☣Last Kids Standing☣: Kapitel 14
»Das ist echt mal mega-krasser Scheiß!« Natürlich war es Mooni, die als erste ihre Stimme wiederfand und davon auch sogleich Gebrauch machte.
»Spricht es wirklich deutsch?«, wollte Shaun wissen. Sein Blick wechselte immer wieder zwischen dem Moos und Alexandra Nemori.
Die Professorin nickte begeistert. »Nicht nur das, es versteht uns auch und es reagiert auf Fragen.«
Als sie die zweifelnden Blicke der Kinder bemerkte, ergänzte sie: »Jedenfalls manchmal. Jedoch reagiert es äußerst unfreundlich. Ich habe bereits einige Aufzeichnungen angefertigt. Dabei ist klar erkennbar, dass es sich hier um ein vernunftbegabtes Wesen handeln muss.«
»Und jetzt?« Mooni sah die Forscherin neugierig an. »Sollen wir es mal fragen, warum sich alle Pflanzen verändert? Vielleicht weiß dieses Zeug ja mehr darüber!«
»Ach, halt dein Maul. Ich sag gar nichts!«, drang die knurrige Stimme aus dem Lautsprecher.
Nemori schüttele lachend den Kopf und nahm wieder den Stein in die Hand. »Das ergibt wenig Sinn, wenn wir nicht weiteren, endlosen Beleidigungen lauschen wollen. Eigentlich müsste ich eine Nachricht an das restliche Forscherteam in Kiel schicken und ihnen von dieser Entdeckung berichten. Aber unser einziger, freier Nachrichten-Bote hat leider sein Flugtier verloren.«
Shaun schien sich mit einem Mal ausgiebig für seine Schuhe zu interessieren, doch Mooni begann gleich zu wettern.
»Das hat der Arsch auch verdient. Er is ja sowas von arrogant und eingebildet und er hat keine Manieren. Und außerdem hat er mich gestern hemmungslos angebaggert.«
»Er hat WAS?« Shaun richtete sich kerzengerade auf. Seine Hände waren plötzlich zu Fäusten geballt. »So ein Mistkerl! Warum hast du mir das nicht eher erzählt? Ich hätte ihm eben …«
»Pssst, ganz ruhig, Brauner! Genau darum hab ich dir nichts gesagt. Denk an dein Herz und mach mal halblang.« Sie beugte sich vor und gab ihm einen flüchtigen Kuss.
Dann wandte sich wieder zur Professorin: »Wir sind eben einer ziemlich agilen Nymphe beim Tauchgang begegnet. Gibt es denn sonst keine Libellen?«
»Doch, die Leute oben erwarten zu Zeit den Schlupf einiger, neuer Tiere. Möglicherweise solltet ihr besser hochgehen und euch das ansehen. Ich muss hier sowieso noch einige langweilige Untersuchungen und Tests durchführen. Und nebenbei: Ich kenne Johann gut. Wenn er erst wieder ein neues Tier hat, sollte sich sein Benehmen auch bessern.«
Mooni war von der Idee, bei der Geburt von Libellen dabei zu sein begeistert und wollte gleich los. Die Forscherin nahm vorher jedoch noch eine Blutprobe von Shaun. Der Frage nach dem Grund wich sie allerdings aus und murmelte lediglich etwas von nicht eindeutigen Genanomalien, die sich noch weiter untersuchen müsse. Purzel fühlte sich offensichtlich hier im unterseeischen Labor wohl und wollte noch nicht gehen. Schweren Herzens ließ Shaun die Spinnmilbe zurück.
Kurz darauf befanden sich die Kinder erneut in der Tauchkugel und auf dem Weg zurück zur Oberfläche. Die zweite Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Nach wenigen Minuten standen sie bereits wieder unter blauem Himmel.
»Ich bin ja so gespannt«, sagte Mooni.
Sie zog den noch immer missmutigen Shaun hinter sich her über die Holzplanken. Sein Rücken hatte erneut zu schmerzen begonnen. Außerdem musste er wieder an diesen dämlichen Johann denken, der seine Freundin angebaggert hatte. Was bildete der Kerl sich bloß ein? Er war doch viel zu alt für Mooni. Ob er Shaun auch vom Spinnennest gerettet hätte, wenn ihm bewusst gewesen wäre, dass er Moonis Freund war? Und was wäre gewesen, wenn Shaun niemals hier aufgetaucht wäre? Hätte sie vielleicht irgendwann etwas mit Johann angefangen?
Er schüttelte sich bei dem Gedanken. Das war völlig absurd. Und jetzt war er ja hier. Er hatte auch nicht vor, sie jemals wieder ziehen zu lassen. Sie beide gehörten zusammen, egal was kam.
In Gedanken vertief hatte er kaum auf die Umgebung geachtet und sich einfach von Mooni führen lassen. Nun jedoch weckte eine aufgeregte Versammlung seine Aufmerksamkeit. Auf einem offenen Platz drängten sich mehr als hundert Menschen um einige, hoch aufragende Stängel Rohrkolben.
Mooni verstärkte ihren Griff und schob sich, mit ihm im Schlepptau, durch die Menge. Mehr als einmal stieß er sich dabei unsanft den Rücken an. Der brennende Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. Mooni zerrte ihn jedoch weiter, ohne auf sein protestierendes Stöhnen zu achten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit waren sie hindurch und standen an einer niedrigen Absperrung. Shaun glaubte, sein Rücken müsse izwischen in Flammen stehen. Er drehte sich seitlich, damit ihm die drängelnden Menschen nicht weiter unabsichtlich gegen die Wunden stießen.
»Jetzt schau doch mal, da«, Mooni zupfte an seinem Arm.
Eigentlich hätte er sich lieber hingelegt und darauf gewartet, dass die Schmerzen nachließen. Doch er gab ihrem Drängen nach und sah in die angegebene Richtung.
Hinter der Absperrung standen zwei Männer vor einem großen Wasserloch. Der Kreis aus Seerosenblättern bildeten hier ein Fünfeck, aus dessen offener Mitte das halbe Dutzend riesigen Rohrkolben meterweit in die Höhe ragten. An einem davon hing etwas, das Shaun entfernt an eine verpuppte Raupe erinnerte. Das musste eine dieser Libellenlarven sein, schoss es ihm durch den Kopf. Einer der beiden Männer dort vorn – es handelte sich schon wieder um diesen Johann – beugte sich gerade vor und half der hilflos zappelnden Nymphe, ihre verhärtete Hülle aufzubrechen. Es klang wie das Bersten einer dünnen Eisschicht, als der Chitinpanzer am Rücken der Länge nach aufbrach. Begleitet von erfürchtigem Raunen aus der Menge glitt eine blau und rot gestreifte Libelle rückwärts aus der Hülle. Shaun bemerkte ihre mühsamen Atemzüge. Nur mit dem unteren Schwanzende in der alten Haut steckend hing sie kopfüber über dem Wasser. Johann beugte sich erneut vor, um ihr über den Bauch zu streichen, doch der Libellenkopf ruckte vor. Drohend klackten die Kauwerkzeuge kurz vor der Hand des Mannes. Erschrocken zuckte der Schwarzhaarige zurück.
»Tja, scheint fast so, als ob sie dich nicht leiden kann.« Der zweite Anwesende hinter der Absperrung klopfte Johann kameradschaftlich auf die Schulter. »Tut mir echt leid für dich, Kumpel.«
»Der Grauhaarige dort ist Hartmut«, erklärte Mooni grinsend, »der ist hier sowas wie der Libellenwart. Er leitet den Flugplatz und die Stallungen.«
Mit einer gewissen Genugtuung sah Shaun weiter zu. Johann jedoch ignorierte die Worte des Alten. Ein drittes Mal streckte er die Hand nach der Libelle aus. Diesmal zuckten zwei lange Insektenbeine vor, packten den Unbelehrbaren und warfen ihn in den See.
Die Menge johlte bei diesem Schauspiel. Hartmut half dem noch immer fliegerlosen Libellenreiter wieder aus dem Wasser. Dieser sprang, kaum dass er erneut festen Boden unter den Füßen hatte, über die Absperrung und verschwand mit rotem Kopf in der Menge. Vereinzelte Pfiffe begleiteten ihn.
Hartmut hob theatralisch die Hände und blickte abwartend in die Runde. Die Menge verstummte.
»Liebe Freunde, liebe Bewohner von Sennestadt, diesmal scheint sich unser jüngster Zuwachs seinen neuen Reiter selbst aussuchen zu wollen. Lassen wir dieser wunderschönen Libelle also die nötige Zeit, um sich endgültig aus ihrer Hülle zu lösen. Leisten wir ihr bei diesem letzten Schritt Gesellschaft und warten ab, wen aus unserer Mitte sie schlussendlich zu ihrem Begleiter erwählt.«
Leises Raunen wogte um Shaun und Mooni. Es schien sich um einen außergewöhnlichen Moment zu handeln. Natürlich hätte Shaun einfach fragen können, was es mit diesem ‚Erwählen‘ auf sich hatte, doch er wollte sich andererseits auch nicht gleich am ersten Tag hier als Dummkopf outen. Jeder außer ihm schien zu wissen, was nun folgen würde. In allen Gesichtern konnte er dieses gewisse, hoffnungsvolle Leuchten erkennen.
Die junge Libelle hing noch immer in gekrümmter Haltung kopfüber und zur Hälfte in der Hülle. Ihre Atmung hatte sich inzwischen beruhigt. Langsam drehte das gewaltige Tier den Kopf, betrachtete die wartenden Zuschauer aus seinen Komplexaugen. Shaun ertappte sich dabei, wie er das schillernde Farbenspiel bewunderte, das die Sonnenstrahlen in den tausenden von Einzelaugen hervorriefen. Behäbig umfasste die Libelle den Stängel zunächst mit den hinteren Beinpaaren und zogen sich mühsam hoch. Die anderen Beine folgten in Zeitlupe, bis sie aufrecht an der Pflanze hing. Die unansehnlichen, verknitterten Klumpen auf ihrem Rücken entfalteten sich nun gemächlich wie eine Luftmatratze, die jemand mit dem Mund aufblies. Das Flüstern und Raunen der Zuschauer schwoll zeitgleich an, wandelte sich zu einem kollektiven »Aaaaah«.
Als Shaun sich umsah, konnte er in hunderte von staunenden, offenen Mündern blicken. Ein Zahnarzt hätte hier gerade den Weltrekord im Zähneziehen starten können. Lautes Knistern und Rascheln übertönte die Menge – gefolgt von einem durchdringenden Brummen.
Die Libelle teste spielerisch ihre neuen Flügel.
Shaun zog zur Sicherheit den Kopf ein. Das Tier ließ den Blick erneut über die Menge schweifen – und landete mit einem gewaltigen Sprung direkt vor dem Jungen.
Entsetzt wollte er zurückweichen. Nach seiner letzten Erfahrung mit diesen riesigen Insekten erschienen sie ihm ebenso gefährlich wie alle anderen, dieser mutierten Monster. Doch die Menge ließ ihm nicht durch. Sie hatte eine Mauer gebildet, an dessen vorderster Kante er nun stand. Dutzende Hände drückten von hinten gegen seinen schmerzenden Rücken, schoben ihn weiter auf das Tier zu.
Neben ihm flüsterte Mooni aufgeregt: »Das muss die Nymphe von der Tauchglocke vorhin sein. Sie scheint ihre Erinnerung an dich bewahrt zu haben. Sie hat dich als ihren Piloten erwählt.«
Das war zu viel für ihn. Shauns Welt begann sich zu drehen. Mit Schmerzenstränen in den Augen wankte er vorwärts, griff haltsuchend zu, als er gegen etwas glattes und hartes stieß. Er blinzelte die heißen Tränen aus den Augen, atmete einige Male tief durch – und erstarrte, als er erkannte, woran er sich klammerte.
Unten seinen Fingern befanden sich die blauroten Chitinplatten der Libelle. Das riesige Tier senkte seinen Körper. Shaun fiel haltlos nach vorne über dessen Rücken. Geschickt rückte das Tier ihn zurecht und erhob sich mit flirrenden Flügeln in die Luft.