Marv goes marching on
Blinzelnd sehe ich mich um. Ich erkenne die Steinmauern meiner Burg wieder, die die Luft im Inneren angenehm kühl halten. Doch eine warme Brise streift durch den Raum und lässt die verstreuten Blätter meines jüngsten Manuskripts rascheln.
Wie lange habe ich schon wieder geschrieben? Vorsichtig stecke ich die Nase aus dem schmalen und fast bodentiefen Fenster, und pralle zurück, als mir Hitze entgegenschlägt.
Sommer! Ach du Schreck!
Ich flüchte in die dunklen Flure meiner Burg, doch auch hier hat die heiße Jahreszeit Einzug gehalten. Aus sonst düsteren Nischen quellen Blumensträuße, deren Geruch sich mit dem Aroma duftender Teelichter vermengt, die in kleinen Wasserschalen auf allen geeigneten, waagerechten Flächen verteilt wurden. Die Teppiche auf dem Boden wurden ausgeklopft und zeigen tatsächlich mal etwas von ihrer eigentlichen Farbe.
Die Graue Feste ist gar nicht mehr so grau - nur die Spinnweben sind glücklicherweise geblieben. Oder vielmehr schneller zurückgekehrt, als man sie entfernen konnte. Der August ist eben ein Spinnenmonat.
Als ich in den Thronsaal einbiegen will, lenken mich Stimmen ab, die aus dem Burghof kommen. Neugierig geworden folge ich dem Luftzug, der die Gänge durchströmt. Jemand hat die hölzernen Türflügel weit aufgerissen, um die Hitze hereinzulassen. Ich kann das Laub der Bäume riechen, noch bevor ich in den Sonnenschein trete.
Der Ursprung des Gelächters ist rasch gefunden. Meine Pseudonyme haben sich zu einer Grillparty im Innenhof versammelt. Auf der Mitte des gepflasterten Platzes sehe ich das aufgeschichtete Holz für ein Lagerfeuer. Der Knochenknurpsler tigert um den Holzstapel, aber noch hat sich offenbar kein Daumenbesitzer erbarmt und die Flammen entzündet. Der Weltenwanderer steht am kalten Buffet, einer langen Tafel aus einer der Burghallen, die unter Speise und Trank ächzt. In Krügen und Karaffen warten Met, Milch, eisiges Wasser und frischgepresste Säfte. Neben Rohkost und Nudelsalaten kann ich rohes Fleisch und Stockbrotteig riechen. Und Marshmallows.
Der Weltenwanderer bedient alle Vierbeiner, die sich etwas vom Angebot nehmen wollen, sodass er erst mal kein Feuer machen kann. Und auch Mobu ist beschäftigt. Der Elf sitzt im Schatten eines großen Baumes, den Rücken an den Stamm gelehnt und das Hyphurion im Schoß. Timofei, Sepia und ein paar Gäste von außerhalb hören ihm zu, während er aus der Chronik vorliest. Ich schnappe nur ein paar Worte auf, von geheimnisvollen Blumenreichen, in denen winzige Feen leben, und unglaublichen Abenteuern.
Das Gelächter stammt im Übrigen von Xenon. Der kleine Otter hat sich seine Aonyx 3 geschnappt, seinen selbstgebastelten Flieger, und jagt über dem Burghof dahin. Am Boden folgen Nivram, Urdoggo und Cyb und versuchen, das Flugschiff zu fangen. Macchiato trottet hinterher, entschuldig sich bei allen, die die drei über den Haufen gerannt haben, und fängt ins Kippen geratene Statuen auf.
In dem aufgestellten Pool flackert es verräterisch Blau und Golden. Lys und Syl lieben es, Wasser mit Kreativität aufzuladen. Irgendeine arme Seele, die nur etwas Abkühlung und Entspannung sucht, wird heute wohl noch für mehrere Stunden vor der Tastatur kleben.
Jedenfalls sieht es aus, als hätte das ganze Rudel seinen Spaß.
"Möchtest du nicht zu uns kommen?"
Ich drehe den Kopf. Marvin, der Autorenwolf, ist neben mir im Burgeingang erschienen. Nach dem Körbchen voller Brotchips zu urteilen, das er vor seinen Pfoten abgestellt hat, war er offenbar Nachschub holen.
Ich schüttele den Kopf. "Große Feiern sind nicht meins."
"Selbst Timo ist gekommen."
"Es ist schon in Ordnung so. Ich bin noch nicht ganz wieder in dieser Welt. Ich war so vertieft ins Schreiben ..."
"Ich verstehe", sagt Marvin. "Dann lass dich nicht aufhalten, Erzähler."
Ich grinse. "Von dir jedenfalls sicherlich nicht, Autor."
Belustigt zuckt Marvin mit den Ohren. "Bevor ich gehe, möchte ich aber noch ... hast du das Schlachtfeld schon gesehen?"
Ich seufze. "Ja, natürlich." 'Das Schlachtfeld' ist meine Festplatte. Das, was nach meiner Aufräumaktion noch von ihr übrig ist. "Es hat ein paar tolle Videos erwischt. Und ich denke, ich muss ein paar Leuten noch antworten, die schon etwas länger warten."
Marvin erwidert mein schiefes Lächeln mit einem wissenden Nicken.
"Aber, um es positiv zu sehen: Alle Bücher haben überstanden. Und auch Mobu, was ja im Grunde das wichtigste wäre."
"Ja, Mobu hätten wir wirklich vermisst." Marvin sieht zum Baum hinüber. "Ich will ehrlich sein, als wir ihn losgeschickt hatten, waren wir nicht sicher, ob wir ihn wiedersehen."
"Ich kann es euch nicht verdenken. Aber ich habe genug fiktionales Blut an meinen Pfoten, vom Schreiben her. Da braucht es nicht noch mehr Opfer. Und ich denke, ich kann jetzt damit umgehen."
"Pass trotzdem auf dich auf. Wir brauchen nicht nur Mobu, sondern auch dich." Marvin nimmt den Korb wieder auf.
Ich sehe ihm nach, während er zu den anderen läuft, die ihn freudig begrüßen.
Sie alle verdienen ihren Platz. Oh nein, ihnen soll niemals etwas geschehen. Ihnen nicht, und auch nicht den Pseudonymen, die vielleicht noch kommen. Ich brauche sie noch.
Ich drehe um, und wandere durch die Gänge. Hier drinnen ist es angenehm, wenn auch längst nicht mehr kühl. Aber es sind perfekte Temperaturen zum Schreiben.
Ich hatte ein paar dunkle Wochen, also gibt es viel aufzuholen! Die Ideen sprudeln ohne Ende. Ich habe Lyssa im Verdacht, das Trinkwasser behandelt zu haben. Aber noch will ich deswegen nicht mit ihr schimpfen. Ich habe Zeit vor mir und eine gut geölte Schreibmaschine. Was will man mehr?
Ich nehme ein paar Schlucke Wasser, trotte einmal durch die Gänge, und schon zeichnen sich die Linien eines neuen Plots vor mir in die Luft. Also ran an die Tasten!
Draußen senkt sich die Sonne zum Horizont. Die Schatten werden länger und erglühen in warmem Orange. Grillen zirpen und Glühwürmchen tanzen über dem Berg. Durch das Fenster strömt der rauchige Duft des Lagerfeuers.
Ich liebe die relative Stille meiner Schreibkammer. Ein tiefstehender Sonnenstrahl bricht sich im Kronleuchter und hüllt das Zimmer in ein goldenes Gewand, warm und kräftig wie Honig. Ich tippe beschwingt und fließend, in derselben Geschwindigkeit, in der mir die Ideen zufliegen, und fühle mich wie auf einer Autofahrt mit offenem Verdeck.
Und ist nicht jeder noch so kurze Moment dieser Art alles wert, was man auf dem Weg dorthin erleiden musste? Jeder Tropfen Glück rechtfertigt das Leid, mit dem man ihn erkaufte. Diese flüchtigen Sekunden sind berauschend, doch niemals etwas besonders, erfüllt von einer tiefen, entspannten Zufriedenheit ohne besonderen Grund.
Ein Gefühl, als würde man in den Strom des Lebens eintauchen.
Ja, das ist alles wert.
~*~
"Und?" Lyssa schwebt neugierig näher. "Ist es was geworden?"
Ich betrachte die zusammengelegten Seiten. "Ich bin mir nicht ganz sicher."
"Aber du hast so lange daran geschrieben!" Höre ich da einen leisen Vorwurf in ihrer Stimme, weil ich die Zeit nicht für noch mehr Projekte genutzt habe?
"Es ist Discovery. Du weißt, damit bin ich nie wirklich zufrieden. Ich brauche Pläne."
"Bah!" Lyssa macht ein Geräusch wie ein Kind, das die Zunge rausstreckt. "Ordnung!"
"Immerhin", ich schiebe die Seiten zusammen, "ist es fertig. Man kann immer noch überarbeiten."
"Ja - oder neuschreiben." Lyssas Flackern wird heller. "Oder was ganz Neues schreiben."
Ich schiele zur Schreibmaschine. "Nach dem Buch ist vor dem Buch, wie?"
"Du brauchst das", rechtfertigt sich Lyssa.
"Und ich mache es ja auch gern", gebe ich zu. "Also, was hast du heute für mich?"
"Was hältst du von Drachen ...?"
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Wenn du möchtest, kannst du mir für deine absoluten Lieblingswerke ein paar Brotchips über Ko-fi spendieren: https://ko-fi.com/grauwolfautor
Das ist natürlich kein Zwang und du solltest das nur tun, wenn du gerade etwas entbehren kannst.
So oder so bedanke ich mich vielmals für's Lesen!