Fingerübung, Stichwort: «rot»
Dies ist der zweite, kurze Ausschnitt, der während der Entwicklung des Rohmanuskripts «Die Baumflüsterin» entstand.
CN: Blut
«Endlich», stieß der Ork hervor, bevor er stöhnend zusammenbrach. Migi wich entsetzt zurück. Sie konnte dunkelrote Flecken auf seiner schmutzigen Leinenweste erkennen. Blut? War das etwa Blut? Erschrocken schlug sie die braunen Hände vor den Mund. Was war mit ihm geschehen? Wer machte so etwas? Vielleicht ein wildes Tier, das ihren alten Freund angegriffen hatte? Oder war er beim Klettern in der Klamm abgestürzt? Doch Orks waren robust, ihre Haut dick und zäh wie Leder. Viele Raubtiere bissen sich an ihnen sprichwörtlich die Zähne aus. Was war ihm also Schlimmes widerfahren?
Die roten Flecken breiteten sich vor ihren Augen weiter auf dem Stoff aus. Er verlor noch immer Blut. Irgendetwas musste geschehen, sonst würde Jose hier sterben.
Doch Migi war starr vor Schrecken, unfähig sich zu regen. Nur ihre Gedanken kreisten unablässig, versuchten, alles zu begreifen. Was sollte sie jetzt nur tun? Was konnte sie tun? Sollte sie Hilfe holen? Er gehörte jedoch nicht hier her. Die Gnome wären nicht glücklich über den Besucher. Würden sie ihm trotzdem helfen? Sie konnte es ihnen befehlen, das ja. Aber würden sie auf sie hören? Manchmal waren sie so starrköpfig wie Steine.
Jose regte sich stöhnend. Er hob den Kopf und suchte ihren Blick.
«... Muss ... warnen ... die ...», stammelte er. Seine Augen rollten nach oben und der klobige, grüne Kopf fiel zurück ins Laub.
Hinter Migi raschelte es. Eine kleine graugrüne Gestalt schob einige Farnwedel zur Seite und watschelte unbeholfen auf sie zu.
«Soso, ein Ork», näselte Roche, wobei er Migi strafend anblickte.
«Ich ... er ... ich ... kam einfach ...» Verdammt, warum war das so schwer, die richtigen Worte zu finden? Roche war ihr Helfer, ihr Diener. Er war dazu da, ihr Leben angenehmer zu gestalten. Er sollte ihre Nahrung zubereiten, ihr arbeiten abnehmen und sich um sie kümmern, wenn sie es nicht konnte. Aber er war nicht dazu da, sie zu kritisieren oder zu kontrollieren.
«Den hat es ja ganz schön gebeutelt», sagte der Gnom, «wir nehmen ihn besser erst mal mit, dann sehen wir weiter.»
Er pfiff schrill auf zwei Fingern. Sofort sprang ein Dutzend identisch wirkender Gestalten aus den Büschen und kam herangeeilt.
Waren die etwa die ganze Zeit schon dort gewesen, fragte sich Migi. Hatten die Gnome alles beobachtet? Womöglich auch ihren Versuch, einen Tagebucheintrag zu verfassen?
Gemeinsam wuchteten die Gnome den schweren Ork in die Höhe. Wie Sargträger auf der Beerdigung, der sie als Kind beigewohnt hatte, so trugen die Helfer ihren alten Freund zum Hain. Damals war es ihr Vater gewesen, der sich in einer Eichenholzkiste befunden hatte. An die Hand ihrer Mutter geklammert war es ihr damals unbegreiflich erschienen, dass sie ihn niemals wiedersehen würde. Fast ein Jahrzehnt später war auch ihre Mutter gestorben. Zu dieser Zeit wurde jedoch niemand mehr beerdigt. Die Ahnen waren erwacht und hatten begonnen, zu sprechen. Migi schnaubte. Ihre Stimmen waren dröhnend und laut in ihrem Kopf. Sie waren so mächtig, dass man nicht daran dachte, Ihnen zu widersprechen. Ihre Worte waren Gesetz, so einfach war das. Und Sie hatten damals verfügt, die Toten nicht weiter zu verbrennen oder in der Erde zu verscharren. Bäume zu fällen, um daraus Särge zu fertigen war sowieso undenkbar geworden. Die Kadaver der Verstorbenen wurden nun nach Ihrer Weisung offen im Wald abgelegt. Sie dienten den Tieren als Nahrung - den Fleischfressern, den Insekten und ganz besonders den Ameisen. Nichts säuberte die Toten hier schneller als sie. Die Formicidae waren der Aufräumtrupp des Regenwaldes. Nichts als blanke Knochen ließen sie zurück, oftmals innerhalb von wenigen Stunden. Außerdem konnten die organischen Reste auf diese Weise am effektivsten von den Bakterien zurück in pflanzenverwertbare Stickstoffverbindungen, in Nitrate und all die anderen Nährstoffe gewandelt werden, nach denen es Die Ahnen so sehr dürstete. So hatten Sie es ihr zumindest erklärt. Es war ein ewiger Kreislauf. Migi verstand jedoch nur die Hälfte davon. In den Tagebüchern ihrer Mutter war ebenfalls oft von solchen Dingen die Rede. Sie hatte sich bis zum Tod damit beschäftigt, daran geforscht. Migi jedoch war damals noch zu klein gewesen, um all dies zu begreifen. Sie hatte staunend zugesehen, wenn ihre Mutter Pflanzenteile in Maschinen steckte, wenn sie diese unter ihrem Mikroskop untersuchte oder mit anderen Geräten analysierte. Und heute war Migi zu dumm, um all dies zu verstehen. Der Wandel hatte ihr zwar neue Fähigkeiten geschenkt, jedoch ebenso viel von ihr gefordert. Neben ihrer Menschlichkeit. So oft hatte sie in den Schriften ihrer Mutter gelesen und vergebens nach einem Sinn hinter den Worten gesucht.
Der kleine Trupp erreichte dem Hain kurze Zeit später. Der stöhnende Jose wurde auf ein Moospolster abgelegt, das den Bewohnern sonst als Schlafplatz diente. Vorsichtig schnitten die Gnome die verklebte Kleidung vom Körper des Verletzten. Ein Raunen und Tuscheln ging durch die Gruppe der krummbeinigen Gestalten.
«Was ist?», wollte Migi von ihnen wissen.
Roche zeigte auf den reglosen Ork. «Seine Haut. Sieh selbst. Sie ist fleckig weiß. Und das Blut ist rot.»
Migi sah hin und erschrak. Er hatte recht. Warum war ihr das nicht schon im Wald aufgefallen? Orkblut war nicht rot, niemals. Nicht nach dem Wandel.
Der Gnom begann auf seine emotionslose Art zu leiern: «Das Blut von Elfen ist blau, Zwerge (Dank an Dirgis Eiszapf für die Erinnerung! Ich hätte die Zwerge fast vergessen) haben graues Blut. In den Adern von Trollen fließt es klar wie Pflanzensaft, und bei Gnomen und Orks ist es grün. Und zwar immer. Ausnahmslos. Nur die Tiere und die niederen Wandlungen haben noch rotes Blut in ihren Adern, so wie früher die Menschen.»
Jetzt konnte Migi doch etwas wie Gefühle in der Stimme des Gnoms erkennen. Ekel. Die letzten Worte hatte er voller Abscheu hervorgestoßen. Aber was war mit Jose geschehen? Vor ihrer aller Augen wuchs ihm ein weiterer heller Fleck auf dem Rücken. Das kräftige Grün am Rand verblasste, wurde immer heller und letztendlich verfärbte es sich weiß.
Nein, nicht weiß, dachte sie. Das war der helle Ton von Haut, Menschenhaut. Migi war verblüfft. Verwandelte Jose sich zurück? War das überhaupt möglich?
Dann brach die helle Haut auf. Blut quoll aus den Rissen hervor.
Rotes Blut.
Rot wie Menschenblut.