☣Last Kids Standing☣: Kapitel 12
»Ich muss dir unbedingt alles zeigen. Das wird dich total aus den Socken hauen!«, rief sie, lachte laut auf und zog ihm am Arm über eine kleine Brücke.
Staunend betrachtete Shaun die zahlreichen Gebäude auf den gigantischen Seerosenblättern. Manche ragten gar zwei Stockwerke in die Höhe – und hinter den meisten Fenstern hingen saubere Gardinen. Dazwischen hatte man Holzplanken als Wege ausgelegt. Wenn er davon absah, dass sie sich mitten auf einem See befanden und diese Häuser aus Holz und Schilf erbaut worden waren, wirkte es wie ein gan normales Dorf. Eine lächelnde Frau grüßte sie im Vorbeigehen. Mooni erwiderte den Gruß – Shaun konnte ihr lediglich wortlos nachblicken. Ihre Kleidung war sauber. Richtig sauber und ohne Risse, Nähte oder Flicken. An den Füßen trug sie Bastsandalen und in ihrem Korb befanden sich mehrere Brotlaibe. Sie wirkte so – so unglaublich normal.
Mooni stieß ihm in die Rippen.
»Was´n?« Fragend blickte er sie an.
Bei ihrem Anblick machte sein Herz einen Sprung. Im Sonnenlicht leuchteten ihre Haare golden, bildeten einen strahlenden Kranz um ihr Gesicht. Die unzähligen Sommersprossen machten sie noch hübscher.
»Du starrst ihr nach«, erklärte sie sachlich und hakte sich bei ihm unter.
Kopfschüttelnd führte sie ihn weiter. »Wo soll das bloß noch mit dir enden? Kaum zurück an meiner Seite und bekommst du bei der nächsten Frau schon wieder Stielaugen.«
Er unterdrückte den Wunsch sich umzudrehen, um noch einmal nach der Frau zu sehen.
Vor ihnen trat ein Mann aus einem Haus. Trotz der allgemeinen Wärme war der Dunkelhaarige in eine schwere Lederjacke gehüllt. Irgendwoher kam Shaun das Gesicht bekannt vor, auch wenn er sich gerade zum verrecken nicht erinnern konnte, woher.
»Hey Johann«, Mooni hob grüßend eine Hand. Der Angesprochene brummte nur und rempelte Shaun im Vorbeigehen an.
Da fiel es dem Jungen wieder ein. Er hatte das bereits Gesicht auf dem See gesehen, nach dem Absturz. Oder eher: im See, nass und an sein totes Flugtier geklammert. Es war der Libellenreiter, dem er sein Leben verdankte. Der Mann, dessen Tier er anschließend getötet hatte, mitten im Landeanflug auf diese Stadt im See.
»Ey!«, fuhr Mooni zu Johann herum, »das hast du doch mit Absicht gemacht! Spinnst du jetzt total, du Arsch?«
Doch der blickte sich nicht mal um. Unbeirrbar stapfte er weiter und verschwand um eine Ecke.
»Na, dem hat ja mal fett einer ins Müsli gepinkelt«, kommentierte Mooni.
Sie brachen beide in wieherndes Gelächter aus. Der Klang ihrer Stimmen hallte über das Wasser. Über ihnen wurde ein Fenster geöffnet, zwei fragende Gesichter blickte herab.
»Ins Müsli gepinkelt?«, prustete Shaun. »Wo hast du das bloß wieder her?«
Sie kicherte nur und winkte. Lachtränen rannen ihr über die Wangen.
»Mein Onkel …«, weiter kam sie nicht, als Shaun übertrieben die Augen verdrehte.
Erneut brachen beide in lautes Gelächter aus. Das Fenster wurde wieder geschlossen. Entweder war Mooni hier bereits bekannt, oder die Leute entspannter als in der Siedlung bei Gütersloh.
Shaun fiel etwas ein. Schlagartig wurde er ernst. »Sag mal, wo ist Purzel eigentlich abgeblieben?«
»Mach dir da mal keine Sorgen.« Sie tätschelte seine Hand. »Die triffst du gleich wieder. Im Augenblick ärgert sie ein paar Wissenschaftler.«
»Aha?«
Sie gab ihm einen Kuss und zog ihn weiter: »Ich bringe dich jetzt zu Kapitän Nemo. Sie braucht noch einige Blutproben vor dir und will dich auch sonst erstmal durchchecken.«
Er blieb stehen und blickte sie verständnislos an.
»Ey Alter, hab dich nich so!« Mooni zog ihn weiter.
»Ich peil nichts mehr«, sagte er. »Wasn fürn Nemo und was für Untersuchungen?«
»Ach, halt endlich den Schnabel und kommt mit.«
Verwirrt ließ er sich von ihr führen.
Zwei Seerosenblätter weiter erreichten sie eine seltsame Konstruktion. Direkt an der Kante zum See befand sich ein stählernes Geländer. Es schien irgendwo tief unten im See verankert zu sein. Ein Scharnier ermöglichte es, ein eingelassenes Gitter zu öffnen. Aber wer wäre schon so dämlich, in dieses salzige Wasser zu steigen?
»Sag mal, was ist mit diesem See los? Ich meine, warum hat er mir nicht die Haut verätzt?«, fragte er.
Mooni schmunzelte und drückte einen unscheinbaren Knopf seitlich am Geländer. »Nicht, dass du jetzt gleich n Schock bekommst, oder so. Das ist alles schon recht strange.«
Hinter ihr begann ohne Vorwarnung das Wasser zu sprudeln. Bevor er einen Warnruf ausstoßen konnte, tauchte eine runde, verglaste Kugel aus dem See auf. Während er noch mit Kiefersperre auf das Ding starrte, öffnete Mooni schon das Gitter.
Die Tauchkugel – genau um eine solche musste es sich handeln, dümpelte am Rande des Seerosenblattes im See. Wasser rann in Bächen an ihr herab. Mooni entriegelte zwei stählerne Klammern und öffnete eine Luke an der Vorderseite. Nach einem einladenden Blick in seine Richtung stieg sie ein.
»Kommst du jetzt, oder was?«, drang ihre Stimme aus der Öffnung.
Er beeilte sich, zu folgen.
Das Innere der Kugel wurde lediglich von einigen, mickrigen LEDs beleuchtet. Neugierig sah Shaun sich um, während Mooni bereits wieder die Klammern an der Tür von innen verriegelte.
»Woher kommt hier der Strom?«, platzte es aus ihm heraus.
»Da fragst du gleich am besten die Prof. Ich hab sowas von Null Plan von dem ganzen Zeugs.«
Sie drückte einen großen, gelben Knopf neben der Tür. Ruckend setzte sich das Tauchfahrzeug in Bewegung. Unter ihren Füßen gurgelte es leise.
»Genieß einfach den Ausblick«, schlug sie vor und deutete auf die Fenster.
Gemächlich sank das Gefährt tiefer ins Wasser. Kleine Luftblasen schossen außen in die Höhe. Das gurgelnde Geräusch unter ihren Füßen wurde lauter, je tiefer sie kamen. Mit einem Mal glaubte Shaun, im Wasser eine Bewegung auszumachen. Neugierig trat er zur Scheibe. Ein Schatten huschte vorbei, schwamm eine Schleife und kam zurück.
Mehrere, armlange Beinpaare spreizten sich, das Wesen krallte sich am Rahmen des Tauchfahrzeugs fest. Shaun zuckte zurück, als kopfgroße Facettenaugen zu ihm hineinstarrten.
»Was ist das?« Er deutete auf das Insekt, das sich an die Außenhülle der Kugel krallte.
Mooni lachte dröhnend.
Er sah sie an. »Was ist daran jetzt so lustig?«
»Alter«, japste sie, »hoffe wir, dass das da draußen Johanns nächstes Reittier wird.«
Shaun brauchte einen Moment, bis ihre Worte begriff.
»Eine Libellenlarve«, entfuhr es ihm.
»Jo, Schlauberger. Das ist eine Nymphe. Die Seebewohner züchten sie, glaube ich zumindest. Aber auch da fragst du besser die Prof. Oder die andere da unten, diese Reza.«
Staunend betrachtete Shaun das Wesen am Fenster. Es drehte den Kopf, schien in ausgiebig zu mustern. Hier drinnen fühlte er sich sicher und starrte zurück. Neugierig presste er eine Hand ans Glas. Die graubraune Nymphe bewegte ein Bein und strich mit einer Klaue langsam auf der anderen Seite darüber.
»Ich glaub, die mag dich«, sagte Mooni.
Er blickte sie zweifelnd an.
Krachend setzte die Tauchkugel auf. Die Erschütterung schien das Insekt dort draußen vertrieben zu haben, denn als Shaun nach ihm sah, war das Tier verschwunden. Dafür befand sich jetzt eine Art Tunnel vor dem Fenster. Ein Summton erscholl, begleitet von orangefarbenem Warnlicht. In Shauns Ohren knackte es.
»Das ist gegen die Bakterien«, erklärte Mooni in das aufkommende Zischen.
Sekunden erlosch das Licht und die Geräusche ebbten an. Aufatmend öffnete sie die Klammern an der Luke und stieg aus. Eilig stolperte er ihr hinterher.
Die Tauchkugel hatte an einer Schleuse angedockt. Gummidichtungen hielten das Wasser ab. Der Rest dieser Konstruktion bestand aus zweckmäßigen Betonwänden.
Am anderen Ende des Ganges wurde eine Tür aufgestoßen. Grelles Neonlicht blendete ihn. Daher bemerkte er junge Frau erst, als sie Mooni zur Begrüßung in die Arme schloss.
»Shaun, darf ich dir Kapitän Nemo vorstellen«, stellte Mooni ihm die Brünette vor.
Die Frau im weißen Laborkittel stieß die Jüngere spielerisch mit der Schulter an und kicherte.
»Du weißt doch, dass du mich nicht so nennen sollst, Kleine.«
Sie wandte sich ihm zu. »Du musst Shaun sein. Ich freue mich, dich endlich hier zu sehen. Deine Freundin hat schon so viel von dir erzählt. Ich jedenfalls bin Professor Nemori, für Freunde auch einfach Alexandra, oder Alex. Und jetzt kommt mit, ich muss euch beiden etwas Fantastisches zeigen. Ihr werdet begeistert sein!«
Sie eilte zurück zur Tür. Die beiden folgten.