Wir wandern durch eine lange, gerade Straße. Die Autos fahren, nach Farben geordnet, in einheitlichen Reihen und im gleichen Tempo. Auch die Menschen gehen überall im Gleichschritt, ein bisschen wie Roboter. Sie halten an den gleichen Schaufenstern und führen die gleichen Gespräche, tragen die gleiche Kleidung, arbeiten die gleichen Jobs.
Die Hochhäuser der Hauptstadt haben alle die gleiche Höhe und die gleiche Zahl Fenster auf jeder Seite. Aus Erfahrung weiß ich, dass die Büroräume drinnen den gleichen Grundriss und die gleiche Ausstattung haben, und dass aus jedem Zimmer das gleiche Klackern ertönt, als würden alle Arbeiter das gleiche, monotone Lied spielen.
Vier Wölfe und zwei Menschen, die sich nicht wie der Rest kleiden, werden kritisch beäugt, aber geduldet. Die Kameras folgen uns in jeden Winkel und senden Informationen an die Computer, welche unsere Akten in den ewigen Kellergewölben unter der Stadt ständig erweitern.
Oh ja, die Keller ... Regalreihen voller Aktenschränke, die kein sichtbares Ende nehmen, unter einer eintönigen Decke und im Neonlicht. Es ist noch schlimmer als in der Horrorvision, die Flame uns gezeigt hat.
Weil es wahr ist.
Der Anblick allein hat mein Trauma vom Zug der Ordnungsordnung ein paar Mal fast wieder aufleben lassen und ich konnte mich nur mit Mühe davon abhalten, wieder Krawatten zu sortieren. Das war es nämlich, was meine Winterwolf-Episode ausgelöst hat: Der Anblick der Aktenschränke in der Vision.
Wir biegen um eine Ecke in einen Hinterhof.
"Sind wir bald da?", piepst es aus Centaurs Tasche.
Der Mensch bleibt stehen und zieht eine kleine Tasse hervor. Hermit reckt die Stielaugen.
"Ah, ja. Müsste um die nächste Ecke sein."
"Hoffentlich klappt es diesmal", murmele ich.
Die anderen nicken beklommen.
Fünf lange Jahre liegen hinter uns. Überzeugt, dass die Schrumpffunktion uns Zeitreisen ermöglichen würde, haben wir alles versucht, um ein Wurmloch zu öffnen. Aber unsere Kräfte funktionieren nicht länger. Dann haben wir Telefonzellen abgeklappert. Dann Antiquitätengeschäfte auf der Suche nach der richtigen Sanduhr-Kette. Dann haben wir ein paar Autos ausprobiert. Und zuletzt jeder Engelsstatue in Sichtweite den Rücken zugedreht.
Doch keine der Zeitreisemethoden funktionierte. Nun gehen Centaur langsam die Referenzen und uns die Ideen aus. Unsere letzte Hoffnung ist diese Straßenecke, wo offenbar ein Buchladen versteckt ist. Vielleicht können wir dort etwas finden. Irgendwas! Es muss einen Grund geben, wieso Gnundro alle Bücher schreddern lässt. Also, außer der Kreativität darin.
Als wir um die letzte Ecke biegen, stoppen wir abrupt. Wir erblicken den Buchladen, ein kleiner, unauffälliger Laden. Und auch den Laster davor, in den Soldaten der Ordnungsordnung große Bücherkisten schleppen.
"Nein!", haucht Hermit und hält sich die Scherchen vor die Augen.
"Das können wir nicht zulassen. Kommt!", rufe ich und springe los. Wir jagen über die Straße. Die Soldaten sehen uns zu spät. Were Wolf schubst einen um. Iron Wolf reißt die Pappe der Kartons auf und wir schnappen uns jeder (außer Hermit, der ist zu klein) ein Buch und rennen weiter.
"Los!", befiehlt jemand. Schüsse krachen auf das Pflaster um unsere Pfoten beziehungsweise Stiefel.
Wir rennen um die nächste Ecke und bremsten erneut, denn drei Laster der Ordnungsordnung stehen uns gegenüber und starten.
"Eine Falle!", erkennt Kitsune und schießt auf die Reifen der Trucks. Die rollen aber einfach weiter auf uns zu.
Wir rennen in die letzte Richtung, die uns offensteht; eine Seitengasse - und erblicken weitere Soldaten an ihrem Ende. Hinter uns wird der Rückweg von einem Laster versperrt.
Dunkle Schatten lauern zwischen den einheitlichen Häuserwänden. Wir sind gefangen!
"Gebt die Bücher her!", verlangt ein Soldat mit einem Flammenwerfer. "Und dann begleitet uns vor unseren glorreichen Herrscher."
Ich muss das Buch fallenlassen, um sprechen zu können. "Niemals!"
Die drei anderen Wölfe knurren bestätigend.
"Dann werdet ihr eliminiert", kündigt der Soldat an. Die anderen entsichern ihre Waffen.
Da rauscht etwas über uns, das goldenes Licht ausstrahlt, und schlägt wie ein Meteor vor uns ein. Die Druckwelle wirft die Soldaten an der einen Ecke um und faucht durch unser Fell. Centaurs Mantel flattert, ebenso Thunder Wolfs Umhang. Als das Licht etwas nachlässt, sehen wir einen Grauwolf mit Narben auf dem Rücken, der von einem goldenen Licht umhüllt ist und uns aus ebenfalls goldenen Augen mustert.
"Mischief?", fragt Were Wolf. "Woher ...?"
"Das ist nicht Nivram", unterbreche ich. "Das ist Marvin! Marvin Grauwolf."
Der Autorenwolf neigt den Kopf. "Captain Marv(el), zu Euren Diensten." Er kann sogar die Klammern aussprechen. Unfassbar. "Nick Calm hat mich gerufen."
"Marvin! Das Autorenpseudonym!" Kitsune lacht. "Dich gibt es ja auch noch! Wo kommst du her?"
"Wie gesagt, Nick hat mich gerufen. Ich wurde nur etwas vom Plot aufgehalten. Aber wir haben keine Zeit zu verlieren", drängt Captain Marv(el). "Kommt."
Er rennt los und wir folgen ihm aus der Gasse. Auf dieser Seite gibt es nur einen Truck, der jedoch leer ist. Seine Besatzung liegt, von Marv(el) umgeworfen, auf dem Boden im Eingang der Gasse.
Wir umrunden den Truck, huschen durch ein paar andere Seitengassen und erreichen schließlich die einheitlichen Eigenwohnheime im Außenbezirk der Stadt. Zielstrebig führt Marv(el) uns bis auf die Wiesen vor der Stadt. Der Mond steht an Himmel. Wir werden langsamer.
"Die Bücher könnt ihr hierlassen", erklärt Marv(el) uns. "Das sind nur leere Seiten in Papp-Einbänden."
Wir schlagen die durchsabberten Bücher auf. Er hat recht.
"Das war unsere letzte Hoffnung!" Offenbar hat Gnundro den Laden als Falle für uns gestellt. "Was sollen wir jetzt tun?"
Marv(el) seufzt. "Ich weiß es auch nicht, Captain. Ich suche schon so lange nach einer Möglichkeit, Gnundro zu besiegen. Aber ohne ein Krea-Ich haben wir einfach keine Chance."
"Aber deine Kräfte funktionieren noch!"
"Weil ich der Autor bin. Ich konnte mich außerhalb der Geschichte verstecken. Ihr dagegen seid Erzähler und Figuren."
"Also hast du auch keine Lösung?", frage ich müde.
Captain Marv(el) schüttelt den Kopf. "Tut mir leid, Cap."
"Dann könnt ihr doch", erklingt eine wohlverhasste Stimme hinter uns, "einfach aufgeben."
Wir wirbeln herum.
"Gnundro!", ruft Marv(el) entsetzt aus.
"Ja", sagt der Riese im Anzug triumphierend. Er streckt die Hand nach uns aus. "Es gibt keinen Grund mehr, den Helden zu spielen. Was wollt ihr denn noch retten? Gebt auf."
Hinter Gnundro marschieren seine Soldaten auf. Sie müssen uns aus der Stadt gefolgt sein.
"Niemals!", wiederhole ich genau wie vorhin. Ich öffne den Schild, der so ziemlich alles ist, was uns geblieben ist. Hermit, Were Wolf und Thunder Wolf haben keine Kräfte mehr. Centaur keinen Bogen und Kitsune kaum noch Munition.
Trotzdem treten meine Pseudonyme kampfbereit an meine Seite. Ebenso Marv(el) und Iron Wolf, die immerhin noch ein paar Kräfte haben.
"Egal, wie, euer Widerstand endet heute", droht Gnundro. "Ihr hattet eure Chance auf ein Leben in Frieden und Ordnung, und ihr habt sie abgelehnt. Gebt auf oder sterbt."
Wir erwidern nichts. Er kennt uns ja inzwischen. Centaur hebt die Fäuste.
Ein Schlag des Aktenkoffers fegt uns über das Gras der mondbeschienenen Ebene. Ich höre meine Pseudonyme ächzten. Als wir uns wieder hochkämpfen, schlägt Gnundro erneut zu und zerstreut uns. Dann wirbelt er zwischen uns herum wie bei einer Runde Whack-a-mole. Nur, dass es eher Whack-a-marv ist. Er schlägt auf jeden von uns, der sich rührt. Erneut. Und erneut.
Kitsune kann einem Angriff ausweichen und Gnundros Arm umfassen. Sofort springt Marv(el) vor und verbeißt sich in Gnundros Füße. Aufschreiend lässt unser Erzfeind den Koffer fallen, wirbelt herum ...
"Oh nein!" Thunder Wolf ist aus dem Nichts herbei, fliegt durch die Luft und schnappt sich den Koffer, bevor Gnundro ihn wieder fangen kann. Mit flatterndem, roten Umhang jagt unser Donnerwolf los, als Gnundro die Hand ausstreckt. Der Koffer fliegt ruckartig zu ihm zurück und reißt den armen Thunder dabei so wild herum, dass ihm der eigene, nun nutzlose Hammer auf den Kopf fällt. Bewusstlos sinkt er ins Gras.
Der Koffer fegt meinen Co-Captain zur Seite und dann Kitsune. Blut schießt den beiden aus der Nase. Ein Tritt fängt mich ab, als ich Rache für meine verletzten Freunde nehmen will. Ein scharfer Schmerz fährt mir durch die Rippen, dann durch das Vorderbein, als Gnundro auf den Schild schlägt. Ich winsele schrill und sehe einen Moment Sternwölfe. Dann blinzele ich und sehe, wie Iron Wolf - und Minion mit ihm - mit heraushängenden Sprungfedern über die Erde schlittern. Die beiden wollten mir helfen, doch Irons Robo-Körper wurde schwer beschädigt. Während Gnundro uns weiter als Boxsäcke verwendet, erscheinen nach und nach seine Anzug-Zombies auf den Wiesen hinter uns, und die Luftschlangen scheinen sich ebenfalls an unserem Untergang weiden zu wollen. Sie greifen nicht mal ein. Gnundro ist alles, was es braucht, um den kläglichen Rest unseres Rudels zu vernichten.
Schließlich bleiben die anderen liegen. Ich versuche es nochmal.
"Bist du es nicht langsam leid?", fragt Gnundro fast mitleidig.
Eigentlich schon. Aber ich werde trotzdem nicht aufgeben!
Ich stemme die Pfoten in den Boden und senke die Zähne nach der Schnalle des Schilds, die sich gelockert hat. Ich will ihn festziehen, als etwas meinen Blick einfängt.
"Was soll das werden?", fragt Gnundro sanft. "Ihr habt verloren. Eure Zeitreise-Versuche werden auch niemals klappen, denn ich habe alle Fantasie verbannt. Es kann also gar nicht funktionieren." Er mustert mich. "Warum macht ihr es euch so schwer? Ich biete euch Sicherheit. Das, wofür ihr kämpft, ist schon lange verloren."
Ich ziehe den Schild fest und humpele vor Gnundro. "Nein. Ist es nicht."
Denn er hat jemanden übersehen. Wir alle haben jemanden übersehen.