Timofei on hiding from the World
Dieser Januar ist hart. Ich glaube, ich habe den gesamten Monat lang keinen Himmel gesehen.
Es ist nicht so, dass mir die Sonne fehlen würde. Ich bin ein Wolf, wir sind die Kinder der Lunis. Sol hat sich von seinen Erben abgewandt.
Ich vermisse die Sterne. Und den Schnee. Ich vermisse die Jagdlieder der großen Rudel und die endlose, sibirische Freiheit meiner Heimat.
Den einzigen Schnee, den ich bekomme, ist der belletristicanische Schneeballschnee. Der ist natürlich witzig, aber er kommt eben nur in Geschossform vor.
Ich kann gar nicht ausdrücken, mit welcher schmerzlichen Macht ich mir knirschendes Weiß unter den Pfoten wünsche. Kälte und Flocken in der Luft, eine weiße Decke der Vergebung über allen Hügeln und Wäldern, weißer Atem, glattgefrorene Straßen, eben ... Winter.
Stattdessen führt mich mein Weg heute nach Coconut Grove.
Das ist eine kleine Siedlung in Adventuria, am Ufer des Meeres, das Origin umgibt. Ein palmenbesetzter Strand am Ozean. Einen gefühlten Steinwurf von einer kompletten Wüste mit Drachen entfernt!
Weiter kann man sich vom Schnee kaum entfernen.
Trotzdem besteige ich das Luftschiff am Hafen pflichtgetreu. Im Sommer werde ich ja auch keine Lust haben, mich in warme Gefilde zu begeben, da kann ich es genauso gut jetzt hinter mich bringen. Es ist ja nicht so, als hätte ich eine Wahl. Timo verlässt seine Heimat nicht von selbst. Wenn ich möchte, dass er auf den grauen Berg kommt, muss ich ihn persönlich und explizit einladen, sodass er nicht ablehnen kann, ohne unhöflich zu erscheinen, und außerdem seine Luftschiffreise organisieren.
Dann ist es immer noch leichter, einfach selbst aufzukreuzen.
Ich mache das mit einiger Regelmäßigkeit, aber mindestens einmal im Jahr, bei jedem Pseudonym. Einfach mal nachsehen, ob es ihnen gut geht, wie die Geschichten gedeihen oder ob die Arbeiten brachliegen. Man verliert schnell den Blick für Dinge, die man nicht täglich zu Gesicht bekommt, und seitdem so viele Pseudonyme in ihre eigenen Siedlungen gezogen sind, muss ich zusehen, dass ich niemanden vergesse.
Timofei ist da leider ein sehr anfälliger Kandidat. Es würde ihm niemals in den Sinn kommen, von selbst auf mich zuzukommen. Nein, er schreibt einfach still und heimlich seine kleinen Werke. Wenn er sieht, dass ich viel anderes zu tun hab - eigentlich immer - dann hält er sich zurück, statt zu drängeln, dass da noch diese oder jene Idee wäre.
Es hilft nicht, dass Timo die Romantik-Geschichten hat, wo ich ohnehin ungerne vorbeischnuppere. Es ist eine gefährliche Mischung aus unvertrautem Terrain, einem zurückhaltenden Pseudonym-Herzog und vielen deutlich lauteren Ablenkungen von anderen Pseudos.
Als ich auf dem warmen Strand eintreffe, ist Timo nirgendwo zu sehen. Ich sehe mich suchend um. Seinen Namen zu brüllen hätte wenig Effekt - das sorgt nur dafür, dass er aus Angst, sonst würden ihn alle anstarren, tiefer im Sand versinkt.
Also die langsame Taktik ... Ich beginne, jedes Schneckenhaus am Strand umzudrehen und dabei meine Ungeduld zu unterdrücken. Vielleicht ist er ja hier drin ... nein ... da hinten, die weiße Muschel! Auch nicht. Aber es hätte sehr gut zu ihm gepasst. Dann die Kokosnussschale? Hm, hätte ich mir denken können, zu groß für ihn.
Aus dem Ohrenwinkel höre ich ein Schaben.
Ich drehe mich um und lausche genauer. Jetzt ist alles still, aber das Geräusch war sehr nah.
"Timo?", flüstere ich behutsam.
Etwas zuckt. Ein winzig dünner, schwarzer Strich vor einer buntgemusterten Tasse. Oder vielmehr kein Strich, sondern ein Stielauge, das nun versucht, unauffällig zurück in die Tasse zu schlüpfen.
"Da bist du!" Vor Erleichterung wedele ich mit dem Schwanz und lasse mich neben die Tasse fallen. "Wie geht es dir?"
"G-gut", flüstert es aus der Tasse. "Alles gut."
"Wie läuft es mit den Geschichten?"
Feines Klackern. Das sind winzige Krebsscheren, die gegeneinander stoßen. So, wie Menschen vielleicht an ihren Fingern herumspielen würden, macht Timo das mit seinen Scherchen. Dann höre ich: "Hab gehört, Macchiato hat da dieses neue Projekt ..."
Ich atme tief durch. Ganz vergessen: Timofei redet nicht gerne über seine Geschichten. Oder darüber, dass er schreibt. Oder ... überhaupt über sich.
Generell: Er redet nicht gerne.
"Brauchst du irgendwas? Neues Material? Einen Ausflug?"
"Nein, alles gut."
Ich bleibe auf dem Bauch liegen und sehe auf das Meer. Welle um Welle rollt an den Strand, während ich überlege, wie ich Timo zu etwas mehr Selbstbewusstsein ermuntern könnte. Er steht sich doch nur selbst im Weg! Um glücklich zu werden, muss er doch Andere an sich heranlassen. Er tut mir richtig leid, wie er so vollkommen alleine hier hockt, niemals aus seiner Tasse ausbricht und niemals Besuch bekommt.
Welle um Welle rollt an den Strand. Schon fast hypnotisch.
Ich merke, wie meine Lider langsam heruntersinken. Die Brise streicht angenehm durch mein Fell, versetzt mit feinem Sand. Fast wie Winterwind mit einzelnen Schneeflocken ...
Etwas kieselt neben mir. Verwundert sehe ich zur Seite und kann bestaunen, wie eine winzige, rötliche Krebsschere ein ganz kleines Steinchen aus der Tasse und neben mich schiebt.
"Den habe ich vor zwei Wochen gefunden", berichtet Timofei stolz. "Ist er nicht hübsch?"
Ich starre auf das Steinchen. "Ja, sehr hübsch." Aber, um mal ehrlich zu sein, für mich sieht er aus wie jeder andere Stein auch. Er ist steingrau und strandgelb, ohne ein richtiges Muster, und hat eine langweilige, rundliche Form. Stell dir einen kleinen Stein vom Strand vor: Das allererste, was dir in den Kopf kommt, ist vermutlich echt nah dran. Langweiliger geht es kaum!
Es kieselt wieder, als Timo sein Steinchen zärtlich anstupst und dann vorsichtig zurückzieht. "Ich habe eine Weile überlegt, ob ich ihn in meine Sammlung aufnehmen soll, aber er passte so gut. Er hat diese gewisse ... Freundlichkeit."
Ich staune noch etwas, so viele Worte am Stück von meinem kleinen Krebschen zu hören. "Deine Sammlung ..." Ich besehe mir die kleine Tasse. Da würde ja nicht mal meine Pfote reinpassen! "Hast du da drin überhaupt Platz, Timo?"
"Ich brauche nicht viel."
"Und Licht? Siehst du die Steine überhaupt?"
"Natürlich! Ich habe viel Licht. Allerdings ..." Er zögert. "Ich glaube, du würdest nichts sehen."
"Verstehe", murmele ich.
"Es sticht auch nicht so stark in den Augen."
"Hm."
Die Sonne glitzert auf den Wellen. In meinem Bauch breitet sich ein warmes Gefühl aus. Ich würde nicht direkt sagen, dass ich glücklich bin, aber doch zufrieden. Als würde ich vollkommen im Moment und in mir selbst ruhen.
Vielleicht sollte Timo mir nicht leidtun. Nur, weil ich ein Rudelwolf bin, heißt das nicht, dass er ein Rudeleinsiedlerkrebs ist. Ich bette den Kopf auf die Pfoten, genieße die salzige Luft, die Sonne und die Stille. Timofei redet ja nicht viel, also weiß er, wie es ist, einfach mal den Moment zu erleben.
Ich verdränge alle anderen Gedanken. Es gibt da noch den ein oder anderen Punkt zu tun. Besuche, Organisationen, Dinge, die ich erledigen müsste.
Aber das kann warten. Wenigstens eine halbe Stunde.
All diese Sachen muss ich tun, für einen Abschluss an der Uni, für Geld, für ein sauberes Haus. Aber diese Momente hier, die sind wirklich kostbar. Wenn aller Stress mal zurücktritt und diesem einem Gefühl des Friedens Platz macht.
Bei den Sternen, ich wünschte, sie wären nicht so selten! Ich wünschte, ich könne sie abrufen und mich jederzeit so fühlen, als wäre ich am richtigen Ort, zur richtigen Zeit.
Aber andererseits ... wäre es nicht mehr das Gleiche, wenn ich jede freie Minute einfach genießen könnte. Wo wäre dann ihr Zauber? Wie sollte ich mich daran zurückerinnern und sagen "Ja, das war einer der guten Momente"?
Und ehe ich mich versehe, bin ich eingeschlafen und träume mich fort zu endlosen Schneeweiten, weißen Hügeln unter dichten Wolken, nebenverhangenen Tannenwäldern und schroffen Bergen.
Ich bin Zuhause. Dort, wo ich mit mir selbst allein sein kann, an einem Ort, der Anderen wie eine Hölle erscheinen könnte, liegt meine Heimat.
Ab und zu muss man dem, was Fremde als Glück sehen, den Rücken kehren und sich selbst finden.