Wir blinzeln gegen das plötzliche, helle Licht an, das uns einhüllt. Nur langsam können wir Formen ausmachen und erblicken schließlich einen weiten, flachen Raum, der angefüllt ist mit endlosen, weißen Regalreihen voller ordentlich beschrifteter Aktenschubladen.
Nach und nach geht ein Schauer durch das Fell meiner Mitwölfe und auch Kitsune und Centaur frösteln. Nur Iron Wolf zittert nicht, aber der besteht ja auch aus Metall. Ich weiß gar nicht, ob er überhaupt Wärmesensoren hat.
"Du sagtest doch was von Albträumen", wendet sich Were Wolf winselnd an Centaur. "Nette, gruselige, blutige Albträume. Was ist das hier?"
"Der wahre Horror", antwortet Centaur düster. "Die Ordnung."
Wir schnappen alle angemessen entsetzt nach Luft. Auch Iron Wolf. Und ich glaube nicht, dass er überhaupt atmet!
Wir mustern die Aktenschubladen, die scheinbar alphabetisch sortiert sind. Ich sage 'scheinbar', weil wir nur Optionen wie "MAST-MASU" sehen, die unsere aktuelle, ewig lange Regalreihe beschriften, und auf den Schubladen so was wie "MASTBBTGU-MASTBBTGV".
Iron Wolf öffnet eine Schublade und scannt den Inhalt. Dann ... kippt er in Ohnmacht.
"Kann ein Robo-Wolf überhaupt ohnmächtig werden?", frage ich und stupse ihn an.
Kitsune zieht einen der Ordner hervor. "Mal sehen, was ihn so geschockt hat." Sie blättert. "Also ... sieht aus, als gäbe es einige Fabriken und Firmen mit dem Namen 'MASTBBTGU-irgendwas'. Ich vermute mal, hier sind überall Firmenordner abgelegt. Und eventuell ein paar Einzelpersonen."
"Wer heißt denn bitte ...?" Mir ist die Buchstabenreihe schon wieder entfallen.
Centaur zieht ein paar andere Ordner hervor. "Sieht so aus. Sag mal, machen deine Firmen auch nur langweiliges Zeug wie Papier im Einheitsmaß oder Rasenmäher ohne tolles Design?"
"In der Tat! Und hier wurden einige Mitarbeiter gefeuert, weil sie sich ein neues Logo überlegt und dieses vorgestellt haben." Kitsune überfliegt weitere Einträge. "Oder es wurde eine Sekretärin rausgeworfen, weil sie beim Telefonieren kleine Doodles gezeichnet hat."
"D-das heißt", stammelt Thunder Wolf, der langsam begreift, "das hier ist die Welt, wie sie aussieht, wenn die Ordnung siegt?"
"Eine Welt, in der jede Kreativität verboten ist." Kitsune nickt ernst.
"Okay, Ordnung", sage ich mit einem tiefen Grollen. "Jetzt ist es persönlich!"
Meine Pseudonyme nicken grimmig. Wir haben jetzt eine Mission.
"Gut, aber wie kommen wir hier raus? Ich denke, das ist eine Vision von Sepia ... ähh ... Scarlet Flame", grübelt Centaur laut. "Wie erreichen wir sie?"
Wir sehen uns um. In alle Richtungen gibt es nur Regale. Die weißen Wände sind kaum zu erkennen und die Akten stapeln sich bis fast unter die Decke. Von einem Ausgang ist nichts zu sehen.
Kitsune klettert geschickt an den Schränken hinauf und legt sich flach auf den Bauch. "Nö, ich sehe auch nichts", enttäuscht sie unsere Hoffnungen. "Wir brauchen einen anderen Plan."
Nachdenklich mustere ich die markierten Schubladen. "Denkt ihr ... hier gibt es einen Eintrag unter 'Marv'?"
Alle sehen mich an.
"Zu egozentrisch?", frage ich unsicher.
"Nein, das könnte es sein! Das ist es ja auch, was uns Pseudonyme mit dir verbindet", sagt Kitsune. Sie reicht eine Hand herunter. "Kommt. Wenn wir klettern, sind wir weitaus schneller als wenn wir die Regale umrunden."
Iron Wolf kommt zu sich, als wir gerade damit fertig sind, aus hervorgezogenen Akten-Schubladen eine behelfsmäßige Treppe zu basteln. Wie ein Trupp Bergsteiger setzen wir uns in Bewegung. Auf der einen Seite hoch, über das Regal, auf der anderen Seite runter ... kurz Buchstaben kontrollieren ... und weiter.
*
Nach einer Klettertour von mehreren Stunden und noch mal einer halben Stunde, die wir dem aktuellen Gang folgen, haben wir die richtige Schublade endlich gefunden.
Kitsune holt eine dicke Akte hervor, auf der 'MARV' steht. Brrr. Unheimliches Gefühl.
"Was steht drin?", fragt Thunder Wolf neugierig.
"Hier steht, wir wären brave, angepasste Bürger. Sogar Helden, weil wir der Ordnung gegen Minion zum Sieg verholfen hätten, wenn auch mit unkonventionellen, kreativen Methoden. Wir hätten uns aber inzwischen angepasst. Außer Sepia, Mac und ... cyber_doggo?"
Alle Blicke richten sich auf den mechanischen Wolf, der schuldbewusst die Elemente seines Kopfes zusammenzieht und dadurch seinen Hals schrumpft.
"Hier steht, Cyb hätte Minion erst die Macht dazu gegeben, die Ordnung fast zu besiegen, und sie hätten es auch geschafft, wenn wir nicht gewesen wären." Kitsune schlägt die Mappe zu. "Cyb ... wieso bist du in dieser verdrehten Zukunft deines Krea-Ichs immer noch der Gute? Willst du uns etwas sagen?"
Mit zu Boden gerichtetem Visier piepst Iron Wolf sein Geständnis.
"Du hast Minion freigelassen?!", fahre ich ihn an.
"Jetzt sei nicht so streng mit ihm. Er wollte halt helfen und das Chaos mehren", verteidigt Were Wolf seinen Bruder. "Iron Wolf hatte nach dem Vorfall mit Nivram eben Angst. Er wollte nur helfen!"
"Aber das ist zu viel Chaos!", schimpfe ich. "Wenn wir dagegen schon zur Ordnung gehören, läuft da wirklich etwas schief."
Cyb piepst.
"Wie war das?"
Iron Wolf piepst seine Entschuldigung etwas lauter.
"Komm, ich hätte die Bremse auch total vergessen", springt Thunder Wolf ihm bei.
"Aber doch nicht bei ..." Ich seufze. Wir sollten uns jetzt nicht untereinander streiten. "Es ist auch egal, was geschehen ist. Jetzt müssen wir Minion und die Minionminions besiegen."
Nickend stimmen die Pseudonyme mir zu.
Ich wende mich der Akte mit meinem Namen darauf zu. "Öffne die erste Seite, Kitsune. Wo hat diese Dystopie laut Minion ihren Anfang genommen?"
"Der Kampf in der Stadt", liest Kitsune vor. "Als Scarlet Flame uns in eine Vision sperrte, konnten wir entkommen und besiegten Minion, Flame und Ice, worauf wir die Ordnung ohne sie nicht mehr zurückschlagen konnten."
"Nur, dass es nicht so kommen wird", sage ich entschlossen. "Wir werden Minion aufhalten, ohne ihn, Flame und Ice zu verlieren! Und dann schlagen wir die Ordnung zurück."
Meine Pseudonyme tauschen überraschte Blicke und brechen dann in Jubel aus. "Zeigen wir es ihnen!"
Ein Licht erglüht um die Akte und zieht uns in sich. Wir fallen zurück in die sehr chaotische Realität ... und zwar kampfbereit!