Eine weitere Szene aus dem "Kunoversum". Diesmal die Einführung von Klümpchens persönlicher Antagonistin.
Wenn die Gräfin etwas noch mehr hasste, als das Fortschreiten des Alters, dann war es Chaos. Dass die Dinge nicht so liefen, wie sie es geplant hatte. Durcheinander. Unordnung. Tohuwabohu. Anarchie.
Denn genau darauf lief es letzten Endes immer hinaus: Wahnsinn und Anarchie.
Doch nicht mit ihr. Jedes Ding hatte seinen Platz im Leben, so einfach war das. Und wo sein Platz war, das bestimmte sie - jedenfalls hier in ihrem Machtbereich.
Mochte die Welt außerhalb auch in Unordnung versinken, hier gab es strikte Regeln, an die sich jedes Wesen zu halten hatte. Diese widerliche Gesellschaft dort draußen veränderte sich immer schneller - Worte wie Selbstbestimmung und Selbstständigkeit waren zu neuen Göttern erhoben worden. Und doch sehnten sich die Katzen der Welt insgeheim nach klaren Regeln. Regeln, die sie ihnen gab. Denn sie war die Gräfin, die Herrin der Dämmerung und die Herrscherin über alles im Umkreis von zwei Tagesreisen. Ihr Wort war Gesetz.
Seit dem Tod ihres Bruders schienen die Dinge jedoch immer weiter auf einen unsichtbaren Abgrund hinzugleiten. Ihr gesamtes Imperium drohte zu zerbrechen. Dem musste sie nun rigoros einen Riegel vorschieben. Nun galt es, Härte zu zeigen und eiserne Disziplin zu fordern. Es durfte nicht sein, dass sich ganze Dörfer von ihr lossagten, sogenannte »Freie Enklaven« bildeten. Die Orientalisch Kurzhaar seufzte.
Zusammen mit ihrem unfähigen Bruder waren ihr auch alle Informanten in Hinter-Vorderhausen abhandengekommen. Dieser unselige Kater dort hatte nicht nur ihren Bruder auf grausamste Weise getötet, er hatte auch ihre sämtlichen Mitarbeiter und Spitzel im Dorf umgedreht. Eine ziemlich beachtliche Leistung, wie sie insgeheim fand. Gerne würde sie mehr darüber erfahren, doch dies hatte noch Zeit. Jetzt hieß es zunächst, zu handeln.
Erbost betrachtete sie erneut den Inhalt des Kartons, der vor ihrem Domizil abgestellt worden war und der nun geöffnet vor ihrem Thron stand. Bis auf einige versengte Knochen- und Fellreste war von ihrem Bruder nichts mehr übrig geblieben. Nun gut, vermutlich war es besser so, denn der Wahnsinn hatte ihn schon lange in seinem erbarmungslosen Griff gehalten. Wobei sie seinen großen Plan, ein Kochbuch mit Hundefleisch, mit einer gewissen Erheiterung verfolgt hatte. Doch nicht die sterblichen Überreste im Karton waren es, die ihren Zorn aufflammen ließen. Die Gräfin fauchte leise und zog ihre Krallen langsam und quietschend über den Marmor ihres Throns - bis sie vor diesem stinkenden Papier stoppten.
Zusammen mit dem Karton hatte sie eine Mitteilung erhalten, dass das Heimatdorf ihres Bruders nun eine Demokratische, befreite Zone unter der Führung von Major Klümpchen sei. Überhaupt, was war das für ein Name? Klümpchen. Katzennamen mussten Angst und Schrecken suggerieren, ihre Gegner schlottern lassen und brave Ofenkatzen von dem Gedanken abhalten, die Katzenklappe jemals zu durchqueren. Ihre zahlreichen Gegner sollten sich vor Angst einnässen!
Doch dieser Klümpchen hatte alle guten felinen Traditionen pervertiert. Er hatte das Ansehen aller Katzen auf der Welt in den Dreck gezogen. Er hatte sie samt und sonders verraten. Seine verführerischen Worte von Gleichheit und Brüderlichkeit, von Freundschaft und Freiheit hatten die anderen Katzen im Dorf in ihren Bann geschlagen. Alle waren ihm und seiner süßen Zunge gefolgt. Restlos.
Nein, es war sogar noch schlimmer: Von überall her zogen nun die Katzen zu ihm, um dort in Freiheit und ohne Zwang leben zu können. Gemeinsam mit den ekelerregenden Hunden und anderen niederen Wesen. Und sie - die Gräfin - konnte nichts dagegen tun.
Bisher.
Doch nun hatte das Schicksal endlich ein Einsehen mit ihr. An Glück glaubte die Gräfin nicht, sondern lediglich an verpasste Gelegenheiten. Und diese hier wollte sie sich nicht entgehen lassen.
»Bring ihn rein!«, befahl sie Rentfield, ihrem engsten Vertrauten.
Die lobotomierte Ratte verbeugte sich, nuschelte ein »Ja, blutige Gebieterin« und huschte aus dem Saal.
Wenige Augenblicke später führten ihre Wachen ein gerupftes Federtier herein. Die Gräfin kniff die Augen zusammen und blinzelte träge, um ihr Erstaunen zu verbergen. Dieses kleine Entenküken sollte ihre große Chance sein? Nun gut. Immerhin stammte es aus Hinter-Vorderhausen. Und es war freiwillig in ihr Hoheitsgebiet gekommen. Jetzt hieß es, klug zu verhandeln.
Genüsslich leckte sich die Gräfin die letzten Tropfen Mäuseblut aus ihrem weißen Pelz. Das tägliche Bad diente einerseits der Nahrungszufuhr, außerdem - davor war sie fest überzeugt - pflegte es ihr Haarkleid und es hielt sie jung. Schließlich musste sie ihren Ruf wahren.
Rentfield verbeugte sich erneut. »Verehrte Blutgräfin, hier ist Ihr Gast. Ernie, das Entenjunge. Der
Sohn von Ivanka, der Katze und Napoleon, dem Hund.« Die Ratte huschte zurück an ihre Seite.
Gräfin Betty Badgory betrachtete das Federknäuel, das die Wachen nun auf dem Bodenfliesen absetzten. Ein pubertäres Wesen, irgendwo mitten in der Mauser. Die Hälfte des gelben Gefieders war bereits durch dunklere, schlichte Federn ersetzt. Es war ein Wunder, dass dieses gerupfte Vieh überhaupt den Flug vom abtrünnigen Dorf bis zu ihrem Weiher geschafft hatte. Aber es hatte ihn geschafft. Und jetzt war das Tier hier. Alles würde gut werden, sagte sie sich. Sie würde ihren willfährigen Spitzel schon bekommen und damit auch alle Informationen, um mit diesem ganze Durcheinander endlich ein Ende zu machen. Sie räusperte sich.
Das apathisch wirkende Entenküken zuckte zusammen und sah zu ihr auf.
»Yoh Big-Mama, was geht ab?«
Verblüfft blinzelnd schaute sie auf das Wesen hinab. Wie konnte es wagen ...?
»Is ja krass. Deine Augen haben total unterschiedliche Farben, Alta«, piepte die Kreatur dort unten munter weiter.
Die Gräfin biss die Zähne zusammen und zeigte ihr schönstes Lächeln.
»Hey, Kleiner. Hast du Lust, dir ein paar süße Goodies zu verdienen?«, schnurrte sie mit verführerischer Stimme.