Ein ohrenbetäubendes Brüllen brachte Etiennes Ohren zum Klingeln. Reflexartig ließ er sich fallen, wie er es hunderte Male im Training geübt hatten - doch es war bereits zu spät. Eine haarige, grüne Faust rauschte von oben heran und traf ihn brutal gegen die Brust. Er flog meterweit durch die Luft und prallte an eine Wand. Kurz trübte sich seine Sicht und ein stechender Schmerz in der Hüfte flammte auf. Mit zusammengebissenen Zähnen rang er keuchend nach Atem.
Traumspringen war gefährlich, das wussten sie alle. Jeder Sprung konnte ihr Letzter sein, wenn man im falschen Traum oder an einer ungünstigen Stelle landete. Oder, wenn man nicht achtgab. Er vermutete, eine Kombination der letzten beiden Dinge war ihm zugestoßen. Im Gegensatz zu den Träumenden, in dessen Gedanken sie sprangen, würden Traumtänzer nicht einfach erwachen, wenn es für sie ungünstig verlief. Sie konnten in der Gedankenwelt verbrennen, ertrinken, zerquetscht werden oder auf unzählige weitere Arten sterben. Der menschliche Geist war unendlich kreativ, wenn es darum ging, potenziell tödliche Situationen zu entwerfen. Lediglich ein beherzter Schlag auf den Notfallknopf am Pullback-System ihrer Computer, eingebaut in den Jacken, brachte die Soldaten des Projekts Dreamdancer zurück nach Sydney – und damit in die Realität. Wenn ihnen dies jedoch nicht gelang ... Nun, es war das Gleiche, wie in der Leere vom Netz zu fallen. Man brannte aus, hinterließ einen Körper, der im dauerhaften vegetativen Zustand verblieb. Das Hirnschmalz war dann jedenfalls verdorrt. Diesmal hatte er jedoch Glück gehabt.
Als Etienne wieder klar sehen konnte, bemühte er sich, einen Überblick zu erlangen. Sie waren in einer Turnhalle gelandet. In der Mitte hatte man eine Art Ring errichtet. Alles wirkte, wie aus einem schlechten Wrestling-Film entliehen. Doch schon das Publikum war dafür eher ungewöhnlich. Dutzende hysterisch lachender Mädchen in hübschen Kleidchen, mit Zöpfen und bunten Haarspangen hatten sich um den Ring versammelt. Sie sprangen johlend umher, schubsten sich gegenseitig und reckten Fähnchen in die Höhe. In ihren Augen stand jedoch die reine Blutgier. In der Mitte des Rings ragte etwas Riesiges über die Menge, das Etienne wohl am ehesten als überdimensionalen Gorilla bezeichnen würde. Auch wenn dessen Fell grün war und das Vieh über vier muskulöse Armpaare verfügte. Mit diesen grabschte das Monster gerade brüllend nach einem vielleicht 12-jährigen Mädchen. Die Kleine trug eine neben einem Sportdress eine grellbunte Wrestlingmaske. Sie tauchte immer wieder geschickt zwischen den Beinen des Monsters hindurch. Eine Anzeige unter einem Videoschirm an der Wand verkündete: noch 4 Jahre, 53 Tage und 2 Stunden bis zum Ende der ersten Runde.
Etienne stöhnte. Teenagerträume waren kurz nach denen von Wahnsinnigen und Drogensüchtigen immer die Schlimmsten. Er richtete sich wieder auf, strich die Uniform glatt und humpelte zu Maze und Captain Zimmermann, die beide das Geschehen fasziniert vom Rand aus beobachteten.
Maze wandte sich breit grinsend zu seinem lädierten Kollegen: »Wir sollen doch vorsichtig sein, hat der Boss gesagt.«
»Blödmann«, grinste nun auch der Franzose.
Der Captain drehte besorgt den Kopf: »Dir gehts gut, Neuer? Du hast dir nichts getan, oder?«
»Nein nein, alles Okay.«
Damit war die Sache für den Captain erledigt. Er tippte weiter auf seinem Armcomputer herum.
»Ich frage mich, warum uns das System hierhin geführt hat«, murmelte Zimmermann. »Ich bekomme hier so viele unterschiedliche Signale rein, dass mein Rechner damit überlastet ist.«
Er aktivierte den ComLink: »Sanchez, kann du mal die Kleine in der Mitte checken? Maze schickt dir gleich ein Bild rüber.«
»Jo, Big-Boss«, rauschte es zurück.
Dann hörten die drei eine ganze Zeit lang nur noch das Kreischen und Johlen der Kinder. Das grüne Monster sprang nun wild im Ring umher, bemüht, das arme Mädchen zu zerquetschen.
»Hey Jungs, ihr seid auf der richtigen Spur«, kam endlich die Antwort. »Eure Chica heißt Maria Hernandez. Ihr Vater ist Emilio Hernandez, sozusagen der mexikanische Mr. Campbell. Sein Dosenimperium hat im lateinamerikanischen Raum einen Marktanteil von über 63%. Aber jetzt kommt das Merkwürdige an der Sache: Er hat nämlich in den vergangenen zehn Tagen knapp ein Drittel seiner privaten Firmenanteile an eine dubiose Holdinggesellschaft überschrieben. Seitdem ist er auch nicht mehr im Büro erschienen. Er liegt laut seiner Arztakte jetzt nahezu dauerhaft im Bett. Schlafend!«
»Das klingt nach unserer Verbindung«, sagte Zimmermann.
»Wartet ab, das Beste kommt noch. Laut meinen Recherchen gehört diese Holdinggesellschaft, wenn man dem Pfad der Briefkastenfirmen folgt, einem gewissen Felipe da Silva. Dieser wiederum war bis vor zwei Monaten noch ein kleiner Fisch im großen Drogenteich. Er nennt sich übrigens el payaso, was soviel wie der Clown bedeutet. Wenn man den Polizeiakten glaubt, stammt er ursprünglich aus Venezuela. Nun haltet aber eure cochones fest. In den vergangenen sechs Wochen hat er nahezu alle Kokain-Handelsketten von Kolumbien, Venezuela und Mexiko nach Amerika quasi über Nacht übernommen. Die Polizei vermutet außerdem, ihm gehören seit kurzem auch zwei Drittel aller Bordelle in der Region.«
Maze pfiff anerkennend und auch Captain Zimmermann nickte bedächtig.
»Gut gemacht, Sanchez! Das müsste wirklich unsere gesuchte Verbindung sein. Da Silva hat vermutlich irgendwo einen Traumtänzer aufgetrieben und ihn auf seine Seite gezogen. Mit dessen Hilfe war es ihm dann ein Leichtes, seine Konkurrenten zu überzeugen.«
»Dann lass uns dem neuen Drogenboss mal ins Hirn tanzen«, sagte Maze und schlug die Fäuste aneinander.
Doch Zimmermann schüttelte den Kopf. »Viel zu gefährlich. Dort könnte uns der feindliche Traumtänzer bemerkten. Wir werden uns zunächst den Vater der Kleinen da vornehmen. Er wurde ebenfalls beeinflusst und verfügt somit auch über eine direkte Gedankenverbindung zu el Brujo.«
Die geifernde Menge der Schaulustigen um den Ring begann gerade, das Mädchen in der Mitte mit faulem Obst zu bewerfen, als die drei Dreamdancer erneut ins Nichts abtauchten.