, wenngleich ich ihn gerne Alex nenne. Ich habe sein - oder ihr - Gesicht noch nie zuvor gesehen. Meist trägt er eine Kapuze oder einen tief ins Gesicht gezogenen Hut, manchmal auch diese weiße Maske, wenn er sich nicht allein auf den Schatten verlassen will. Sein Kleidungsstil ist dunkel und männlich, weshalb er der Weltenwanderer ist, und keine Weltenwanderin. Was man von erkennen kann - Hände, Statur, Stimme, Bewegung - ist unbestimmbar. Wenn ich ihn frage, wie er angesprochen werden will, zuckt er jedes Mal nur mit den Schultern.
Namen, Geschlecht, Vergangenheit - all diese Dinge bedeuten dem Weltenwanderer nichts. Er kommt aus Phantasma, aus dem Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, angefüllt mit Träumen, Geschichten, Ideen und Gedanken. Verborgen vor den meisten Blicken reist er durch Werke der Weltliteratur und hypothetische Universen, durch die Alpträume von Kindern und die verlorenen, alltäglichen Gedankenfetzen.
All das kann nur dazu führen, dass man verrückt wird. Auch jetzt ist er schon wieder ganz woanders: Er hat die Augen geschlossen, durch die bewegliche Maske klar zu erkennen, und scheint ein Bild jenseits des Horizontes zu betrachten.
Ich dagegen betrachte ihn. Sein Kleidungsstil ist praktisch, so lässt es sich am besten zusammenfassen. Er trägt fast immer diesen großen Rucksack, an dem eine Pfanne, ein Fernglas und ein Seil baumeln. In einer Seitentasche steckt eine Thermosflasche mit rußgeschwärztem Boden, weil er darin auch kocht. Der Deckel der Blechflasche lässt sich als Tasse verwenden. Im Rucksack selbst befinden sich auf jeden Fall ein Feuerzeug, Lebensmittel, Verbandszeug, ein Nähset, einen kleinen Kocher und vermutlich noch eine Menge anderer Kleinigkeiten. Obendrauf ist eine gerollte Decke befestigt. Dazu kommen stabile und sehr dreckige Wanderstiefel und eine weiße Hose mit großen Taschen, ein Gürtel, an dem Handschuhe, eine Machete und ein Wasserschlauch befestigt sind. Über einem langärmeligen Hemd trägt er eine Weste mit - du ahnst es - noch mehr Taschen, darunter einen breiten Ledergürtel im Stil einer Schärpe, der kleine Messer, ein paar Phiolen mit seltsamen Tränken und einen Kompass trägt. Ein Cowboyhut mit einem Band unter dem Kinn rundet das Bild ab, aber momentan hat Alex den Hut nicht aufgesetzt.
Alexander ist übrigens eine Maske, die er tragen kann, genauso, wie ich als Autor in das Fell von Marvin schlüpfen kann. Ich weiß nicht, ob Alexander die letzte Erinnerung an sein echtes Leben ist, aber ich vermute es eher weniger. Obwohl ich es in einer Geschichte als seine Vergangenheit genommen habe, ist der Weltenwanderer schon länger unterwegs, als die Geschichte von Alex existiert.
Wie es wohl sein mag, keine Vergangenheit zu besitzen? Jede Rolle annehmen zu können, sie überzustreifen wie ein Hemd? Er kann fremde Gesichter tragen und in neue Namen schlüpfen. Er kann als Original Charakter in jede bekannte Fantasywelt eintreten, oder sogar existierende Figuren ersetzen. Vielleicht ist er eine Art Parasit, doch soweit ich weiß richtet er keinen Schaden an.
"Ich würde niemals jemandem schaden."
Erschrocken bemerke ich, dass Alex die Augen geöffnet hat.
"Verzeih, Marv. Ich bin irgendwie in deine Gedanken hineingestolpert. Verrückter Zufall, oder?"
In der Tat - Phantasma besitzt so viele Welten, dass es unmöglich ist, ohne Hilfsmittel in diesem Wust irgendeinen speziellen Ort zu finden.
"Aber ... jetzt bist du draußen, oder?"
Der Weltenwanderer nickt. "Aber wenn du magst, kann ich deine Frage trotzdem beantworten."
Ich setze mich neben seine Füße. "Ist es denn ... ich weiß nicht, ist es nicht traurig, keine Vergangenheit zu haben?"
"Mein Leben ist Segen und Fluch zugleich", murmelt der Weltenwanderer nachdenklich. "Eine Vergangenheit ist auch immer eine Kette, die dich bindet. Sie kann ein Anker sein, der deine Identität im sicheren Hafen hält, doch ich liebe nun einmal die Stürme. Gleichzeitig gibt es schwere Gewichte, vergangene Schmerzen, nicht vergessene Angst, die dich zum Grund eines tiefen Ozeans zu ziehen vermag. Wünsche und Träume sind wie Schienen, die dir nur noch an Weichen eine Wahl lassen, aber ich wandere mit Vorliebe abseits der Zivilisation. Wenn ich alles ablege, bin ich leicht genug, um zu fliegen."
"Noch ein Pseudonym, das vom Fliegen träumt", murmele ich halblaut.
"Ich frage mich eher, wer von uns nicht davon träumt." Alex grinst. "Hyph, Lys und Sylas - und wie sie alle heißen - können es sogar. Ihr Wölfe träumt alle von den Sternwiesen. Mac und Sepia sind Pferde und Mobu ein Reiter - auch das ist eng mit dem Fliegen verwoben."
"Timofei!", antworte ich wie aus der Pistole geschossen.
"Ich denke, er ist mir am ähnlichsten", meint Alex. "Er beschränkt sich auf seine eigene Welt, ohne sich darum zu kümmern, was Andere denken. Nur ist seine Welt klein und meine unendlich."
"Ich glaube, ich würde mir verloren vorkommen."
"Das tue ich auch manchmal." Der Weltenwanderer lehnt sich zurück. "Aber ... bei mir ist es wie bei einem Wolf, der in die Sterne guckt. Andere mögen sich klein fühlen, doch der Wolf erblickt seine Heimat."
Ich lege den Kopf schief. Tatsächlich, so ergibt es mehr Sinn! Das Verständnis des Weltenwanderers für Wolfsdinge ist unglaublich.
"Ich kann jeder und alles sein - und dafür opfere ich mein 'Ich'. Ich bin nur noch eine Hülle, eine weiße Maske, die auf immer neue Farben wartet. Ein flüchtiges Kunstwerk und gerade deshalb glücklich. Aber ich verstehe, dass nicht jeder einfach so alles aufgeben kann."
"Ich glaube, mein eigentliches Problem wären die Gefahren, denen man auf diesen Reisen begegnet!"
Das ist etwas, was mir wirklich Sorgen bereitet. Der Weltenwanderer ist noch jung - etwas, das man ohne Zweifel feststellen kann. Ich weiß nicht, wie lange er ein solch gefährliches Leben übersteht.
"Alles, wirklich alles, ist ein Handel, den man mit dem Universum eingeht. Du erkaufst dir Sicherheit durch Eintönigkeit. Willst du neue Erfahrungen, musst du die Sicherheit aufgeben. Willst du Freiheit, so zahlst du in Gefahr." Der Weltenwanderer lächelt versonnen. "Ich habe meinen Kauf getätigt und lebe nun mit den Schulden."
"Ist es das wirklich wert?", frage ich.
Doch der Blick meines Freundes ist bereits wieder leer. Er ist der Realität entflohen, nicht aus freiem Willen, aber ohne Gegenwehr. Vor meinem Blick wird sein Körper blasser und blasser, bis sich das Polster des Sessels mit einem leisen Seufzen aufbläht und auch der Abdruck seines Körpergewichts verschwunden ist.
"Auf Wiedersehen, mein Freund", flüstere ich leise.
Sein Zustand kann gruselig oder traurig erscheinen. Er ist in einer Welt der Unbeständigkeit gefangen, kann sich niemals länger als einige Minuten an einem Fleck halten und weiß nie, was hinter der nächsten Ecke oder dem nächsten Gedanken lauert. Er ist unkonzentriert, verträumt, man könnte ihn für einen Autisten halten.
Aber gelegentlich beneide ich ihn trotz allem, nicht nur um seine Ruhe und das stille Glück, das er ausstrahlt.
Träume sind eine gefährliche Macht. Man darf sie nicht unterschätzen.
Aber sie sind auch wunderbar.