CN: Postapokalypse/Dystopie, Insekten, Alkohol
☣Last Kids Standing☣: Kapitel 1
Der schale Geschmack in seinem Mund erinnerte Paul-Kevin entfernt an die Toilettengrube der französischen Autobahnraststätte, an der seine Eltern letztes Jahr bei ihrer Urlaubsreise gehalten hatten. Glücklicherweise hatte er gestern hinten im Lager noch einige Kartons mit TicTacs entdeckt, von denen er sich nun träge eine Handvoll in den Mund schob. An Zähneputzen war - soweit man dies mit 13 überhaupt freiwillig tat - bei dem giftigen Regenwasser in der Tonne nicht mehr zu denken. Doch für die Pflanzen schien diese trübe Brühe ein wahres Tonikum zu sein. Überhaupt wuchs alles jetzt viel besser. Die Bäume und Büsche schossen geradezu in gigantische Höhen. Genau seit dem Beginn dieser seltsamen Invasion, dachte er betrübt. Die Menschheit starb nun endgültig aus, das stand mal fest. Sie hatten diesen Weg selbst beschritten, ohne zu ahnen, wohin er sie führen würde. Doch jetzt musste er sich etwas zu essen suchen, bevor er verhungerte.
Vorsichtig umrundete Paul-Kevin die zerbrochenen Reste der Glasscheiben, wo sich die Obstbäume durch das Dach des Gewächshauses geschoben hatten. Schuhe trug er keine mehr. Immerhin mangelte es ihm hier nicht an Nahrung. Er wuchtete einen Apfel hoch und rollte ihn neben die zwei faustgroßen Stachelbeeren in seinem Jutesack. Auch der Birnbaum weiter hinten trug bereits zum zweiten Mal Früchte - innerhalb von sechs Wochen. Er musste vorsichtiger sein. Vor drei Tagen war er fast von einer reifen Frucht erschlagen worden. Der vermutlich letzte Bewohner von Bielefeld lächelte betrübt. Verhungern würde er jedenfalls nicht. Erfrieren vermutlich auch nicht, doch alles andere ...
Gähnend schleppte er sein Frühstück durch den leeren Verkaufsraum der Gärtnerei. Eine Wespe hatte sich in die Ruine verirrt. Mit einem Brett bugsierte er das Tier vorsichtig zurück in die Freiheit. Das störrische Insekt schien, wie viele andere vor ihm, vom Geruch der ausgelaufenen Limonaden im Getränkemarkt nebenan und den gärenden Früchten im Gewächshaus angelockt worden zu sein. Paul-Kevin musste all seine Kraft aufwenden, um das riesige Tier aus der Türöffnung zu drängen, bevor er den Spalt wieder mit Brettern verschließen konnte.
Erschöpft ließ er sich auf dem Boden sinken. Wie lange würde er diesen Kampf noch führen können? Vielleicht sollte er sich eine andere Bleibe suchen. Doch dort draußen war es auch nicht besser. Nirgends war es mehr sicher. Seitdem die Pflanzen unkontrolliert wuchsen und damit die Wände der Gebäude durchbrachen, sie somit letztlich zum Einsturz brachten; seitdem diese neuen Bakterien sämtliche Kunststoffe innerhalb weniger Stunden zersetzen und die Insekten sich auch nicht mehr an die gültigen Spielregeln der Natur hielten - seitdem war die Welt dort draußen gefährlich geworden. Lebensgefährlich. In Videospielen war ihm dies immer ziemlich cool vorgekommen, doch in der Realität war es einfach scheiße.
Paul-Kevin seufzte und rappelte sich auf. Er griff nach seinem Sack und zog die Beute in das hintere Lager. Hier gab es glücklicherweise keine Fenster, dafür jedoch eine verschließbare Eisentür. Die Wände des flachen Gebäudes waren ebenfalls noch intakt. Zwar musste er im Dunkeln hocken, denn Feuer lockte Tiere an, doch auch daran hatte er sich inzwischen gewöhnt. Dies war nun sein Heim, vorläufig.
Und hier gab es neben dem Schutz vor der Umwelt noch etwas viel Besseres: Er hatte trinkbare Flüssigkeiten gefunden. Nachdem der Regen für die Menschen ungenießbar geworden war und sich sämtliche Kunststoffflaschen aufgelöst hatten, war Paul-Kevin zunächst fast verdurstet. Bis er auf die Lagerräume des Getränkemarktes gestoßen war.
Hungrig schnitt er sich ein Stück vom fußballgroßen Apfel ab und ließ den Kronkorken einer Bierflasche durch die Finsternis segeln. Immerhin dieses Zeug hatte man bis zum Ende in Glasflaschen abgefüllt. Langsam fand er sogar Geschmack an der bitteren Flüssigkeit.
Nachtrag: Natürlich sind Ähnlichkeiten mit lebenden Personen rein zufällig und nicht beabsichtigt. Sollte es dennoch einen Paul-Kevin aus Bielefeld geben, dann hoffe ich von Herzen, seine Eltern haben der Versuchung widerstanden, die Schwester Leonie-Chantal zu nennen.
Aber Paul-Kevin, wenn du dich bei mir meldest, spendiere ich dir garantiert ein Bier!