Fingerübung, Stichwort: «Warmer Tee»
Ein kurzer Ausschnitt aus dem entstehenden Manuskript der Jugendbuchreihe «Das Kuratorium des Verfalls» (Buch 1:Kapitel 14.2, -Ich packe meine Tasche-)
Chris war kaum durch die Tür zur Gaststube getreten, als ihn sein Vater bereits heranwinkte.
«Dein Bruder ist nicht da und ich brauche Hilfe.» Er warf ihm eine Schürze zu.
«Ich wollte aber...»
«Keine Chance», unterbrach ihn sein Vater barsch, «Nelly ist auch weg und ich kann hier nicht alles allein machen.»
Mit knappem Kopfnicken gab er Chris zu verstehen, dass dieser sich um die Gäste an den Tischen kümmern sollte. Seufzend griff der Junge ein Tablett und schlurfte ergeben los.
Die nächsten Stunden verliefen für Chris wie in Trance. Er lieferte die Getränke, gab Bestellungen an seine Mutter in der Küche weiter und brachte Speisen zu den Gästen. Er kassierte, half seinem Vater beim Spülen und musste sogar zwischenzeitlich ins hintere Lager, um Kästen zu stapeln. Ein erneuter Besuch im verhassten Keller blieb ihm zum Glück erspart.
Doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Trotz seiner Erfahrung im Familienbetrieb geschah es mehrfach, dass er eine Bestellung übersah oder verspätet servierte. Der alte Wagner klagte, sein Fleisch hätte nicht die gewünschte Beilage, Hoffmanns lärmende Skatrunde schimpfte immer wieder, wenn er ihre Getränke vertauschte und ein Fischer brummte über den - wie er meinte - nur noch warmen Tee. Kurz gesagt, an diesem Nachmittag war Chris einfach nicht bei Sache. Immer wieder dachte er über die vergangenen Stunden nach.
Ob die Frau in Malden wirklich eine Hexe gewesen war? Der Junge glaubte es nicht. Die Erklärung des Pfarrers hatte einleuchtend geklungen. Und dann war da wieder das Geisterhaus. Er sah sich selbst erneut zwischen den steinernen Torpfosten stehen. Paralysiert, selbst zu Stein erstarrt, die zwei Figuren hingegen mit einem mal sehr lebendig. Der Gedanke ließ in frösteln.
Völlig in sich versunken übersah er einen Gast und stieß mit ihm zusammen. Eilig entschuldigte Chris sich, dann erkannte er den alten Leuchtturmwärter Samuel. Das faltige Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als der Mann ihn an der Schulter griff und zur Seite zog.
«Gut, dass ich dich hier treffe», raunte er. Chris drehte den Kopf zur Seite und versuchte verzweifelt, sich aus dem Griff zu winden. Doch die Finger krallten sich nur fester in sein Hemd. Der Alte war stark.
Nun klang Samuel eindringlich: «Ich habe ein ungutes Gefühl, dort draußen. Es werden immer mehr, ich kann sie kaum mehr bändigen. Zu allem Überfluss ist Nathaniel nun auch noch ohne ein Wort verschwunden.» Er blickte sich vorsichtig um, bevor er eilig flüsterte: «Ich weiß, ihr drei seid kluge Jungen. Viel klüger, als es gut für euch wäre. Sag deinen zwei Freunden, ihr müsst die nächsten Tage draußen unbedingt auf euch achtgeben. Es ist hier nicht mehr sicher.»
Er beugte sich weiter vor, bis Chris den warmen Atem an seinem Ohr spüren konnte. Der Alte roch unangenehm nach Tabak und Bier. «Zieht draußen bloß nicht alleine herum, hörst du. Nur zusammen seid ihr sicher. Und niemals im Dunkeln. Das ist wichtig! Haltet euch immer im Licht!»
Damit ließ er Chris los und humpelte weiter auf die Toilette. Gerade so, als ob nichts gewesen wäre. Völlig verdattert blieb der Junge im Durchgang stehen und sah dem Leuchtturmwärter nach.
Was war das denn jetzt wieder gewesen? Der alte Samuel war zwar etwas seltsam, er erzählte viele irrwitzige Geschichten, besonders nachdem er genug Bier getrunken hatte. Doch so etwas kannte Chris bisher nicht von ihm.
«Hey, schläfst du da etwa gerade im Stehen?», riss ihn ein Ruf in die Wirklichkeit zurück.
Hinter ihm standen Ben und Nelly. Sie hielten sich verliebt grinsend an den Händen und blickten ihn fragend an.
Chris schüttelte das ungute Gefühl ab. «Gut das ihr endlich da seid», begrüßte er die beiden.
Sein Vater hatte die Neuankömmlinge ebenfalls bemerkt und winkte sie erleichtert zu sich heran. Beim Anblick der verschränkten Hände von Ben und Nelly hatte Chris ein seltsames Ziehen in seiner Brust verspürt. War das Neid, oder etwa Eifersucht? Es störte ihn zumindest, sie so glücklich zu sehen. Ohne dass er jedoch sagen konnte, warum genau. Vorher war es ihm auch immer egal gewesen, wenn Ben eine neue Eroberung heimbrachte. Aber egal, er hatte jetzt wichtigeres zu tun. Es waren schließlich noch ein paar Sachen für den nächtlichen Ausflug zu packen. Er warf die Schürze über eine Haken im Treppenhaus und stolperte die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf.