The Brothers and the Creation of better Worlds
Missmutig schalte ich den Fernseher aus und starre noch eine Weile auf den schwarzen Spiegel des Bildschirms.
Verdammt. Ich weiß wieder, wieso ich jede Verbindung zur Welt der Nachrichten gekappt habe.
Manchmal möchte ich die Menschen gerne packen und schütteln.
Mit gesträubtem Fell erhebe ich mich und trotte in den Thronsaal. Dort funke ich das Portal zu Xenons Pseudonym an. Den Otter erreiche ich allerdings nicht - weil er nicht für dieses Kapitel vorgemerkt ist - und lasse ihm einen Briefraben zukommen.
'Hey, Xenon, ich möchte dir eine sehr wichtige Aufgabe vertrauensvoll übertragen: Vernichte bitte den Fernseher im Turmzimmer des Grauen Berges. Ich werde nicht mal schimpfen, wenn du dafür TNT benutzt.'
Ein etwas flaues Gefühl bleibt, als ich dem wagemutigen Otter etwas erlaube, das potentiell so gefährlich werden kann. Aber der übereinstimmende Rat meiner Berater in Sachen Xenon wies darauf, ihm etwas mehr Freiraum zuzugestehen. Ihm zu vertrauen.
Das sagt sich so leicht!
Manchmal habe ich das Gefühl, dass man niemandem mehr vertrauen kann. In heutigen Zeiten sind andere Personen eine uneinschätzbare Gefahr geworden, weil sie ein unsichtbares Virus mit sich schleppen können. Den Politikern kann man scheinbar auch nicht mehr zutrauen, die Pandemie in den Griff zu kriegen. Aber wenn sie das nicht machen, wer sonst? Arbeitgeber können nicht einfach ihre wirtschaftlichen Interessen vergessen. Sie müssen ja auch von etwas leben. Die Profiteure der Pandemie scheffeln aber auch nur ihren Reichtum, ohne zu teilen. Schwurbler sind natürlich gar keine Option ...
Mit anderen Worten: Jeder macht, was er oder sie will. Aber um ehrlich zu sein interessiert mich die aktuelle Katastrophe kaum. Corona hat mein Leben so wenig beeinflusst, dass ich mir manchmal wie von einem anderen Planeten vorkomme. Ja, ich muss Masken tragen und Abstand halten. Für mich kein Problem. Die Masken wirken wie diese Brottüten, in die man bei einer Panikattacke atmen soll, und Abstand zu anderen Menschen ist für mich auch sehr angenehm.
Nein, es geht um die anderen Dinge. Wenn dann jemand vor mich tritt und zu jammern beginnt - "Seit Monaten keine Konzerte!", "Ich konnte mich mit niemandem treffen.", "Man sitzt nur zu Hause und tut nichts." - dann werde ich still.
In meinem ganzen Leben war ich nur auf drei Konzerten. Zwei davon, weil mich jemand freundlicherweise mitgenommen hat. Freunde treffe ich vielleicht ein-, zweimal im Jahr. Ich kannte jemanden, der als Kind jedes Wochenende in einen Zoo oder Freizeitpark gebracht wurde. Das war dann auch mein Sozialkontakt, also saß ich in der Zeit alleine zu Hause und machte nichts.
Das ist ein bisschen so, als würde sich jemand hinstellen und meckern, dass er nicht mehr fliegen kann. Also so richtig von sich aus, nicht mit Hilfsmitteln wie einem Flugzeug. Ist mein Alltag wirklich so furchtbar, dass jeder darunter leidet, wie ich zu leben?
Das ist ein merkwürdiges Gefühl, was mich in erster Linie wütend macht. Offenbar ist es nicht gerecht, wie mein Leben bisher verlaufen ist. Offenbar hätte ich auch mehr dürfen sollen, mehr können sollen. Offenbar hätte ich mein Leben bisher auch als Anlass nehmen sollen, diverse Vergünstigungen einzusacken! Wegen Corona zählen die aktuellen Semester an der Uni nicht. Wegen der Pandemie suchen Menschen nach alternativen Wegen. Weil Menschen jemand liebes verloren haben, gibt es plötzlich neue therapeutische Angebote.
Wo war diese ganze Rücksicht, als es noch nur vereinzelte Existenzen betroffen hat? Wo war das Geschrei wegen der furchtbaren Einsamkeit, als das nur für die Alten galt, im Pflegeheim weggesperrt?
Und was wird bleiben, wenn Corona vorbei ist? Für manche Menschen - für erschreckend viele Menschen - wird die Welt so bleiben wie jetzt, nur das öffentliche Interesse wird sich von ihnen abwenden.
Während all dieses Chaos' fallen viele wichtige Themen unter den Tisch. Ich denke da an Flüchtlinge, Kriege, Hungersnöte - oh, und diese Kleinigkeit namens Klimawandel.
Was für eine verdammte Rolle spielt es, ob ein paar Einzelhändler schließen müssen, wenn ihre Läden eh demnächst unter dem Meer liegen? Was macht es, den blöden Arbeitsmarkt zu zerschießen? In einem Waldbrand lässt sich schwerlich eine Handwerksausbildung beginnen. Also warum sorgen sich alle um die Schäden, die Kinder durch die Unterrichtsausfälle erleiden werden - und niemand denkt daran, dass diese Kinder förmlich ins Aussterben der Menschheit geboren wurde?
Ein Schatten am Rande meines Blickfeld reißt mich aus den Gedanken. Mit gebleckten Zähnen fahre ich herum. "WAS?!"
"Hallo Marv." Mein Gegenüber grinst unbeeindruckt. Ich bin natürlich ausgerechnet an den Knochenknurpsler geraten. "So würdest du dich super in der Arena machen."
Ich richte mich auf. "Dahin bringen mich keine zehn Elefanten zurück."
"Aber Mirael darfst du reinschicken, wie?", fragt eine zweite Stimme.
Ich blicke am Knochenknurpsler vorbei und entdecke Urdoggo.
"Vrax? Takil? Was macht ihr überhaupt hier?", frage ich.
Der Knochenknurpsler - Vrax - schnippt mit einem Ohr. "Ich wollte neue Brotchips holen. Die Nervensäge da wollte unbedingt mit."
Urdoggo knurrt gereizt. "Ich versuche seit Wochen, mit dir zu reden. Ich bin kein Fan davon, dass Mirael ... hey!"
Der Knochenknurpsler quetscht sich an mir vorbei. Urdoggo rennt ihm nach. "Warte gefälligst."
Ich tapse ihnen ebenfalls nach. "Was meinst du wegen Mirael? Willst du sie nicht in der Arena haben?"
Urdoggo dreht sich zu mir um und wartet auf mich. "Mir gefällt das nicht."
"Vrax!", rufe ich streng. "Wir hatten das doch besprochen: Nur Freiwillige."
"Dieser Morliga hat Spaß daran." Der Knochenknurpsler zuckt mit den dürren Schultern.
"Ja, und Mirael?"
"Sie ist ein Klon, da kann gar nichts geschehen." Unbeirrbar zieht es den schlammbraunen Wolf in mein Vorratslager.
"Ich meine, da hat er recht", sage ich zu Urdoggo.
Der hellere Bruder funkelt mich wütend an. "Auf wessen Seite stehst du eigentlich?"
"Auf der Seite des geringsten Widerstands ..."
Der Knochenknurpsler hat in der Zwischenzeit einige Packungen Brotchips gefunden - da muss man hier aber auch nie lange suchen - und beginnt, einen Stapel in der Mitte des großen Lagers zu errichten.
"Mirael ist aber perfekt geeignet", erklärt er seinem Bruder. "Sie ist eine Kämpferin. Ihre Buchreihe ist auch nicht gerade ohne. Sie macht sich gut als Gegner für Morliga, weil sie beide mit Dämonen zu tun haben, und Morligas Autor kennt sie. Das ist wie vorherbestimmt."
"Vrax, wenn Takil nicht möchte, dass du ..."
"Lass den Quatsch mit Vrax und Takil jetzt endlich!", knurrt der Knochenknurpsler. "Wir tragen die Sumpfmann-Namen, und damit Basta!"
"Aber eure tragische Hintergrundgeschichte ...!", protestiere ich.
"Wieso hast du die überhaupt erfunden?", fragt Urdoggo mit sanfterer Stimme als sein grollender Bruder. "Ich meine - wir haben die nicht gebraucht."
Ich setze mich und kratze mich hinter dem Ohr. "Keine Ahnung. Ich schätze mal ... Lyssa hatte die Idee und ich keine Wahl."
"Aber gleich eine ganz neue Welt? Andere Namen? Einen kompletten Krieg?" Urdoggo sieht mich zweifelnd an.
"Das ist halt irgendwie mein Ding", murmele ich abwehrend. "Hör mal, du bist doch hier der Verwalter der explodierten Projekte - du von allen solltest das wissen!"
"Deswegen verstehe ich es noch lange nicht."
Ein hämisches Kichern verdeutlich, dass der Knochenknurpsler uns immer noch zuhört, während er quer durchs Lager läuft und wie bei einer Ostereiersuche neue Brotchips aufstöbert.
"Also. Warum?" Urdoggo sieht mich auffordernd an. "Wieso das Schreiben? Wieso die Kurzgeschichten, die am Ende eintausend Kapitel haben?"
"Weil es einfacher ist." Ich seufze. "Weil die Welt in meinem Kopf, bei allem Tod und Übel, das ich meinen Figuren zumute, immer noch freundlicher ist als die Realität."
"Düster", brummt der Knochenknurpsler. "Und das heißt was, wenn es von mir kommt."
Ich atme tief durch. "Die Welt hat bestimmt auch ihre positiven Seiten, aber manchmal .... da habe ich das Gefühl, dass alles sinnlos ist. Dass wir in der Realität sehenden Auges auf eine Katastrophe zusteuern. Und niemand tut was - außer vielleicht Greta."
"Und du tust auch nichts", meint der Knochenknurpsler.
"Doch! Ich schreibe."
Der dunklere der Brüder rollt mit den Augen, aber Urdoggo grinst. "Und damit rettest du die Welt?"
"Eher nur mich selbst." Ich muss plötzlich selber grinsend. Mein Ärger über Corona ist verflogen.
Einsam? Ich? Niemals. Nicht bei diesem Zoo in meinem Kopf. Und was kümmert es mich, wenn alle anderen meine Lebensweise unerträglich finden? Ich weiß, wie ich mit Langeweile und Einsamkeit umgehen muss.
Ich schreibe. Ich schließe die Augen und sehe eine neue Welt. Voller Abenteuer und Wunder, Helden und Schurken, großer und kleiner Geschichten.
Ich kann vielleicht nur selten auf ein Konzert - aber dafür Dinge erleben, von denen Andere nicht einmal träumen.
"Was hat er denn jetzt?", höre ich den Knochenknurpsler fragen. "Ist er eingeschlafen?"
"Nein, das ist vollkommen normal", antwortet Urdoggo. "Am Ende kommt vielleicht eine neue Geschichte dabei heraus."
"Oh."
"Lass uns gehen - wir stören ihn lieber nicht."
"Hilfst du mir beim Tragen?"
"Ich werde doch nicht für dich ... na gut. Ausnahmsweise."
"Du bist der beste kleine Bruder der Welt."
"Ich bin der Ältere!"
"Nur in der falschen Timeline."
Die streitenden Stimmen werden undeutlich und beginnen, sich zu entfernen.
"Was ist jetzt eigentlich mit deiner heiß geliebten Mirael?"
"Du kannst sie in der Arena behalten, schon in Ordnung. Ich hab' ja das Original."
"Ich wusste, dass du zur Vernunft kommst."
"Vernunft? Nein, so was haben wir in Marvs Reich nicht."