Die Inhaltswarnung aus dem letzten Kapitel hat weiterhin Bestand.
Marvin and the Darkest of Days
Aufräumen. Ich muss aufräumen.
Mein Leib fühlt sich furchtbar schwer an, dennoch wie von Blitzen durchzuckt. Wie eine feste Gewitterwolke, ein eingeengter Sturm, der kein Ventil findet.
Aufräumen ...
Ich öffne mein Mailfach. Unbeantwortete Post, Betaleseaufträge, freundliche Hinweise auf interessante Angebote und Veranstaltungen blitzen mich an.
"Hey, Marv, lange nichts mehr von dir gehört. Ich wollte mich einfach mal melden, vermisse dich ..."
"Marvin, Lieblingswolf, magst du diesen kurzen Text korrekturlesen? Das Thema könnte was für dich sein! :)"
"Exklusiver Brotchipsausverkauf, nur noch diese Woche!"
"Sag mal, es gibt da diesen kostenlosen Schreibworkshop, soll ich dich anmelden?"
Nein. Nein! NEIN! NEIN!
Meine Pfoten zucken über die Tasten. Löschen. Weg damit. Papierkorb leeren.
Ein Ladebalken erscheint. Vergeht.
Ich atme auf. Eine Last scheint verschwunden, ein winziger Teil dieses Drucks. Doch noch lange nicht genug.
Mein Blick gleitet zum Postausgang. Das Fach scheint vor mir davonhüpfen zu wollen, doch es hat keine Chance.
Dann sehe ich mich um. Es juckt mich in den Pfoten, weiterzumachen. Ich fühle mich besser, habe Blut geleckt.
Sämtliche Dateien in meinem Blickfeld beben. Mit leisem Kichern scanne ich die Anzahl der Ordner und Unterordner. Fangen wir klein an ... die alten Videos von "Sims 3" können weg. Alle! Dann die Minecraft Screenshots - nein, das sind zu viele, um sie jetzt durchzugehen, und ein paar davon brauche ich noch. Aber Fotos aus der realen Welt nicht. Wer braucht schon Erinnerungen an seine Freunde?
Oder Dokumente von Agenturen und Verlagen?
Oder, was das angeht, Unterlagen aus den letzten Semestern an der Uni?
Doch auch, nachdem der Papierkorb leer ist, vergeht diese Stimme nicht, die mich anbrüllt. Mein Blick wandert zum Ordner mit meinen Werken. Dort, wo Lyssa täglich Chaos anrichtet.
Aufräumen. Leeren. Alles weg.
Nein! Das sind die Bücher. Bücher werden nicht angetastet.
Bevor ich noch alles, was Lyssa je geschaffen hat, aus der Festplatte brenne, konzentriere ich mich lieber auf die echte Welt.
Auch in meiner Burg ist es chaotisch. Jemand - vermutlich graupfötig - hat in den letzten Wochen nichts getan. Staub und Spinnweben bilden Baldachine unter den Decken, benutzte Körbchen und Decken stapeln sich in den Ecken, Brotchipskrümel versanden in den Ritzen zwischen den mächtigen Steinen, aus denen meine Burg errichtet ist. Und sind da noch einige Tannennadeln zwischen?
Raum für Raum, denke ich mir. Einfach Raum für Raum vorgehen.
Aufräumen. Löschen. Vernichten.
"Marv?"
Ich hebe den Blick und starre in eine Art Spiegelbild. Ein grauer Wolf mit vernarbtem Rücken, passend zum Pridemonth in eine regenbogenfarbene Aura gehüllt. Marvin Grauwolf im Gewand, das Loki und Frost mal maßgeschneidert haben.
"Hallo Marvin." Ich will an dem Wolfpseudonym vorbei, um die großen Staubsauger zu holen.
"Warte bitte kurz. Wir müssen reden."
Ich drehe den Kopf in Marvins Richtung, sehe aber knapp an ihm vorbei. Durch meinen Kopf geistern schon wieder To-Do-Listen. Marvin verwaltet die veröffentlichten Werke. Dazu gehört zum Beispiel das Luftschiff "MS Schattenmann", das letztens im Amazon-Luftraum mit einer verirrten Kanonenkugel zusammengestoßen ist und jetzt mit deutlichem Leck an Höhe verliert. Ich weiß nicht, ob ich mein drittes Luftschiff in dieselben Gebiete schicken will, oder ob meine Hexen in unbekannte Gefilde segeln sollen. Aber vorher müsste ich die Bücher fertig kriegen ...
Mein Fell juckt. Ich möchte am liebsten alles auf einmal machen: Greg 3, die Hexen, natürlich die freien Projekte, meine Spielbücher und das P&P, die Fanfiktions und Fantasyromane, und Recherche für alles, Reiseführer für Mobu, neue Landkarten, Partnerprojekte ...
"Marv!"
Ich merke, dass ich zu hecheln begonnen habe. Marvin reißt mich aus meinen Gedanken.
"Was ist denn?", frage ich kurz angebunden.
"Hast du Mobu gesehen?"
"Nein."
Ich will endlich weiter! Wenn ich es recht bedenke, muss ich auch noch alte Geschichten überarbeiten. Oder vielleicht lieber aufräumen. Manche davon haben nicht einen einzigen positiven Aspekt! Ganz sicher nicht die Rechtschreibung, aber auch keine originellen Charaktere, keine guten Storylines ... Um ehrlich zu sein, trifft das doch auf alles zu, was ich bisher habe. Und ich verschwende meine Zeit, ich müsste eigentlich am Lebenswerk arbeiten!
Das brennende Prickeln weicht auf einen Schlag eisiger Kälte. Ich richte mich auf und starre Marvin an.
Welchen Sinn hat das alles schon? Als könnten Worte die Welt verändern!
"Genau das wollte ich nicht ...", murmelt Marvin kleinlaut und senkt den Blick. Täusche ich mich, oder wird sein graues Fell eine Nuance dunkler?
Ich fühle mich blind. Verloren in einer Finsternis ohne Licht und ganz besonders ohne Pfad. Wo ist der Weg, dem ich immer folgen wollte? Die Straße, die mich zu meinem Ziel bringt. Meinem Ziel als Autor, etwas Gutes zu tun, irgendwas zu bewegen ...?
Gibt es diesen Weg eigentlich? Kann ein Autor irgendwas an der Welt ändern? Kann ein einfacher Grauwolf das? Oder bin ich zum Zusehen verdammt?
"Was machen wir nur aus unserem Leben?", fragt Marvin mich traurig. "Uns läuft die Zeit davon und wir haben einfach keinen Plan. Keine Taktik."
"Nur To-Do-Listen, ohne zu wissen, was darauf stehen sollte und was nicht", ergänze ich. "Und viel zu viel Zeit geht für andere Sachen drauf. Geldverdienen, Kochen, Schlafen - all das, was am Ende eines Lebens eh umsonst war."
Der andere Wolf sieht mich mit gelben Augen an. "Das ist wie ein Krieg, den man im Nebel führt."
Die graue Burg verschwindet. Nebel fluten durch die Gänge, wallen in die Zimmer, türmen sich zu einer erstickenden Umarmung auf. Im hellen Grau sehe ich kaum etwas, nur noch Marvins funkelnde Augen. Wieder spüre ich ein Kribbeln im Fell, diesmal, weil es sich sträubt.
"Und wenn man einen Krieg im Nebel führt ..." Ich sehe Marvin an.
"Dann weiß man nicht, wo der Feind steht", flüstert der Grauwolf.
Wir drängen uns aneinander, Flanke an Flanke, und starrten in beiden Richtungen in den Nebel.
Irgendwo jault etwas unheimlich. Hoffentlich ist es nur der Wind, der über Widerstand streicht. Unter unseren Pfoten rascheln Tannennadeln auf weicher Erde. Aus dem hellen Nebel sinken Schneeflocken.
"Du musst dagegen ankämpfen", drängt Marvin mich. "Sieh mich an! Denk an all das, was wir bereits geschafft haben!"
Zwei Luftschiffe. Weitläufige Pseudonymsiedlungen. Burgen. Welten.
Ein Luftschiff mit schwerem Leck, sinkend. Und ist das zweite wirklich so hoch geflogen? Siedlungen voller Ruinen, in denen nur die Geister von Ideen leben, die sich niemals auf Papier manifestieren konnten. Eine Burg voller leerer Zimmer. Und Welten ...
Ein Knacken ertönt, als ein morscher Ast unter einem schweren Gewicht bricht.
"Denk an dein Rudel", sagt Marvin. Unruhig sieht er sich um.
Ich senke den Kopf. Gesichter blitzen vor mir auf und verschwinden so schnell, wie die im zunehmenden Wind wirbelnden Flocken. Meine Freundschaft ist eine tiefe, platonische Liebe, mein Rudel ist mein fester Halt. Und doch wurde diese Liebe immer wieder enttäuscht. Mein engster Kreis wurde mir entrissen, wandte sich von mir ab, hat mich verraten. Ich bin für sie durch die Flammen gegangen, deren Narben ich noch immer trage, die vier Schnitte auf meinem Rücken, über die nie wieder Fell wachsen wird.
An jenem schicksalhaften Tag ...
"Nicht daran denken!", ruft Marvin alarmiert. "Denk an was anderes, irgendwas ..."
Jenseits des Bereichs, den ich sehen kann, raschelt es. Dumpfe Schritte ertönen. Undeutlich kann ich dunkle Riesen erkennen, die schwankend näherkommen. Sie sind überall, doch das Rascheln ist näher. Das ferne Jaulen ebenfalls.
Marvin dreht sich im Kreis, die Rute zwischen die Hinterläufe geklemmt und die Zähne abwehrend gebleckt.
Ich sollte ihm helfen, an seiner Seite kämpfen, doch ... ich bin kein Kämpfer.
Ich bin nur ein Grauwolf, verbrannt von Drachen, zu vielen Schlägen zum Opfer gefallen.
"Marv!", brüllt der Autorwolf. "Wehr dich gegen sie!"
Es ist ein Gift in meiner Seele. Und ich weiß, wann ich vergiftet wurde. Als ich jung war, kaum ein Welpe, habe ich die Grenzen der Welt überschritten. Ich war dort, hinter der Decke aus Schnee, zwischen Wolken in einem Himmel, so weiß, dass man sich in einem Stern wähnt. In dem Licht, das in der Dunkelheit scheint und ruft.
Ich kehrte zurück. Weil ein blaues Licht mich fand und wir einen Pakt schlossen. Weil wir uns gegenseitig helfen und stützen. Ein Vertrag, den ich einhalten will.
Aber manchmal ist es so schwer - jeder Atemzug ein Kraftakt, jeder Herzschlag mühsam und voller trägem Gewicht. Manchmal ist allein das Dasein eine Qual, die bloße Existenz. Dann wirkt das Gift und ich erinnere mich an den schwerelosen Raum, nur eine Federnbreite entfernt. Dort, wo ich Flügel trage, wo es keine Schreie gibt und keine Stimmen, die endlose Freiheit, die zeitlose Welt.
Die Sternwiesen.
Ich war dort. Und ein Teil von mir erinnert sich. Ich weiß, dass ich nichts zu fürchten habe, und so fürchte ich den Tod nicht.
Ich sehne mich danach.
"Du darfst nicht nachgeben - komm schon!" Marvin steht vor mir. Im tosenden Wind jaulen unbarmherzige Stimmen, kreischen Worte, die sich mir nur in Form von Bildern offenbaren: Tickende Uhren. Brennende Wälder. Blicke voller Trauer und Leid. Strömende Massen. Schmelzende Gletscher. To-Do-Listen und Terminkalender.
Meine persönliche Hölle vermengt sich mit Erinnerungen an Verrat und Tod, mit dem Hilferuf der Welt und der verdrehten Logik der Menschheit.
Ich will etwas dagegen unternehmen. Aber was? Ebenso gut könnte sich die Mücke gegen den Sturm auflehnen.
Ich sehe auf, in den gelben Blick von Marvin. Mein Zwilling und Spiegelbild, vielleicht auch eine Kopie. Doch er kämpft verzweifelt, einen Kampf, den er nicht gewinnen kann.
Aus dem Himmel stößt ein Schatten herab. Ich spüre den Windzug der Schwingen im Fell, der Schnee aufwirbelt. Als dieser herabsinkt, ist Marvin fort. Ich stehe allein in einem Nebel, der sich schwarz verfärbt. Schwarz ragten auch die dürren, knochigen Gestalten auf, mit leeren, weißen Augenhöhlen und mitleidig verzerrten Mündern. Schnee drückt auf meinen Rücken, zwingt mich in die Knie, auf den Bauch. Die Luft ist dick geworden, zu dick zum Atmen. Als wäre ich unter Wasser, viele Meilen unter dem Ozean.
"Lyssa ...", wimmere ich. "Wo bist du?"
Die knorrigen Hände mit ihren langen Klauen greifen nach mir, doch ich sinke schneller in den Schnee, als sie mich erreichen können. Weißes Licht umhüllt mich, hell und heller, begleitet von einer singenden Stille, die den Lärm des Sturms ertränkt.
Ich kann Lieder hören, obwohl ich weiß, dass dort keine Musik ist. Schnee fällt über mich, entzieht mich dem Zugriff des Lebens, drückt mich in die weiche Schicht des Bodens.
Ich spüre meinen Herzschlag gegen den Grund wummern.
Dann wird er ruhig. Immer langsamer. Entspannter.
Leiser.