Vanessa war hin und hergerissen. Sie wusste einfach nicht so recht, ob sie diesem Snakeman trauen konnte, oder ob dieser doch nur irgendein Scharlatan war, der sie abzocken oder betrügen wollte. Die Art und Weise wie er jedoch nach seinem Besuch verschwunden war, gab ihr sehr zu denken. Wie auch immer, das konnte auch nur ein Trick gewesen sein. Warum jedoch, hatte er sie dann auf diese Weise aufgesucht, ausgerechnet sie? Sie konnte sich einfach keinen rechten Reim darauf machen. Trotz ihrer vielen Zweifel, liess sie die ganze Geschichte einfach nicht los. Was nur hatte dieser Indianer damit gemeint, als er sagte, dass sie etwas Besonderes sei und vor endlos langer Zeit, die besondere Gabe der Gestaltwandlung besessen hatte?
Mit einem ratlosen Seufzer erhob sie sich von ihrer Arbeit am PC und ging nachdenklich in ihrem Zimmer auf und ab. Dabei fiel ihr Blick auf den Zettel, den ihr Snakeman gegeben hatte und worauf sich alle Daten befanden, die sie für das Schwitzhüttenritual in den Bergen von Graubünden brauchte. Sie las alles nochmals durch. Es war bereits wieder Freitagabend und sie hatte sich noch immer nicht bei Snakeman gemeldet. Vanessa konnte sich auch beim besten Willen nicht vorstellen, wie er es gemeint hatte, als er ihr sagte, sie müsse nur nach draussen gehen und nach ihm rufen, dann komme er. Wie aber um alles in der Welt, sollte so etwas zugehen? Die junge Frau war schlichtweg zu kopflastig, um so etwas wirklich ernst zu nehmen. Und trotzdem… Am Ende fasste sie einen denkwürdigen Entschluss. Sie ging zu ihrem Schrank, holte einen Rucksack hervor in den sie einige Kleider und Toilettenartikel packte.
Morgen, ganz früh, würde sie einen Ausflug ins Bündnerland unternehmen und… dort, ganz zufällig, bei dem Schwitzhüttenritual auftauchen. Sofern es dieses auch wirklich geben sollte. Mit dieser Herangehensweise würde sie gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Sie würde herausfinden, ob Snakeman nun ein Scharlatan war oder nicht und zugleich würde sie sich von ihm nicht zu abhängig machen.
So informierte sie, noch am selben Abende, ihre Eltern, dass sie mal einen etwas weiteren Ausflug machen wolle. Da sie bereits alt genug war, hatten diese nichts dagegen einzuwenden.
So sass Vanessa, schon früh am nächsten Tag, in einem Zug, der sie zuerst nach Chur brachte, von wo aus sie dann ein Postauto zu einer abgelegenen Station in einem Bergtal nehmen musste. Dort in der Nähe, am Fusse des Berges Piz Vadret im Grialetschgebiet, befand sich schliesslich der besagte Ritualplatz.
Die Fahrt dorthin war sehr schön und dauerte ungefähr dreieinhalb Stunden. Am Ende musste Vanessa dann noch ungefähr eine halbe Stunde zu Fuss gehen, bis sie an ihrem Ziel ankam. Sie schaute sich beeindruckt um. Das Wetter war heute perfekt und das goldene Morgenlicht fiel auf die, sie umgebenden Gebirgszüge. Überall lagen Geröll und Steine herum und das saftige Grün der Wiesen leuchtete dazwischen als frische Flecken. Die Landschaft hier war wirklich noch wild und unberührt und es begegneten ihr kaum andere Menschen. Sie folgte eine Weile einem Bachlauf und kam ab und zu an kleinen, klaren Bergseen vorbei. Dann endlich hatte sie den Ritualplatz erreicht und tatsächlich, dort herrschte schon reger Betrieb. Snakeman hatte also die Wahrheit gesagt!
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Auch Marc war sehr beeindruckt von der wilden Landschaft, in welcher das Ritual stattfinden sollte, und irgendwie fühlte er sich wieder in jene Zeit zurückversetzt, als er in den Badlands so lange allein zugebracht hatte. Auch an sein erstes, eindrückliches Schwitzhüttenritual, dachte er zurück.
Jener Mann, welcher die grösseren Teile, die sie für die Schwitzhütte brauchten, mit seinem Wagen hierhertransportiert hatte, nannte sich Christoph und war sehr nett. Sogleich begannen sie zusammen die Hütte aus Weidenruten und Decken aufzubauen. Daneben richteten sie eine Feuerstelle ein, in welchem dann die heissen Steine erhitzt werden würden.
Frank rührte diesmal jedoch keinen Finger und überliess den grössten Teil der Arbeit seinem Schüler, während er es sich auf einem der stattlicheren Felsblöcke gemütlich machte und genüsslich sein fein duftendes Pfeifchen rauchte.
Marc der nun auch noch, dem eher unerfahrenen Christoph, Anweisungen beim Bau der Hütte geben musste, ärgerte sich irgendwie, dass ihn Frank so im Stich liess und nur ab und zu, dazu noch in ziemlich zackigem Tonfall, einige Befehle rief.
Immer wieder kritisierte er Marc, meinte dass er dort ein Seil mehr anziehen und dort eine Decke besser befestigen solle. Danach wies er ihn an, nur mit Feuerstein und Feuereisen, ein Feuer zu entzünden. Zum Glück kannte sich Marc schon etwas mit dieser Art er Feuermachens aus und schon kurz darauf brannte ein munteres Feuerchen, welches leise knackte und goldene Funken sprühte.
Mit der Zeit trafen nun immer mehr Leute ein, die an dem Ritual teilnehmen wollten. Gesamthaft waren es drei Frauen und fünf Männer, aus den unterschiedlichsten Gegenden der Schweiz. Diese gingen Marc nun ebenfalls zur Hand. Sie suchten einige geeignete Steine in der Umgebung zusammen und stellten je ein Säcklein mit Kräutern darin her, in welches sie dann alle einen besonderen Wunsch einwoben.
„Du musst dich gut ums Feuer kümmern!“ wies Weise Schlange Marc an. „Siehst du, es geht schon fast wieder aus. Dort drüben hat es noch mehr Holz.“
Dann wandte er sich an die anderen Teilnehmer und sprach auf Englisch zu ihnen, während er auf Marc wies: „Marc hier, wird unser sogenannter Feuermann sein. Er wärmt die heissen Steine, die wir für die Hütte brauchen auf und bringt sie dann hinein.“
Er unterbrach sich prompt, denn auf einmal tauchte noch eine weitere Frau auf dem Ritualplatz auf. Marc zuckte zusammen. Es war Vanessa! Aber wie um alles in der Welt...?
Etwas scheu trat die blonde Frau näher und fragte: „Ich hoffe ich bin nicht zu spät. Ich habe den Weg hierher wohl etwas unterschätzt. Darf ich trotzdem noch an dem Ritual teilnehmen?“
Frank drehte sich überrascht zu ihr um und rief erfreut: „Hej hallo Vanessa! Schön bist du doch noch gekommen. Natürlich kannst du ebenfalls teilnehmen! Du musst dir einfach noch einen Kräuterbeutel machen, dann kann es auch schon losgehen!“
Marc musterte die blonde Frau und seinen Lehrmeister einen Moment lang ziemlich entgeistert. Was um alles in der Welt, wurde da bloss für ein Spiel mit ihm getrieben?!