Bevor wir weitermachen, hier ein paar Worte der Warnung: Die letzten vier Kapitel dieses Buches werden noch einmal ein wenig düsterer als die bisherigen. Sie werden auch stärker zusammengehören, und das heißt, dass ich die angesprochenen Probleme manchmal erst ein Kapitel später auflöse.
Wenn ihr Trigger bei Themen rund um Depressionen und Suizid habt, solltet ihr vielleicht an dieser Stelle aufhören, denn es kann durchaus passieren, dass ich stärker auf so etwas eingehen werde. Ich schätze mal, handlungstechnisch entgeht euch hier aber auch nicht mehr viel.
Wenn ihr dagegen "nur" Schwierigkeiten habt, wenn solche Themen nicht positiv aufgelöst werden, würde ich raten, erst im August zurückzukehren, wenn dieses Werk abgeschlossen ist.
Und zuletzt: Die Handlung der nächsten Kapitel ist grob vorgeplant. Zwar ist das hier teilweise ein Tagebuch, jedoch habe ich mir die schlimmsten Themen bewusst für das letzte Drittel aufgehoben. Macht euch also keine Sorgen. Auch wenn ich euch ein paar dunklere Tage zeige, heißt das nicht, dass diese aktuell sein werden, und vor allem kenne ich auch das letzte Kapitel bereits, dessen Licht aus dramaturgischen Gründen erst am Ende kommen wird.
Mobu on giving too much to Creativity
Mit einem frustrierten Murren lecke ich über meine schmerzenden Pfoten. Schon wieder vertippt! Sehr böse starre ich auf meine pelzigen Füße. Warum könnt ihr Dinger keine Daumen und Finger haben? Das würde das hier deutlich vereinfachen.
Ich schüttele mich und trotte etwas im Kreis, um meine verkrampften Muskeln zu lockern. Meine Vorderbeine zittern leicht und fühlen sich unangenehm steif an. Die Schmerzen müssen von den Sehnen stammen, weil ich mal wieder zu viel geschrieben habe.
Müde sehe ich auf das Blatt. Nur noch ein paar Zeilen - dann ist die Pflichtseite für heute geschafft und ich kann mich ausruhen.
Jedenfalls eine halbe Stunde. Dann ist Mitternacht und es beginnt ein neuer Tag, an dem eine neue Seite geschrieben werden will. Ab Mitternacht ist es wieder ein Kampf mit sich selbst, sich zum Schreiben zu überreden.
Testweise stupse ich mit der Nase auf die Tasten. Ich weiß ja, was ich schreiben will, und wenn die Pfoten nicht wollen ...
Autsch. Das ist nicht nur super unangenehm, sondern auch noch viel zu langsam. Ich kann so nicht denken! Mit gesträubtem Fell blecke ich die Zähne. Komm schon, Körper! Nur noch ein paar Zeilen - und die Zeit drängt!
~*~
Sehr platt liege ich auf der Seite und lasse den wärmenden Feuerschein auf meinen Pelz. Ich habe alle Viere von mir gestreckt und fühle dem heißen, pulsierenden Pochen nach, das meine Beine hinauf und hinunter strömt.
Das sollte entspannend sein, aber es entspannt mich nicht. In meinem Magen sitzt ein dicker Knoten und in meinen Ohren rauscht mein Pulsschlag. Jedes Geräusch bohrt sich wie ein Nagel in meinen Kopf oder hämmert auf meinen Schädel ein - abhängig davon, wie seine Frequenz ist.
Atemzug um Atemzug wird schwerer. Irgendeine Macht scheint mein Herz zusammenzudrücken.
Ich bin so müde! Aber ich fühle mich auch wie eine Stromleitung und finde einfach keine Ruhe. Kein Gedanke nimmt in meinem Kopf klare Gestalt an. Als hätte mein Gehirn seine Brille verlegt.
Ich lege die Ohren an, als ich Schritte höre. Stoff raschelt leise, doch auf halbem Weg durch meinen Gehörgang schwillt das Geräusch zum weißen Rauschen eines alten Fernsehers an. Bei den Sternen, mein Kopf tut so weh!
Eine Hand streicht durch mein Fell. "Marvin ... was hast du?"
Mobus Worte sind ein Donnern, dass sich durch meine Eingeweide gräbt. Ich presse die Zähne aufeinander. Verdammt - meine Pseudonyme können ein Echo meiner Gefühle spüren. Ich tue ihnen diese Hölle hier auch an.
Währenddessen setzt sich der alte Elb schwerfällig hinter mich. Ich weiß schon, warum meine kleine Pseudonym-Armee ihn geschickt hat. Niemand hat eine so gelassene, beruhigende Aura wie Mobu Cajatoshija.
"Du darfst dich nicht immer so überarbeiten", tadelt er mich leise. "Das hältst du nicht lange durch."
"Ich will nicht lange durchhalten", murre ich. Eine Tonne weichen Stoffs scheint mich zu begraben, mich niederzudrücken. Mobus Hand brennt fiebrig in meinem Fell. "Ich will das alles nicht. Ich will nicht mehr."
"Ich weiß", sagt der Elb leise und legt sich neben mich. "Es ist manchmal überwältigend."
Er hat aufgehört, mich zu streicheln, was mich ehrlich gesagt erleichtert. Selbst vor dem Feuer spüre ich eine Kälte, die wohltuend durch mein Fell streicht. Schnee. Ich möchte Schnee!
"Es ist so schwer manchmal ...", murmele ich. "Das ganze Leben, meine ich."
"Es wird besser."
Immer die gleichen Floskeln! "Woher willst du das wissen?" Ein Grollen dringt aus meiner Kehle. "Bist du ein Zeitreisender?"
"Ich bin an das Hyphurion gebunden."
Das weiß ich natürlich. Ich seufze. Ich wollte Mobu ja nicht anknurren, aber ... irgendwie macht mich jedes Geräusch heute kirre!
"Es ist genau wie deine Lyssa", erklärt Mobu mir überflüssigerweise. "Es ist ein Handel ... ein Pakt. Du erhältst Kreativität, ich Einblicke in die Geschichte der Eisenwelt. Wir beide transferieren unsere Visionen in Worte. Und dafür nehmen Lyssa und Hyphurion etwas als Preis."
Wenn er doch nur aufhören würde zu reden! Ich will heute nichts mehr hören. Absolut nichts.
Ein schallisolierter Raum, das wäre was. So eine richtige Gummizelle, die jede Schallwelle verschluckt. Ich habe gehört, dass die Stille einen Menschen in kürzester Zeit an den Rand des Wahnsinns bringen soll - aber ich würde im Moment wirklich gerne für eine Stunde in so einem Zimmer schlafen können.
Oder auch für immer. Stille ... herrliche Stille!
"In Hyphurions Fall ist das Buch zu einem Drittel Dämon. Ich hätte damit rechnen können", murmelt Mobu. "Und was Lyssa angeht ... Was ist Lyssa genau, Marvin? Wie habt ihr euch getroffen?"
"Ein Blümlein stand im tiefen Tal, durch das ich kroch in größer Qual", murmele ich wie unter einem Bann. "Steckt seine Blüten aus zum Licht, doch ach, die Sonn' erreicht es nicht."
"Eine Blume?"
"Ja ... und nein." Ich springe auf. Mein Schwanz peitscht durch die Luft. "Ich will nicht darüber reden!"
"Aber du kennst ihren Preis? Was sie dich kostet? Damit könnten wir dann arbeiten."
"Mein Deal mit Lyssa steht nicht zur Diskussion!" Knurrend wirbele ich herum.
Mobu weicht zurück. Die Furcht in seinem Blick ist fast noch schlimmer als alles andere. "Das hätte ich niemals vorgeschlagen. Ich bin immerhin der Hüter des Hyphurions! Aber wir brauchen eine Diagnose, sozusagen, um dir das Ganze zu erleichtern."
In meinen Ohren hallt ein fernes Echo, der Rhythmus des Gedichts, das Mobu aus mir herausgekitzelt hat. Wie ein Ohrwurm oder das Flüstern einer fernen Beschwörung.
Natürlich habe ich es selbst geschrieben. Und doch ... fühlen sich Gedichte oft so an, als würde eine fremde Macht meine Pfoten lenken, als würde eine finstere Melodie die Worte in ihren Bann ziehen.
Und dieses Gedicht ist besonders schlimm. Es ist zwar ordentlich, aber auch sehr chaotisch, denn es mischt zwei Stile. Es ist unfertig. Ich hasse es und kann mich doch nicht von seinen Worten trennen, es weder löschen noch überarbeiten.
"Ich schnitt an steinigem Geröll
mir tief die Pulsschlagadern auf,
sah sprudelnd einen roten Bach
im Staub sich suchen seinen Lauf.
Da streckte sich der Blütenkelch,
die Wurzel wand sich wie Getier.
Es wuchs im kargsten Ödenfleck
die Blume in die Höh' vor mir."
Etwas fehlt. Aber ich weiß nicht, was ... und ob ich das fehlende Teil jemals finden werde.
"Marvin ... hörst du mir zu?"
"Ich bin Marv", grolle ich. "Marvin ist doch der Name für das Autorenprofil."
"Genau, das Pseudonym Marvin Grauwolf. Findest du das nicht sowieso verwirrend?"
Ich lege die Ohren an. Mobu und seine verdammte Höflichkeit, die ihn davon überzeugt hat, immer die längste Form eines Namens auszusprechen!
"Lass mich ... einfach in Ruhe." Ich kehre dem Zimmer den Rücken zu.
"Marvin ..." Mobu läuft mir natürlich trotzdem nach.
Mein Fell juckt. Mein Kopf pocht. In mir wächst das Bedürfnis, einfach alles zusammenzuschreien.
Ich will doch nur etwas Ruhe!
"Du musst da nicht allein durch."
Allein ... allein zu sein wäre jetzt wunderbar!
Mein Blick fällt auf eine Uhr. Ein neuer Tag. Die To-Do-Liste für heute ist bereits geschrieben, und ein paar Punkte von Gestern sind auch darauf umgezogen. Wie jeden Tag. Diese Listen werden immer länger und länger. Haushalt, Uni, Arbeiten, Schreiben ... seit Monaten pausierte Bücher stapeln sich zu Wolkenkratzern. Eigentlich sind es ordentliche Gebäude, doch irgendwann kommt der Windzug, der sie ins Schwanken bringt.
Ich sehe die Wolkenkratzer beben. Stürzen. Krachend verwandelt sich die Häuserschlucht in eine Lawine.
Zu viel. Es ist einfach zu viel. Ich bin in meinem "Thronsaal" angekommen. Hier hängen die Spiegel zu meinen Pseudonymen, hier liegen die Listen aus, hier ist meine Übersichtszentrale.
Alles chaotisch! Alles zu viel!
Wie lange habe ich schon keine Pause mehr gehabt? Wie viele Jahre kämpfe ich immer wieder gegen einen übermächtigen, unsichtbaren Feind, der so viel stärker ist?
Und wieso?
Ich hatte keine Hoffnung mehr.
Da fragt die Blum': "Was führt dich her?
In dieses Reich der Finsternis,
voll Trauer, Angst und Bitternis?"
"Marvin!" Mobu ist hinter mir erschienen. Doch ich sehe nicht nur den dunkelhäutigen Elben in seinem weiten Gewand, sondern auch sein Profil.
So viele Worte, und zu wenige überarbeitet.
So viele Cover - und nie weiß ich, was ich da mache!
So viele Ideen, so viele offene Enden.
Ich brauche ein Ende!
Mobu erstarrt, Panik im Blick, als er die Dunkelheit in meinen Augen erkennt.
Eine Stimme zischt mir ins Ohr, scharf und grausam.
Töte den Überflüssigen!