Bei dem Vergleich, den sein Lehrmeister da anstellte, musste Marc nun doch, wenn auch ungewollt, etwas grinsen. Gleich darauf wurde er jedoch erneut nachdenklich. Hatte Frank mit dieser Einschätzung vielleicht recht? Er überlegte angestrengt. War er wirklich so verbissen, wie ein… Kettenhund? Nun ja… bezüglich Nathalie mochte das stimmen. Er konnte es wirklich nur sehr schwer akzeptieren, dass sie für ihn nun so unerreichbar war und er hoffte noch immer, dass sie sich nochmals umentschied und erkannte, dass sie eigentlich zu ihm gehörte.
„Aber ist das auch wirklich so?“ meldete sich wieder diese andere lästige Stimme, in seinem Innersten, zu Wort. Er spürte auf einmal leise Unsicherheit, doch sein Sturkopf verdrängte diese sogleich wieder und er meinte leicht säuerlich: „Der Vergleich mit einem Kettenhund ist nicht gerade schmeichelhaft.“
Erneut spiegelte sich Ärger auf Snakemans Gesicht. „Ich bin auch nicht da, um dir zu schmeicheln. Ich bin da, um dir bei deiner Entwicklung zu helfen. Aber wenn du darauf keinen Wert mehr legst, dann werden sich hier unsere Wege wohl trennen.“
Nun erschrak Marc doch ziemlich und er erwiderte: „Du… willst nicht mehr mein Lehrmeister sein?“
Frank seufzte. „Ich weiss es wirklich nicht. Ich habe das Gefühl, dass all meine Worte, all meine Lehren, an dir vorbeigehen. Du hörst mir einfach nicht richtig zu, so wie du auch deinen Totemtieren nicht richtig zuhörst und du bist immer noch viel zu stolz, um endlich von deinem hohen Ross herunterzukommen.“
„Von meinem hohen Ross?“ gab der jüngere Mann erneut ärgerlich zurück.
„Ja. Du glaubst alles schon zu wissen, jegliche Wahrheit zu kennen, aber du drehst dich immer nur im Kreis. Du öffnest dich überhaupt nicht für neue Perspektiven! Was also soll ich hier noch?“
Der ältere Indianer sagte diese Worte mit so einer Resignation in der Stimme, dass Marc auf einmal sehr erschüttert war. Eigentlich erstaunte ihn das selbst. Denn war er nicht gerade drauf und dran gewesen, die Ausbildung bei Frank, von sich aus, abzubrechen?
Da ihm gerade die richtigen Worte fehlten, deutete sein Lehrmeister sein Schweigen als stille Zustimmung. Traurig drehte er sich deshalb um und sprach: „Vielleicht ist ja einfach noch nicht die Zeit für dich, dem Pfad des Animalriders zu folgen. Wer weiss…, vielleicht wird es ja in einem nächsten Leben klappen. Danke für die Verpflegung und die Getränke.“
Er wollte gerade zur Tür hinaus, als Marc ihn jedoch mit lauten Rufen zurückhielt.
„Nein warte, Ate! Es tut mir leid! Ich will diesen Pfad gehen. Bitte bilde mich weiter aus! Ich werde mir ab jetzt mehr Mühe geben!“ Diese Worte hatte der jüngere Mann einfach so dahingesagt, ohne näher darüber nachzudenken, denn der Gedanke, dass Snakeman so plötzlich aus seinem Leben verschwinden wollte, behagte ihm ganz und gar nicht. Der Indianer hielt nochmals inne und wandte sich Marc wieder zu. In seiner Miene glaubte der junge Mann, eine gewisse Erleichterung zu erkennen. Doch sogleich wurde der Ausdruck von Frank wieder streng. „Dann wirst du also in Zukunft mehr auf mich hören und nicht immer gleich in deinem Stolz verletzt sein, wenn ich dich tadle?“ fragte er.
„Jaja, ich gebe mein Bestes.“
„Das reicht mir nicht. Ich muss wirklich sicher sein, dass dir diese Sache auch wichtig genug ist. Dass du deinen Stolz zu überwinden und deine festgefahrenen Glaubenssätze immer mehr loszulassen vermagst. Wie gesagt: Ein Animalrider zu sein, ist eine sehr wichtige, mystische Aufgabe. Eine Aufgabe die nur wenige der modernen Menschen wirklich zu erfüllen vermögen. In dir schlummert grosses Potenzial, das weiss ich. Nutze es in Zukunft besser und… vergiss dieses… Mädchen Nathalie, schnellstmöglich. Sie geht nun ihren eigenen Weg und du den deinen. Dies ist im Sinne des Grossen Geheimnisses und des Grossen Geistes.“
„Okay,“ gab Marc ergeben zur Antwort. „Ich werde es mir zu Herzen nehmen!“ „Also gut,“ Snakeman wirkte zufrieden. „Dann werde ich dich gleich auf eine meiner vielen Reisen mitnehmen. Ich werde nächstes Wochenende, noch hier in der Schweiz, eine Schwitzhütten Zeremonie abhalten. Ein Mitglied des Vereins, der uns auch hierher eingeladen hat, um das Festival zu veranstalten, hat mich darum gebeten und ich glaube… dass dieses Land von guten Geistern bewohnt wird. Besonders an jenem Ort, an dem das Ritual stattfinden soll, ist ihre Präsenz noch stark.“
„Wo findet das Ritual denn statt?“ wollte Marc neugierig wissen. „An einem Ort im Kanton Graubünden, in einer sehr schönen Gegend. Es gibt eine Berg und sogar einen Gletscher dort ihn der Nähe. Der Berg heisst Piz Vadret. Eine wilde, unberührte Gegend. Zu jener Schwitzhüttenzeremonie möchte ich dich gerne einladen. Du wirst dabei mein Assistent sein, beim Bau der Hüte helfen, dich um das Feuer und die heissen Steine kümmern etc.“
„Was! Ich soll der Feuermann sein?“ fragte Marc und er spürte bereits wieder, wie sich Widerstand in ihm regte. Doch dann rief er sich seine Versprechen in Erinnerung und erwiderte: „Also gut. Ich habe das zwar noch nie gemacht, aber ich denke, das werde ich hinkriegen.“
„Ich werde dir alles genauestens erklären, nur keine Sorge.“ meinte Frank zufrieden. „Ich hoffe, du kannst kommen.“ „Ja, das sollte gehen, auch wenn… es etwas kurzfristig ist,“ erwiderte Marc. Frank nickte und meinte: „Also gut. Die nötigen Details, werde ich dir dann in Kürze noch bekanntgeben. So und jetzt muss ich weiter, denn ich habe noch ein paar Dinge zu tun. Bis bald!
Ehe Marc noch etwas einwenden konnte, ging der Indianer davon, ohne sich noch einmal umzublicken und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
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Frank hatte ein ganz besonderes Ziel. Ihm war nicht entgangen, dass Marc am Festival diese blonde Mädchen kennengelernt hatte. Sogleich hatte er das grosse Geheimnis nach ihr befragt und tatsächlich hatte ein Grünspecht ihn dann auf dem Weg zum Hotel aufgesucht und ihm offenbart, dass dieses Mädchen einstmals, vor ewigen Zeiten, eine der Specht- Leute gewesen war. Diese Enthüllung traf den Schamanen ziemlich unvorbereitet und er beschloss mit dieser Vanessa in Verbindung zu treten, um ihr Potenzial besser einschätzen zu können. Irgendein Gefühl sagte ihm, dass sie Marc vielleicht guttun würde und wenn auch sie das Erbe der Animalrider, sogar das eines Vogelvolkes, zu denen auch Marc einst gehört hatte, in sich trug, vielleicht würde alles dann doch noch eine glückliche Wendung nehmen.
Ziemlich schnell hatte er Vanessas Wohnort ausfindig gemacht. Sie lebte nicht weit von Rheineck entfernt, und zwar in Walzenhausen, das im Kanton Appenzell lag. Der Weg dorthin dauerte mit dem Auto nur etwa 8 Minuten und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln sogar nur 5 Minuten. Frank entschied sich, sich in einen Specht zu verwandeln und zusammen mit dem besagten Grünspecht die kurze Strecke zurückzulegen.
Sein Begleiter führte ihn dann zielsicher zum Haus von Vanessa, denn er kannte sie bereits gut und hatte sie schon länger beobachtet. Vanessa war noch Studentin und lebte daher noch bei ihren Eltern und zwar in einer ziemlich ländlichen Umgebung, die durchzogen war mit Wäldern und weiten Wiesen.
Frank drehte einige Kreise um das Haus herum und tatsächlich fand er dort ein offenes Fenster vor. Er verwandelte sich in eine kleine Maus und schlüpfte durch das Fenster hinein. Vom Grünspecht hatte er erfahren, dass er eben selbiger gewesen war, der Marc einstmals die Baumhöhle gezeigt hatte. Dort war dem jungen Mann dann sogar das Gesicht von Vanessas altem Ich erschienen und tatsächlich… es handelte sich bei ihr um jene junge Frau, welche einstmals die boshaften Schlange, welche Marcs altes Ich getötet hatten, ihrer gerechten Strafe zuführte. Eine gute Voraussetzung für eine ganz neue Perspektive, für die Marc sich hoffentlich bald öffnen konnte…