23. Kapitel
Die kommenden Tage, war Nathalie kaum noch bei der Sache. Sie musste immer und immer wieder an ihre Erlebnisse mit Vater Krähe denken und daran, dass sie, einmal mehr, klar bestätigt bekommen hatte, dass sie wirklich eine der Allessehenden war, die vor Urzeiten noch mit den Tieren in Eintracht gelebt hatten. Auch das was sie über die Beziehung zwischen sich und Jonathan innegeworden war, liess ihr keine Ruhe. Jede Minute wartete sie deshalb auf einen Anruf des jungen Indianers. Denn nun hatte dieser, die wundervollen Neuigkeiten von Wandernder Bär, bestimmt erfahren. Die Zeit verging nur schleppend und der jungen Frau machte es, je länger je mehr, zu schaffen, dass Jonathan sich noch immer nicht bei ihr gemeldet hatte. Vielleicht liebte er sie ja doch nicht mehr? Vielleicht war er sogar froh sie endlich loszuhaben? Diese und ähnliche Gedanken, gingen ihn nun immer mehr durch den Kopf. Doch dann tadelte sie sich selbst wieder. Nein Jonathan liebte sie bestimmt noch! Auch ihr Mentor William hatte ihr doch bestätigt, dass sein Sohn nicht mehr derselbe war, seit er Nathalie verlassen hatte. Dennoch… warum rief er sie bloss nicht an? Einige Male war die junge Frau drauf und dran, ihn von sich aus nochmals zu kontaktieren, doch dann liess sie es doch bleiben, denn eigentlich lag es nun bei Jonathan, sich bei ihr zu melden.
Fast eine halbe Woche ging ins Land und die Arbeit fiel Nathalie immer schwerer. Sie fühlte sich schon längst nicht mehr so wirklich erfüllt, von ihrer Arbeit im Museum. Früher war sie fasziniert von all den Artefakten gewesen, die hier von den Ureinwohnern Amerikas ausgestellt waren. Sie waren damals ein Bindeglied zu einer Welt gewesen, nach der die junge Frau sich schon seit jeher sehnte. Doch seit sie selbst unter den Indianern gelebt hatte, hatte sich das irgendwie verändert. Denn auch die schönsten Artefakte, konnten die Leere in Nathalies Herz nicht ausfüllen. Auch konnten sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass, jenseits des weiten Meeres, eigentlich viel wichtigere Aufgaben auf sie warteten. Z.B. im Pine Ridge Reservat. Sally, die vor kurzem, auf so schreckliche Weise beide Elternteile verloren hatte, brauchte nun mehr denn je, ihre Unterstützung. Und auch sonst, war alles was sie am meisten liebte in South Dakota. Allem voran Jonathan, auch wenn er sie vielleicht nicht mehr liebte. Auch ihr Mentor Wandernder Bär war dort, ihre geliebte Urgrossmutter und all die mythischen, vom Geist ihrer Ahnen, durchdrungenen Landschaften.
Die kleine Schweiz, in der sie lebte, erschien ihr auf einmal so beengt und irgendwie… dekadent. Die Leute hier lebten in Saus und Braus, während im Indianerreservat schreckliches Elend herrschte. Klar, ihre anderen Verwandten waren auch noch hier, doch… trotzdem zog sie ein unbändiger Drang, zurück nach South Dakota. Die Menschen dort, das begriff sie mehr und mehr, waren ihre eigentliche Familie, die Familie ihres Herzens und manchmal hatte sie deswegen auch ein schlechtes Gewissen, ihrer hier lebenden Familie gegenüber. Nun… vorläufig würde sie sowieso noch hierbleiben und all ihre Angelegenheiten regeln müssen, bevor sie dann für längere Zeit nach Amerika auswanderte. Sie musste sich dort ja auch eine Bleibe suchen und Geld verdienen, musste sie irgendwann auch wieder. Eine Arbeitsbewilligung in den USA zu erhalten, war jedoch gar nicht so einfach.
Noch ganz in düsteren Gedanken versunkend, machte Nathalie am Mittwochabend, ihren üblichen, letzten Rundgang durch das Museum und löschte alle Lichter. Dann warf sie sich ihre Jacke über, packte ihre Handtasche und verliess das bald 100- jährige Museumsgebäude, durch dessen grosses, altehrwürdige Eingangs- Portal, das von hohen Säulenreihen flankiert wurde. Die Tage waren nun schon wieder bedeutend länger geworden, denn es war bereits mitten im Mai. Ein milder Föhnwind blies und Nathalie zog ihre Jacke wieder aus, da es erstaunlich warm war. Vor ihr lag der gepflegte Stadtpark von St. Gallen mit seinen teils uralten Bäumen und den, zurzeit blühenden Löwenzahnwiesen.
Nun begann wieder die schönste Jahreszeit, jene Jahreszeit, in der alles wieder zu blühen und zu gedeihen begann. Nur Nathalies Herz fühlte sich noch immer wie ein verdorrte, unwirtliche Wüste an. Sie griff in ihre Tasche, worin sich ein kleines Fläschchen der Medizin ihrer Urgrossmutter Mondblume befand, zog es hervor und nahm einen Schluck, um ihr Gemüt wieder etwas zu beruhigen. Seufzend setzte sie sich dann auf eine Bank, unter einem der uralten Bäume und schaute hinauf in dessen Blätterkrone. Das Laub war von einem frischen, jungen Hellgrün und raschelte leise. Dahinter waberte der, von einigen Cumulus- Wolken überzogene, Abendhimmel.
Wieder ergriff tiefe Sehnsucht und Kummer die junge Frau, als… auf einmal neben ihr eine wohlklingende Stimme fragte: „Ist hier… noch ein Platz frei?“ Nathalie glaubte sich verhört zu haben und fuhr aus ihren düsteren Träumereien hoch. Sogleich schaute sie in ein Paar sanfte, rehbraune Augen, welche ihr aus einem von dunklen, mit langen Haaren umrahmten Gesicht, entgegenblickten. Ein Zittern durchlief ihren Körper.
„Jonathan!“ schrie sie „Jonathan, du bist… hier!“ Sie sprang auf und fiel dem jungen Mann, ohne lange nachzudenken, um den Hals. „Du… bist hier! Aber… ist das womöglich ein Traum?!“
„Nein, das ist kein Traum,“ sprach der junge Mann und seine Stimme war erfüllt von unendlicher Zärtlichkeit. „Ich bin es wirklich. Als mein Vater mir erzählte, was dir Vater Krähe über uns offenbart hat, hielt mich nichts mehr in South Dakota. Ich nahm der nächsten Flug und nun… bin ich endlich wieder bei dir! Kannst… du mir meine Dummheit vergeben?“
„Aber natürlich!“ Nathalies Augen füllten sich mit Tränen der Freude und der Rührung und sie küsste Jonathan immer und immer wieder.
Der junge Indianer hielt sie eng umschlungen und auch seine Augen füllten sich nun mit Tränen. „Ich… hätte mich niemals von dir trennen dürfen,“ sprach er mit erstickter Stimme. „Ich… liebe dich doch, mehr als mein… Leben!“
„Ich dich auch. Ich habe niemals aufgehört dich zu lieben. Aber… das du hergekommen bist... Ich kann es noch immer nicht recht fassen! Nun wird alles wieder gut. Denn jetzt sind wir endlich wieder zusammen und wir werden uns nie wieder trennen!"