☣Last Kids Standing☣: Kapitel 15
Noch bevor Shaun wirklich begriff, wie ihm geschah, hatte sich das Tier bereits hoch in die Lüfte geschwungen. Verzweifelt krallte er sich am Libellenkörper fest und presste die Schenkel zusammen. Der Rücken war glatt. Schlimmer noch als ein Pferd. Warum tat dieses dämliche Vieh so etwas? Wusste es denn nicht, dass Reiter einen Sattel benötigten?
Immerhin linderte der tosende Wind die Pein zwischen seinen Schultern. Möglicherweise trug auch das Adrenalin seinen Teil dazu bei. Aber wenn er hier gleich runterfiel und starb, waren die Schmerzen ebenfalls vorbei. Dann sogar endgültig.
Nach einem verhängnisvollen Familienurlaub in Bayern, bei dem Shaun zunächst die blonde Nicole und dann ihr Pony Mäck kennenlernen durfte, hatte er sich geschworen, niemals wieder ein Tier – und ganz besonders keines ohne Sattel – zu besteigen. Pferde standen seit damals auf seiner persönlichen, Roten Liste.
Er spürte bereits, wie seine Hände schwitzig wurden und zu rutschen begann. Gleich würde er den Halt verlieren. Vermutlich waren sie längst hoch in der Luft. Verglichen mit diesem Sturz wäre der peinliche Abgang vom dicken Pony damals lächerlich.
Bis heute war er seinem Schwur treu geblieben. Moonis Tausendfüßler Keith zählte irgendwie nicht, außerdem war der ja gesattelt gewesen. Doch er würde seine Rote-No-Go-Liste unbedingt um Libellen erweitern müssen.
Jedenfalls, wenn er dies hier aus irgendeinem unwahrscheinlichen Zufall überleben sollte. Doch allem Anschein nach konnte er diese Hoffnung begraben. Oder passender, ertränken.
Das Tier schraubte sich weiter summend in die Höhe. Von hier oben wirkten die gewaltigen Seerosenblätter und die Häuser unter ihnen inzwischen nur noch wie Kinderspielzeug. Nicht, dass er so verrückt gewesen wäre, hinunterzublicken. Aber wenn er es doch täte, nur ganz kurz, dann würde es wie Spielzeug aussehen.
Seine Sicht trübte sich. Zog etwa Nebel auf? Nein, sie mussten in eine Wolke geraten sein. Waren sie wirklich schon so hoch? Es wurde merklich kühler, die Luft nass und schwer. Seine Finger fühlten sich mittlerweile taub an. Er verlor immer weiter den Halt, rutschte jetzt zentimeterweise an der feuchten Kante des Rückenpanzers zur Seite.
Gleich würde er endgültig fallen. Es war genau wie bei diesem dämlichen Pony. Nur diesmal wartete kein harmloser Stacheldrahtzaun auf ihn, sondern ein Sturz aus vielen hundert Metern Höhe. Den konnte er nicht überleben. Letztlich würde er also auch von einem Insekt getötet werden. So wie seine Eltern und wie sein Freund Leon. So, wie die meisten anderen Menschen auf der Welt.
Er bedauerte lediglich, Mooni viel zu selten geküsst und im Arm gehalten zu haben. Hoffentlich war es schnell vorbei. Bei einem Sturz aus dieser Höhe würde das Wasser dort unten hart wie Beton sein. Das hatte er jedenfalls mal gelesen. Ob sein Leben gleich auch wie ein Film vor ihm ablaufen würde, während er fiel?
Seine tauben Finger verloren endgültig den Halt. Er schloss die Augen, ließ los und entspannte sich. Er würde nicht weiter dagegen ankämpfen, dem Tod wie ein Mann entgegentr …
»Das wurde ja auch Zeit!«, sagte eine leise Stimme in seinen Gedanken.
Shaun zuckte zusammen. Mit aufgerissenen Augen blickte er umher. Wer war das?
Das Tier unter ihm ruckte zur Seite – und er lag wieder mittig auf seinem Rücken.
»Was, verdammt …?«
»Ich dachte schon, du entspannst dich nie«, erklang die warme Stimme erneut irgendwo hinter seiner Stirn.
Höre ich etwa schon die Libelle in meinem Kopf? Oder bin ich jetzt endgültig verrückt geworden? Die Bergsteiger auf dem Mount Everest sollen ja auch aufgrund der dünnen Luft dort oben unter Wahnvorstellungen gelitten haben. Das wäre jedenfalls eine Erklärung. Vermutlich verarbeitete das Gehirn gerade noch diese Sache mit dem sprechenden Moos und spann munter weiter herum.
Er merkte, wie er wieder erneut zu Seite glitt und griff eilig zu.
»Ja, die bin ich«, erklang die Antwort auf seine Gedanken. »Und jetzt hör endlich auf, so ungeschickt herumzuhampeln und vertraue mir bitte ein wenig. Bisher machst du nämlich eine ziemlich jämmerliche Figur dort oben – und uns beiden das Leben schwer.«
Okay, dachte er. Ich bin völlig gaga. Ich falle vermutlich bereits oder ich bin schon unten aufgeschlagen und …
»Am besten lässt du deine Arme und Beine zunächst mal locker hängen. Ich halte dich im Gleichgewicht, versprochen.«
Eine Leere entstand in seinem Kopf, dann sagte die Stimme: »Vielleicht hast du ja Lust, dir einen Namen für mich auszudenken?«
Sie flogen nun eine große Kurve über das Ende des Sennesees. Shaun bemühte sich, ganz flach auf dem Insekt zu liegen und seine Glieder entspannt baumeln zu lassen. Es war erstaunlich einfach. Das Tier glich jede seiner Bewegungen perfekt aus. So rutschig und hart der Rücken auch war, er lag darauf so sicher wie in einer Hängematte.
»Bist du ein Mädchen oder ein Junge?«, fragte er. »Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber das müsste ich dann schon vorher wissen, wenn ich dir einen Namen geben soll.«
»Weiblich natürlich«, kam die prompte Antwort. Es klang leicht schnippisch.
»Und warum höre ich deine Stimme in meinem Kopf?«
»Weil ich dich erwählt habe und damit eine Seelen-Verbindung eingegangen bin.«
Darüber musste Shaun erstmal nachdenken. Das klang eher wie aus einem Roman von Stephenie Meyer als nach der Realität. Doch andererseits würde es auch ein paar Dinge erklären. Konnte es womöglich sein, dass Mooni und Keith ebenfalls eine solche Verbindung miteinander teilten? Aber sie hatte nie etwas davon erwähnt. Vielleicht war es ja geheim oder so. Er würde die Libelle danach fragen müssen.
»Was ist nun mit meinem Namen?«, drängte sie ihn.
»Moment, lass mich doch mal nachdenken.«
Wie nannte man so ein Tier? Nala oder Lili?
»Das wagst du nicht!«, erscholl es sofort in seinem Kopf.
Okay, das wäre damit geklärt. Offensichtlich hatte sie gewisse Ansprüche. Er grübelte. In Namensfinden war er immer schlecht gewesen. Aber vielleicht sollte er überlegen, wie Mooni das Tier nennen würde. Sie war immer äußerst kreativ bei solchen Dingen.
Er lauschte, vernahm jedoch keinen Protest – eher herrschte eine erwartungsvolle Stille an der Stelle, wo eben noch die Stimme gewesen war.
Verzweifelt sah er sich auf der Suche nach einer Eingebung um. Inzwischen flogen sie über Laubwälder, in östlicher Richtung.
Na gut, er suchte nach Namen. Namen, wie sie Mooni immer so locker erfand.
Namen …
Nein, sogar nur einen einzigen, verflixten Namen, mehr brauchte er nicht. Das konnte doch eigentlich nicht so schwer sein.
Er dachte an die wunderschön schillernden Augen, die ihm als Erstes an dem Tier aufgefallen waren. Wie ein Regenbogen hatten sie auf ihn gewirkt.
Vielleicht - er zögerte: Regenbogenschimmer?
»Pffäh! Was soll das denn bitte sein?«, kam die prompte Antwort.
Shaun schob beleidigt die Unterlippe vor. Er hatte die Idee für gut gehalten. Jedenfalls wäre es ein toller Name für ein weißes Einhorn mit schreiend bunter Mähne gewesen.
»Ein wenig wilder und härter darf es schon sein«, erscholl die namenlose Stimme.
Na gut, dann etwas anderes.
Härter? Was war wirklich hart? Ganz klar, Diamanten! Mit ihnen konnte man sogar Glas schneiden. Außerdem schimmerten sie ebenfalls im Licht. Und sie waren selten und äußerst wertvoll.
Er spürte eine angenehme Woge aus Wohlwollen, die von dem Tier ausging und sich hinter seiner Stirn bündelte. Er schien auf dem richtigen Weg zu sein. Aber etwas fehlte noch. Diamant war doch kein Name, wie Mooni ihn benutzen würde.
»Meine Klauen sind mindestens genauso scharf wie diese funkelnden Steine!«, assistierte ihm die Libelle.
Genau! Das war es! Aufgeregt rutschte er auf dem Rücken umher.
»Was hältst du von …«, er wagte es kaum auszusprechen, »Diamond Claw?«
Erwartungsvoll schwieg er. Sie antwortete zunächst nicht, sondern ging ohne Vorwarnung in einen halsbrecherischen Sturzflug über. Shaun presste erneut die Schenkel zusammen und klammerte sich seitlich an den harten Körper. Als er einen verzweifelten Schrei ausstieß, riss der Wind seine Worte mit sich.
»Du musst mich nicht gleich umbringen«, dachte er verzweifelt in Richtung des Insekts.
»Nicht?«, erscholl die belustigte Antwort. Dann erhöhte sie sogar noch das Tempo. Mit der Geschwindigkeit eines Schnellzugs raste sie dicht über den Baumwipfeln dahin. Sie fuhr ihre Klauen aus, rasierte damit gnadenlos Äste und Blätter. Hinter ihnen stob eine grünbraune Wolke gen Himmel. Shaun und die Libelle fegten wie ein Wirbelwind über eine Hügelkuppe, dann kopfüber in eine dahinterliegende Talsenke. Sein Magen rutschte ihm hinab bis zu den Knien. Reflexartig hielt er die Luft an und klammerte sich noch fester an sie.
Kurz vor dem grünen Dickicht bremste die Libelle abrupt ab und sie schwebten summend über den Baumkronen.
Sein Herz raste – diesmal jedoch vor Aufregung. Er öffnete den Mund und holte tief Luft.
»Wahnsinn!«
Shaun war nicht sicher, ob er sich damit auf die Tatsache bezog, noch immer am Leben zu sein, oder, dass es ihm am Ende sogar Spaß gemacht hatte. Ein ganz klein wenig zumindest. Achterbahnfahren war dagegen für Babys!
»Siehst du«, sagte sie erfreut, »ich hatte alles unter Kontrolle.«
»Wenn du mich hast umbringen wollen, dann ist dir dies aber nicht gelungen.«
Etwas, das nach einem Lachen klang, ertönte hinter seiner Stirn.
»Diamond Claw geht schon in Ordnung«, sagte sie.
»Puh, da bin ich aber beruhigt.« Mit einem Mal löste sich seine Anspannung und er stimmte in ihr Lachen ein. Minutenlang schwebten sie über dem Tal und ließen ihren Gefühlen freien Lauf.
Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, streichelte er bewundernd den blauroten Leib. »Du bist wirklich schön!«
»Danke. Immerhin mit Komplimenten kennst du dich scheinbar aus.«
Er lachte erneut. »Aber können wir vielleicht wieder zurück? Ich befürchte, Mooni macht sich bereits Sorgen um mich.«
»Dann pass mal auf«, krähte sie übermütig und schraubte sich mit einem Looping in die Höhe.