»Sanchez, verdammt!«
Captain Zimmermann sprang fluchend hinter der Latina durch die aufgebrochene Tür. Auch Maze und Etienne folgten ihnen eilig. Nach der Türschwelle stolperten sie in eine staubige Wüstenlandschaft. Die Talsenke, in der das Gebäude stand, wurde zu beiden Seiten von felsigen Hügeln flankiert, auf denen dürre Gräser und einige Agaven wuchsen. Gelegentlich wurde die öde Landschaft von Yukkas unterbrochen und auf einem Hügel ragten zwei Mesquiten in die Höhe.
All dies bemerkten die Dreamdancer jedoch nur am Rande. Kaum ein Dutzend Schritte von ihnen entfernt hatte sich eine große Gruppe Menschen im Kreis versammelt. Ihre Bekleidung wirkte so unpassend, wie es in Träumen oft der Fall war. Einige trugen teure Anzüge, einer hielt gar noch eine Aktentasche in der Hand. Anderen waren mit Bademänteln oder bunten Jogginganzügen bekleidet. Ein Mann - es handelte sich bei Versammlung ausschließlich um Männer, wie Etienne nun bemerkte - schien in eine Art römische Toga gekleidet, wobei die Ravenscroft-Perücke eines britischen Richters jedoch leicht unpassend erschien.
Wirklich skurril wirkte aber bei alledem nur der junge Mann in der Mitte der Versammlung. Lediglich in einen Lendenschurz gehüllt und mit bunten Federbüscheln an Kopf und Oberarmen geschmückt tanzte er wild um einen rostigen Eisenkessel. Er wirkte wie ein Inka-Priester, den man mit einem Derwisch gekreuzt hatte. Etienne musste an das Kindermärchen von Rumpelstilzchen denken, das ihm seine deutsche Großmutter früher oft vorgelesen hatte. Die Goldreifen an Armen und Beinen des Tänzers schepperten wild im Takt der seltsamen Bewegungen. Ergänzt wurde seine exotische Aufmachung durch Körperbemalungen in gedankenverwirrenden Kreisen und Schnörkeln. Irgendwo in der Menschenmenge spielte jemand eine Flöte. Die Versammelten schienen gemeinsam eine Art monotonen Sprechgesang zu murmeln.
»Schätze mal, wir haben den Traumtänzer gefunden«, knurrte Maze.
»Jo, das dürfte wohl el Brujo, der Hexer sein«, ergänzte Sanchez.
»Mist! Das ist gar nicht gut«, sagte Zimmermann. Er tippte bereits wieder auf seinem Computer herum. »Dies alles hier scheint ein künstlich hervorgerufener, kollektiver Traum zu sein. Der Traumtänzer dort der Mitte ist viel mächtiger, als ich dachte. Er hat alle Träumenden hier miteinander verknüpft und übt einen permanenten Einfluss auf sie aus.«
»Dann machen wir den Culo halt kalt!« Sanchez strich sich mit dem Finger ostentativ über den Hals.
»Klar, super Idee«, sagte Etienne, »damit alle Anwesenden hier entweder direkt gegrillt werden oder für den Rest ihres Lebens in diesem verdammten Traum hängen bleiben. Und wenn der Träumende, in dessen Kopf wir uns gerade befinden, zufällig dabei stirbt, sind wir auch mit dran.«
Er blickte Sanchez tadelnd an. »Du denkst auch nie nach, oder?«
»Hey, brauchst du ´ne Abreibung, Cabrón?« Die Latina hob ihre Fäuste. Zorn funkelte in ihren Augen, als sie auf Etienne zukam.
»Hey, Leute!« Maze packte beide mit seinen riesigen Pranken am Genick und drehte ihre Köpfe zu der Menschenmenge.
Der Hexer in der Mitte hatte seinen Tanz unterbrochen und starrte die neuen Besucher feindselig an.
»Mist!«, fluchte Zimmermann nach einem Blick auf sein Armdisplay. »Jetzt kommen wir hier nicht mehr weg. Er hat gerade unsere Verbindungen nach draußen gekappt. Wir sitzen fest.«
Etienne wollte ihn gerade fragen, wie das möglich sei, als der Mann in der Mitte die Arme langsam über den Kopf erhob. Sekundenlang starrte er die Dreamdancer taxierend an, dann riss er die Arme wieder herab und fauchte er ein einzelnes Wort.
»OGWAH!«
Der raue Klang seiner Stimme brach sich an den umliegenden Hügeln und brachte alles zum Verstummen. Das ewige Lied der Grillen erstarb und auch der einsame Vogel in der Ferne unterbrach seine Klage. Der Sprechgesang der Menge verstummte und die versammelten Männer brachen wie Marionetten zusammen, denen man die Fäden durchtrennt hatte.
Einzig Rumpelstilzchen stand noch aufrecht.
»Ihr gehört hier nicht her«, stellte er sachlich fest.
»Sie ebenfalls nicht«, antwortete der Captain. »Ich mache Ihnen daher ein Angebot. Noch können Sie sich freiwillig zurückziehen und all diese Menschen gehen lassen. Sollten Sie sich jedoch weigern, sind wir gezwungen, Gewalt anzuwenden. Dann wird man Sie allerdings später gnadenlos zur Rechenschaft ziehen. Überlegen Sie es sich gut. Talente wie ihres sind selten, verschwenden Sie es nicht. Wir könnten sogar noch Verstärkung in unserem Team gebrauchen.«
Sanchez keuchte bei den letzten Worten auf, doch Etienne brachte sie mit einem Wink zum Verstummen, als sie etwas sagen wollte.
Der junge Mann am Kessel blickte die Dreamdancer über die regungslos liegenden Menschen an. Hochmut schwang in der Stimme des Hexers, als er antwortete.
»Ich habe hier die uneingeschränkte Macht. Es ist mir gleich, wer ihr vier seid. Ihr könnt es niemals mit mir aufnehmen. Denn ich bin der Herr aller Träume, der Brujo der Alpträume und ich werde euch vernichten!«
Mit jeder Silbe war seine Stimme lauter geworden. Am Ende riss er die Arme theatralisch in die Höhe, schrie noch ein Wort und deutete dann auf die Dreamdancer.
»TAPHU!«
Sein Ruf wurde von den Hügeln zurückgeworfen. Wie zur Antwort regten sich die Menschen auf dem Boden wieder. Stöhnend und knurrend richteten sie sich auf. Nach einigen orientierungslosen Augenblicken begann sich die Menge jedoch langsam auf die vier Dreamdancer zuzubewegen. Ihre Augen leuchteten rot auf und ihre Hände waren zu Krallen gekrümmt.
»Und jetzt? Sollen wir sie bitten, nett mit uns Karten zu spielen?«, wollte Sanchez wissen.
»Moment noch«, sagte Captain Zimmermann gehetzt. Er tippte erneut wild auf seinem Armcomputer herum.
»Ok, ich hab seinen Standort endlich lokalisiert. Holen wir ihn uns! Der Neue übernimmt das Netz! LOS GEHTS!«
Maze brüllte auf, dass der Boden erzitterte. Er senkte seinen gewaltigen Kopf und stürmte los, mitten in die Menge hinein. Die anderen folgten ihm, wobei der Captain den Abschluss bildete. Maze walzte eine Bresche in die Menschen, jedoch ohne ihnen dabei allzu große Schäden zuzufügen. Für seine gewaltigen Kräfte war er nahezu sanft. Als sie den Hexer in der Mitte erreichten, blickte dieser sie erstaunt an. Damit hatte er nicht gerechnet. Er riss seine Arme erneut in die Höhe. Etienne ließ ihm jedoch keine Chance zu weiterer Traummanipulation und warf das ionisierte Silbernetz. Es flog einen Bogen und hüllte den Brujo zur Gänze ein. Sofort erstarrte die heranwankende Menge um sie herum.
»De puta madre!«, krähte Sanchez und streckte dem Hexer die Zunge heraus.
Der junge Mann krümmte sich, gefangen unter dem Netz. Es unterbrach jegliche seiner Verbindungen zu den Träumenden. Zitternd kniete er dort, all seiner Macht beraubt und blickte sie ungläubig an. Für ihn war gerade eine Welt zusammengebrochen.
»Unsere Leitung nach draußen ist wieder offen«, verkündete der Captain. »Wir gehen zurück!«
Er schlug gegen seinen Pullback-Button und sie alle lösten sich in Luft auf.
Etienne schüttelte sich, um den Kopf wieder klar zu bekommen. Er saß auf dem Dreamchair in der Zentrale in Sydney. Er war zurück in der Realität. Der Captain hatte bereits eine Telefonleitung zur Abteilung in Mexiko-City geöffnet. Er gab den dortigen Kollegen die Koordinaten des gebannten Traumtänzers durch. Diese würden an der Adresse einen schlafenden, jungen Mann auffinden. Sobald sie ihn weckten, würden sich seine Traumverknüpfungen auflösen und alle dort noch gefangenen Menschen erwachen, erlöst von jeglicher Beeinflussung.
Dies war wieder ein erfolgreicher Arbeitstag für das Team Dreamdancer gewesen. Vielleicht würde Etienne es morgen schaffen, die Oper zu besichtigen. Jetzt allerdings war es an der Zeit, sich ins Bett zu legen und in die eigenen Träume zu gleiten. Vermutlich würde er noch länger der Neue im Team bleiben.
~Ende~