Wir starren Were Wolf an. Man könnte einen Brotchip zu Boden fallen hören. Also, nicht nur, weil es so still ist, sondern weil wir alle derartig unter Schock stehen, dass niemand von uns einen Brotchip vor dem Boden auffangen würde. Wenn selbst unser Horrorwolf vor Angst schlottert, muss das etwas ganz Furchtbares sein, dieses Gnundro.
Ich räuspere mich. Niemand von den anderen sagt was, also muss ich wohl die doofe Frage übernehmen. "Was zur Sternenfinsternis ist ein Gnundro?"
"Er ist der Superbösewicht", erklärt Were Wolf. "Erinnert ihr euch an Mischiefs Angriff mit den Ordnungs-Luftschlangen? Die hat Gnundro ihm geliehen. Und das war nur ein Bruchteil seiner wahren Macht!"
"Oh." Ich sehe zu meinen Pseudonymen. Und wir haben schon den Bruchteil kaum besiegen können!
"Und jetzt ist Gnundro super mächtig und auf dem Weg hierher, und er will die ganze Welt in Ordnung bringen! Er wird die Hälfte aller Kreativität vernichten und das Chaos beenden."
Ich runzele die Stirn, als ich einen Otter zwischen den Helden herumhüpfen sehe, der garantiert keine Erlaubnis hat, hier zu sein. Und rollt da eine schüchterne, bunte Tasse durch den Hintergrund? Ich glaube, es sind jetzt echt alle von ihnen in diese Welt gesogen worden.
Ich sehe Were Wolf fest in die Augen. "Soll er doch kommen, dieser Gnundro! Wir haben die größte Truppe Chaoten hier, die man sich nur vorstellen kann. Wir werden ihm zeigen, dass man sich mit dem Chaos nicht anlegt."
Täusche ich mich, oder huscht da ein kleines, stolzes Lächeln über Nicks griesgrämiges Gesicht? Ich stehe aber auch hinter dem, was ich sagte. Ich werde mich jedem Feind stellen, der glaubt, uns hier angreifen zu können.
Meine Pseudonyme nicken grimmig.
"In diesem Fall", sagt Nick, "lasst uns mal sehen, ob wir euch noch etwas aufrüsten können."
*
Wenige Minuten später ist die Trainingshalle des Hochhauses voller umherrennender Pseudo-Helden. Iron Wolf surrt über unseren Köpfen, ihm folgt Otterman. Beide probieren die neuen Flugfunktionen und den nanobotunterstützten Kampf aus. Otterman hat außerdem so komische Seilpfeile, die verdächtig nach Spinnennetz aussehen und mit denen er uns ständig die Brotchips klaut. Ice galoppiert auf einem Laufbahn unmöglich schnell dahin und Flame nebenan stemmt mit ihrer Macht Gewichte. Die beiden Pferde haben sich zu echten Posern entwickelt. Der Golden Panter fuchtelt mit einem Set passender, goldener Krallen herum und zertrennt Eisenstäbe in immer schnellerer Geschwindigkeit. Mischief tauscht ein paar Schläge mit Kitsune aus, wobei sich die arme Fuchsmaske gegen zwanzig Mischiefs auf einmal wehren muss, und Hermit spielt in einer Ecke mit dem Taster herum, der ihn schrumpfen und wachsen lassen kann. Lyssa feuert gezielte Kreativitätsblitze auf eine bedauernswerte Zielscheibe, die auch für Centaur herhalten muss. Und zwar mich. Ich wehre ihre Angriffe panisch mit dem Schild ab, während die beiden versuchen, meine Deckung zu durchdringen. Zum Glück schießt Centaur nur mit den Gummipfeilen!
"Schneller, Cap! Gut so!", feuert mich Daydream überglücklich an. "Und jetzt das Plottwist-Manöver!"
"Das wa..." Ich mache einen schnellen Salto, als eine gewaltige Kreativitätswelle auf mich zujagt.
"Sehr gut!"
Hinter mir wird Centaur von der blauen Welle an die Wand gespült. "Ich glaube, ich habe eine Idee!", ruft er und stürzt an die Pinnwand, wo wir unsere Waffen planen und Nick um Extras anbetteln.
Ich unterbreche meine Schildübungen, als mein Blick Doktor Hyphurion streift. Der Elb sitzt im Schneidersitz an einer Wand, das offene Buch auf den Knien, und scheint zu lesen. Allerdings hat er die blinden Augen nach oben gerichtet und streicht mit seinen Fingern über die Seiten. Sein Mund steht leicht offen und ein feiner Blutgeruch steigt mir in die Nase, als ich mich nähere.
"Alles ... in Ordnung?"
Mobu blinzelt und sieht mich an. (Ja, obwohl er blind ist.) "Hyph und ich dachten uns, wir probieren mal aus, ob wir in Multiversen sehen können, Captain."
"Das geht?"
"Es geht ein bisschen. Über das Pen & Paper zuhause haben wir ja sozusagen eigene Multiversen. Und so konnten wir einen Blick in mögliche Zukünfte riskieren."
"Und?" Neugierig komme ich näher. "Wie ist es gelaufen?"
"Wir haben verloren."
Das war jetzt nicht das, was ich hören wollte. "Müssten wir nicht einmal gewinnen?"
"Im Grunde ja. Ich habe aber auch nur drei Welten überprüfen können, dann hatte ich Kopfschmerzen", gibt der Elb zu. "Die Dunkelziffer könnte also höher ausfallen."
"Das war echt nicht hilfreich", murre ich.
"Du kannst ja selbst in die Zukunft sehen, wenn du das so viel besser kannst!", schimpft Mobus Buch, ehe der Elb es wieder in Ketten legt.
"Es tut mir leid, Captain. Mehr konnte ich leider nicht tun."
"Wir werden einfach kämpfen und selbst dafür sorgen, dass wir gewinnen."
"Wir sind eben Schmiede unseres eigenen Glücks." Mobu nickt.
Besagtes Glück klopft übrigens in diesem Moment an. Allerdings ist es mein Glück, mit dem ich auch immer jede einzelne Würfelprobe verliere. Also bricht das Glück in Gestalt eines fast drei Meter hohen, in einen leicht lila Anzug (Marke grässlich erfolgreicher Investmentbanker) gekleideten Mannes durch die Wand der Trainingshalle. Schutt rollt über den Boden und eine Staubwolke lässt uns husten, bevor wir den Fremden erschrocken anstarren können.
"Ihr seid also diese Helden", murmelt der Anzugträger und lässt den Blick über uns gleiten. "Fürchtet euch nicht, Kinder. Ich werde dieses schreckliche Chaos beenden."
"Gnundro!", schreit Were Wolf. "Flieht!"
Das muss er uns nicht zweimal sagen. Wir zerstreuen uns in alle Richtungen, während Gnundro mit einem großen Aktenkoffer ausholt. Das silberne Ding trifft nur die Wand, verwandelt diese aber sofort in einen Stapel Papier. Ordentlich beschriftetes Papier.
Oh nein! Er kann die Elemente unserer Welt in das zurückverwandeln, was sie eigentlich nur sind: Geschriebene Wörter.
Ein Haufen Wölfe und der Rest der Pseudonyme wimmeln durch den Schutt. Laserstrahlen treffen den Anzugträger, können ihn aber nicht einmal zurückdrängen. Stattdessen schnappt Gnundro sich Otterman aus der Luft.
"Lass mich los!" Der kleine Otter zappelt und beißt. Gnundro zuckt nicht einmal. Dann jagt Iron Wolf von der Decke herab und zerrt Otterman schnell aus den Fängen unseres Feindes, bevor auch Xenon in Papier verwandelt wird.
Allerdings wird uns klar, dass Gnundro uns den Ausgang versperrt. Mit finsterem Blick mustert er uns. "Ihr verblendeten Kinder - die Ordnung wird euch gefallen. Hört auf, euch zu wehren. Hm ... wer ist euer Anführer?"
"Hey! Hier drüben!", ruft ein Wolf mit Lederrüstung und Schild und wühlt sich aus der Menge. "Wird auch Zeit, dass du dir einen Gegner in deiner Größe suchst!"
Der Captain Chaos ist allerdings nicht ich.
"Mischief! Nein!", schreie ich, als mein Doppelgänger sich vor Gnundro aufbaut.
Mit schweren Schritten marschiert der Riese auf Vram zu und packt ihn. Nivram beißt feste in die Hand. Gnundro lacht.
"Dachtest du wirklich, ihr könntet mir Widerstand leisten? Ich habe eine Armee."
"Na, und? Wir haben einen Werwolf!", triumphiert Mischief und grinst zahnlastig, während sich Were Wolf in Gnundros Fuß verbeißt.
Gnundro allerdings schüttelt den grünen Wolf mit einem lässigen Tritt ab.
"Wenn ich eure kreative Quelle auslösche, seid ihr machtlos", erklärt er uns und ... schließt die Faust mit einem Ruck um Nivram!
"Nein!", brülle ich auf. "Vraaam!"
Gnundro öffnet die große Faust und mein Doppelgänger fällt leblos zur Erde. Die Illusion von Schild und Lederrüstung verschwindet.
Gnundro dreht sich schwerfällig um und breitet die Arme aus, ein Lächeln auf den Lippen. "Schließt euch mir an ... oder ... sterbt!"
Ein goldener Ring erscheint unter meinen Pfoten und im nächsten Moment stürze ich, wie auch meine anderen Pseudonyme, in die Tiefe.
Nur Nivram bleibt zurück. Vrammi. Der sich geopfert hat, um Doktor Hyphurion die nötige Zeit zu verschaffen, uns alle zu retten.
Stolpernd lande ich auf einem grünen, hügeligen Feld, zwischen meinen Freunden.
"Nivram", murmele ich wie betäubt.
"Rüstet euch!", donnert Doktor Hyphurion mit machtvoller Stimme. "Gnundro wird bald hier sein."