CN: Fäkalsprache, latenter Rassismus
Er war der Neue. Auch nach drei Monaten und über 50 gemeinsamen Einsätzen haftete Etienne dieser Spitzname noch immer an. Und er würde vermutlich ewig der Neue bleiben, bis er irgendwann aus dem Team ausschied, oder ein neuer Neuer den Dreamdancer beitrat. Nun gut, dachte er, dann wollen wir mal abwarten, welchen Spitznamen sie diesem dann geben werden. Hoffentlich fanden sie bald Verstärkung, denn sie hatten mehr als genug zu tun. Heute lag ein Hilfegesuch aus Mexiko vor.
»Verdammt, werden denn alle neuen Traumtänzer automatisch kriminell?«, Etienne warf die Mappe frustriert zurück auf den Stahltisch und blickte in die Runde.
»Ich meine ja nur. Eigentlich habe ich heute frei. Wisst ihr, dass ich noch nicht einmal in dieser verfluchten Oper war, seitdem wir hier in Sydney stationiert sind?«
Wie zur Bestätigung seiner Worte gähnte er herzhaft. Links neben ihm saß der dunkelhäutige Maze, der so konzentriert seinen Bericht las, als ob er darin sein Seelenheil zu finden hoffte.
Zu Etiennes Rechten lümmelte sich Sanchez auf ihrem Sessel, die schweren Kampfstiefel auf der Tischplatte abgelegt. Sie fächelte sich mit ihrer Kopie der Einsatzunterlagen Luft zu, was angesichts der fauchenden Klimaanlage über ihren Köpfen ziemlich absurd wirkte. Captain Zimmermann am Kopf des Tisches wollte sie gerade zurechtweisen, als Maze endlich seine Mappe sinken ließ.
Der Hühne blickte Etienne kurz mit seinen unergründlichen, schwarzen Augen an, dann knurrte er: »Neuer, die Menschen sind schlecht. Sieh dir doch nur unsere kleine Sanchez hier an. Sie konnte sich gestern am Ende auch nicht mehr bremsen. Es war eine ziemliche Sauerei. Darum wurde dir ja auch dein freier Tag gestrichen, Kumpel.«
Seine Stimme war so tief, dass man stets ein Beben zu spüren glaubte, wenn der riesige Kenianer das Wort ergriff. Was die drahtige Latina jedoch gerade in keiner Weise zu beeindrucken schien.
Sie sprang bei den Worten hoch und fauchte Maze an: »Hijo de puta! Wer, glaubst du eigentlich, hat dir bei unserem Einsatz gestern den schwarzen Arsch gerettet, Heh?« Anklagend deutete sie auf Etienne: »Dieses stocksteife Weißbrot hier hätte dich doch eher verrecken lassen, als dem anderen auch ein Haar zu krümmen. Und das nur, weil er ständig auf seine beschissenen Regeln pocht. Ohne mich wärst du doch verreckt, tonto el culo!«
Als der Kenianer Anstalten machte, sich mit geballten Fäusten zu erheben, schlug die drahtige Frau schnell einen besänftigenden Ton an: »Heyhey, alles cool, Amigo. Dafür hab ich ja jetzt Stubenarrest bekommen.«
Maze ließ sich wieder in seinen Sessel sinken und zwinkerte Etienne verschwörerisch zu.
In diesem Moment erhob sich Captain Zimmermann. Sein deutscher Akzent ließ die Worte hart klingen, was mit seinem kantigen Gesicht, den eisblauen Augen und dem grauen Bürstenhaarschnitt im völligen Einklang stand.
»Schluss mit den Kindereien. Ihr habt alle den Bericht gelesen. Irgendwo im Umkreis von Mexiko-City treibt ein neuer Traumtänzer sein Unwesen. Wenn wir dem Hilfegesuch der dortigen Agenten Glauben schenken, hat er inzwischen einige hundert Anhänger um sich geschart. Unser Ziel ist es, diesen sogenannten Brujo aufzuspüren.«
»Jo, das bedeutet übrigens Hexer«, fuhr Sanchez dazwischen.
Zimmermann blickte sie scharf an.
»Ich dachte, das wäre vielleicht wichtig, jefe«, verteidigte sie sich.
Der Captain seufzte und fuhr fort: »Ich muss euch hoffentlich nicht extra sagen, dass wir diesmal etwas mehr Vorsicht walten lassen werden. Das Desaster beim letzten Einsatz war völlig inakzeptabel!« Maze schrumpfte sichtlich in seinem Sessel zusammen.
»Genauso wenig werden wir diesmal unsere Regeln brechen und Zivilisten in Gefahr bringen. Oder anderen Leute das Hirn rösten! Disziplin, Leute.«
»Hey! Ich hab el Hombre negro nur seinen riesigen Arsch gerettet, Boss«, brummte Sanchez gereizt.
»Und zum Dank dafür darfst du heute das System bedienen und auf uns alle Achtgeben, weil du das ja so gut kannst«, antwortete der Captain knapp.
Sanchez hob zur Antwort den Mittelfinger.
Der Deutsche tippte kurz auf sein Armdisplay, dann verkündete er: »Am Zielort sind es nun 23:42 Uhr. Die beste Zeit für uns. Los gehts! Maze, Neuer, auf in die Dreamchairs, Hop-Hop!«
Zwei Minuten später saßen Maze, Etienne und Captain Zimmermann auf den stählernen Einsatzsesseln. Kabelstränge liefen von ihren Helmen über die Decke bis zum Terminal im Nebenraum. Sanchez kontrollierte dort die Überwachungsmonitore und nickte dann hinter der Plexiglasscheibe ein Okay. Der Captain blickte Maze und Etienne ernst an.
»Ihr kennt die Regeln. Das ist unser Erstkontakt am Einsatzort. Wir springen lediglich durch einige Träume und suchen nach den Spuren des feindlichen Traumtänzers. Keine Gedankenmanipulation - nur schnell rein, umsehen und dann weiter zum nächsten Träumer. Wenn ihr auch nur einen Hauch von diesem Brujo verspürt, verschwindet ihr sofort. Wir lokalisieren ihn heute lediglich. Keine Einzelkämpferscheiße, keine Killswitchs. Denkt dran: Wir sind die Guten!«
Die beiden nickten ernst, dann schoben sie ihre Visiere herunter.
Eine freundliche Computerstimme informierte sie: »Dreamdancer-Prozedur gestartet. Synapsenkopplung in 10-9-8-7-6 ...«
Der Deckenlautsprecher übertönte den Countdown und eine aufgekratzte Sanchez krähte: »Viel Glück, Amigos. Macht den Pendejo fertig!«
Der Captain sah noch, wie sie grinsend die Füße auf das Terminal legte und sich eine Zigarre in den Mund schob.
»... 2-1 - Synapsenkopplung erfolgt - Dreamdancer sind verbunden.«
Dann verschwamm ihre Sicht und sie sprangen in das Hirn eines Träumenden in Mexiko-City.