CN: DRECK, BLUT, FÄKALSPRACHE, RELIGIONSKRITIK (angedeutet), GEBURT (angedeutet)
Der Frühling hatte auch so seine Schattenseiten, Regen war vermutlich die größte von ihnen. Regen, und der davon aufgeweichte Boden. Doch der Herr hatte es so erschaffen und daher musste es wohl Gut und Weise sein - auch wenn sie es nicht verstand. Mariella wandte den Blick seufzend gen Himmel und bat um Nachsicht für ihre sündhaften Gedanken, ihre mangelnde Einsicht und ihre Engstirnigkeit. Bruder Gerd bemerkte ihre Reaktion und bot ihr lächelnd seinen Arm als Stütze.
»Vermutlich sind Riemchensandalen heute nicht die beste Wahl gewesen«, sagte er, ohne eine Spur von Spott in der Stimme.
Mariella lächelte dankbar und nahm seine Hilfe an. Sowohl ihre Schuhe wie auch die weißen Söckchen verlangten später eine gründliche Reinigung, wenn sie diese noch einmal tragen wollte. Aber was tat man nicht alles, um einige verirrte Seelen zu erretten und die Worte des Herren zu verbreiten. Im Vergleich dazu waren ihre irdischen Sorgen doch lächerlich. Nur noch ein wenig länger durchhalten, dann würden der Herr die Seinen zu sich holen. Sobald Seine auserwählten Diener allen lebenden Seelen Sein Wort offenbart hatten, dann wäre es so weit, dann würden sie erlöst werden. Mochten die Ungläubigen auch die Köpfe schütteln und behaupten, sie würden einem Traum hinterherjagen, in Luftschlössern leben, Mariella glaubte ganz fest daran. Ihr Glaube war das Schwert, mit dem sie sich durchs Leben focht.
Hinter dem stetig stärker werdenden Regen erklang unvermittelt vor ihnen ein markerschütternder Schrei. Gerd und Mariella zuckten zusammen. Sie klammerte sich fest an seinen Arm und spürte, wie auch er erschauderte. Kurz verharrten die beiden unter dem Schirm, sahen sich gegenseitig mit aufgerissenen Augen an, während ihre Füße langsam im Matsch des Mahler-Hofs versanken.
Ein weiterer, unmenschlicher Schrei ließ ihre Ohren klingeln. Mariella glaubte zu spüren, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Der tiefe, dröhnende Klang erinnerte sie entfernt an ein Nebelhorn - nur schien er lebendiger, organischer, irgendwie ... feuchter. Wenn Luzifer seine Höllenscharen auf die Menschheit hetzte, das würde bestimmt ähnlich klingen, schauderte die junge Frau. Doch der Herr wachte ja über sie, wovor fürchtete sie sich also. Schaudernd fasste sie den Arm von Bruder Gerd fester und lauschte in den Regen. Ein, zwei muhende Laute erklangen, Kettenklirren, etwas Schweres prallte dumpf gegen Holz.
Der Mann im Cordanzug neben ihr lächelte verkniffen und deutete mit einer vagen Geste auf den schemenhaft erkennbaren Stall, schräg hinter dem Wohngebäude vor ihnen.
»Bestimmt hat nur eine Kuh Blähungen. Oder die Tiere haben Hunger und treten gegen die Wände der Verschläge.«
Er blickte unglücklich auf den braunen Schlamm hinab, der in seine feinen Wildlederschuhe sickerte. »Möglicherweise stehen diese Tiere ja genauso ungern im kalten Morast wie wir. Also lass uns weitergehen zum Hof, Schwester Mariella. Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen. Vielleicht hat der Herr ja heute ein Einsehen mit uns und mit den armen Seelen dort vorn.«
Entschlossen reckte der Grauhaarige er sein Kinn und zog die Frau mit sich. Ihre Schuhe erzeugte bei jedem Schritt schmatzende Laute.
»Und denk dran«, raunte ihr Gerd zu, »auf diesem Hof leben lediglich Bauer Matthias und seine jüngere Schwester Anna, deren Mutter Maria und ein alter Knecht namens Anselm. Allesamt sind sie unverheiratet und teilen sich, soweit ich gehört habe, einen einzigen Schlafraum miteinander.«
Er verdrehte die Augen bedeutungsschwer, als die massive Holztür mit der abblätternden, weißen Farbe vor ihnen knarrend einen Spalt aufschwang. Der Bruder strich sich die Jacke über dem Bauchansatz glatt und sah im Augenwinkel, wie auch Schwester Mariella ihr geblümtes Kleid richtete.
Ein blasses, faltiges Antlitz lugte auf Brusthöhe aus dunklen Öffnung. Das musste Maria Mahler, die Mutter von Bauer Matthias sein.
Schnell setzten Gerd und Mariella ihre lang einstudierten, lächelnden Gesichter auf. Er drückte die Hand seiner Schwester und wie aufs Stichwort sprachen sie gleichzeitig: »Einen gesegneten Guten Morgen! Wir kommen von der Kirche im Glanze Gottes Herrlichkeit und würden Ihnen gerne die Frohe Botschaft überbringen.«
Die trüben Augen im Türspalt musterten die zwei deplatziert wirkenden Gestalten einige Sekunden lang. Zahnlose Lippen schmatzen abschätzend, während Gerd und Mariella noch immer angestrengt ihr Zahnpastawerbungslächeln aufrechterhielten.
Ohne Vorwarnung zerriss ein weiterer, grässlicher Schrei die Morgenluft, ließ die Fensterscheiben des Wohngebäudes klirren. Diesmal fuhr auch Bruder Gerd sichtlich zusammen. Maria Mahler jedoch reagierte darauf nicht. Sie schien gerade zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass die beiden Gestalten vor ihr keine große Bedrohung darstellten.
»Waaaahas?«, knarzte sie mit einer trockenen Stimme, die Mariella an unvermittelt an das Geräusch denken ließ, welches die Eingangstür noch vor einigen Augenblicken von sich gegeben hatte.
»Wir möchten Ihrem Leben einen tieferen Sinn geben und Gottes Wort in Ihre Herzen tragen«, säuselte Gerd zur Antwort.
»Wir möchten mit Ihnen über den Heiland, über unseren Messias sprechen«, ergänzte Mariella honigsüß.
Die alte Frau schien über ihre Worte nachzudenken. Nickend schmatzte sie erneut, als die Kühe im Schuppen wieder ihr Muhkonzert aufnahmen. Mariella fragte sich, ob die ältere Dame womöglich unter einer Krankheit litt, so abwesend wie sie wirkte. Abermals schlug etwas Schweres donnernd gegen Holz. Das Geräusch musste entweder aus dem hinteren Bereich des Wohnhauses kommen, oder dem daran angrenzenden Stall. Was geschah hier bloß? Die junge Schwester der Kirche im Glanze Gottes Herrlichkeit überlegte, ob sie sich besser verabschieden sollten, da öffnete die alte Frau erneut den Mund.
»WAAAAAAAS?«, krächzte sie zum zweiten Mal. Ihre milchigtrüben Augen schienen nun Bruder Gerd zu fixieren.
»Wir möchtet mit Ihnen über den Messias reden«, wiederholte dieser freundlich.
Die Alte streckte ihre klauengleiche Hand aus, packte Gerds Cordjacke und zog ihn unerwartet kraftvoll näher zu sich heran. Mariella quietschte entsetzt auf, als der ältere Mann einen Schritt vorwärts stolperte.
»WEN WOLLEN SIE SPRECHEN?«, kreischte die Bäuerin mit der Stimme einer besessenen Furie.
Gerd verzog gequält das Gesicht. So langsam dämmerte es Mariella, dass die Dame wohl nicht nur halbblind, sondern auch nahezu taub sein musste. Gerd schien dies gerade ebenfalls begriffen zu haben.
Sich ihrer göttlichen Mission besinnend schob er seinen Mund näher an das faltige Ohr im Türspalt und rief laut: »WIR MÖCHTEN MIT IHNEN ÜBER DEN MESSIAS SPRECHEN!«
Das Leuchten der Erkenntnis entflammte in den Augen der alten Frau. Sie ließ die Cordjacke los und lächelte die beiden Missionare erfreut an.
»DER MATTHIAS IS DA HINTEN«, sie deutete mit dem Daumen hinter sich in die Dunkelheit, »UND STECKT BIS ZUM ANSCHLAG TIEF BEI DER BERTA IM ARSCH DRIN!«
Zur Antwort klirrten irgendwo in der angegebenen Richtung einige Ketten. Ein unmenschliches, tiefes Stöhnen ließ die Regentropfen auf der Fensterscheibe tanzen.
Mariella keuchte entsetzt auf. Wo waren sie hier bloß gelandet? Das schien ja das reinste Gomorrha zu sein. Höllische Kreaturen stiegen aus den Tiefen auf und die Menschen praktizierten abartige, perverse Dinge, über die eine keusche Frau nicht einmal nachzudenken wagte. Nein, hier würde sie keinen Augenblick länger verweilen. Sollte der Herr das Höllenloch doch ertränken! Vermutlich war der Regen Seine Strafe an diese gottlosen Bewohner. Womöglich war dies ja eine zweite Sintflut, mit der Er die Sünder von Angesicht der Erde wieder in die Tiefen der Hölle verbannte, wo sie hingehörten!
Entschlossen griff sie nach Bruder Gerd, der noch immer in der Türschwelle stand. »Komm, wir gehen!«
Doch sie hatte sich nur halb umgewandt, als sich jemand von hinten an ihr vorbeidrängte und sie grob zur Seite stieß. Mariella stolperte und fiel bäuchlings in den allgegenwärtigen Morast.
Ihren sündhaften Zorn niederringend richtete sie sich wieder auf. Sie sah an sich herab. Das Kleid war hinüber. Brauner Schlamm lief in Bächen an ihr hinab, klebte an Armen und Beinen, ja an ihrer gesamten Vorderseite. Wütend warf sie dem Neuankömmling einen Blick zu – und erschrak.
Ein junges Mädchen hatte sich zwischen Bruder Gerd und die alte Frau gedrängt. Wo Mariella lediglich mit Schlamm beschmutzt war, bedeckte Blut den Körper der jungen Frau. Keuchend wischte diese sich mit einem verschmierten Arm über die Stirn, verteilte den roten Lebenssaft in ihrem Gesicht. Schaudernd wandte Mariella den Blick ab. Teuflische Ritualmagie, zweifellos!
Laut und eindringlich redete die junge Frau auf die alte Bäuerin ein: »DU MUSST SOFORT IN DEN STALL KOMMEN! HÖRST DU NICHT? MATTHIAS BEKOMMT DAS KALB NICHT AUS DER BERTA RAUS! DIE VERRECKT UNS NOCH, WENN DU NICHT HILFST!«
Erneut tönte der dröhnende Schmerzensschrei der kalbenden Berta über den Mahler-Hof. Die Holztür wurde aufgerissen und die alte Frau schob Gerd energisch zur Seite. »WEG DA! DAS IST NE STEIßLAGE!«