27. Kapitel
Als sich Marc auf den Rückweg in sein Hotel machte, bewegten ihn die unterschiedlichsten Gefühle. Während des Festivals, war ihm einmal mehr bewusst geworden, wie unerreichbar Nathalie für ihn geworden war. Jonathan hatte ihr wohl, in jeglicher Hinsicht, mehr zu bieten als er. Wieder nagte der Neid an ihm, wenn er an die Tanzkünste des jungen Indianers dachte und die Begeisterung, welche dieser und die anderen Statisten, bei den Zuschauern ausgelöst hatten.
Der einzige Lichtblick, an diesem Tag, war noch das Mädchen Vanessa gewesen, das er kennengelernt hatte. Sie hatte es geschafft, Marcs trübe Gedanken wenigstens für einige Zeit zu vertreiben, doch nun da er wieder allein war, verlor er sich erneut in seinem Selbstmittleid.
Er betrat sein Hotelzimmer, warf seine Schuhe und seine Jacke von sich und liess sich dann laut seufzend und lustlos in einen der herumstehenden Sessel fallen. Gegessen hatte er am Festival bereits genug und so beschloss er noch ein wenig den Fernseher einzuschalten. Als es auf einmal an seine Tür klopfte! Marc blickte mit gerunzelter Stirn auf seine Uhr. Es war bereits nach 21 Uhr. Wer nur kam so spät noch auf Besuch? Etwas ärgerlich ging er zur Tür und rief. „Wer ist da?“
„Ich bin‘s, Snakeman!“ war die Antwort. Oh nein, Snakeman! Gerade ihn wollte der junge Mann in seinem momentanen Zustand nun wirklich nicht sehen. Irgendwie ärgerte er sich über seinen Lehrmeister, weil dieser ihn ständig kritisierte und Nathalies Fortschritte gleichzeitig in den Himmel lobte. Doch nun hatte Marc sich schon bemerkbar gemacht und es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Tür zu öffnen.
Frank wirkte erhitzt, denn auch er hatte einige Male bei den Tänzen mitgemacht, wenn auch nicht so oft wie die jüngeren Männer… Wieder dachte Marc an Jonathan und sein Ausdruck verfinsterte sich.
„Du scheinst dich ja nicht gerade zu freuen, mich zu sehen,“ meinte der ältere Indianer nüchtern. „Nein,…äh doch,“ stammelte Marc „das hat nichts mit dir zu tun. Ich bin nur gerade nicht sonderlich gut drauf.“
„Wann bist du das schon mal,“ erwiderte sein Lehrmeister trocken, während er eintrat. Ärger stieg in Marc auf und er meinte: „Wenn du sowieso so wenig von mir hältst, warum besuchst du mich dann überhaupt noch?“
„Weil ich mich nach wie vor für dich verantwortlich fühle… Gibt es eigentlich irgendetwas zu essen hier?“ Frank ging zur Minibar des Hotelzimmers. Daneben befand sich ein kleiner Schrank mit einigen Snacks wie Nüssen, Chips, Schokolade usw. darin. Frank nahm von allem etwas heraus und dazu noch ein Bier aus der Bar.
„Hej!“ rief Marc. „Die Dinge in den Hotelbars, sind immer viel zu teuer. Wir könnten ja auch etwas essen gehen, wenn du Hunger hast.“
„Ach was! Ich wollte in Ruhe mit dir sprechen! In einem Restaurant geht das nicht. Ausserdem sind die Restaurants in der Schweiz ebenfalls viel zu teuer. Wie alles hier. Wie ihr nur mit solchen Preisen leben könnt. Für Leute wie mich, unvorstellbar. Ihr wisst gar nicht, in welchem Luxus ihr lebt.“ „Doch, ich weiss das schon. Ich war auch schon mal in Pine Ridge, sofern du dich noch erinnern kannst, und ich habe die Armut dort gesehen.“
„Nun gut, das mag stimmen. Allerdings hast du noch nie länger in der Reservation gelebt.“
„Das stimmt. Allerdings hatte ich vor bald wiederzukommen und euch zu unterstützen. Nur weiss ich manchmal nicht, ob das wirklich noch Sinn macht. Irgendwie bin ich gar nicht mehr so sicher, ob ich meine Ausbildung überhaupt noch weiterführen will. Denn was nützt es mir, ein Animalrider zu sein? Viel verändert sich dadurch in meinem Leben ja nicht, im Gegenteil.“
Bei diesen Worten schaute ihn Snakeman mit ernster, betrübter Miene an. „Und dieses Denken ist eben dein Problem…“ seufzte er, während er einige gesalzene Nüsse in seinen Mund schob. „Animalrider zu sein, ist ein innerer Weg, ein mystischer Weg. Ein Weg, der dich mit allen Lebewesen enger in Verbindung bringen soll. Es bedeutet Erinnerung, Erinnerung an Zeiten, die längst vergangen sind. In dir lebt diese Erinnerung fort. Du wärst zu Unglaublichem fähig, wenn du dich nicht immer an so vielen oberflächlichen Kleinigkeiten aufhalten würdest. Wenn du endlich erkennen würdest, auf was es wirklich ankommt. Hast du denn vergessen, was dir alles schon widerfahren ist? Hast du vergessen, was die grosse Regenbogenschlange dir einst, nachdem du beinahe an einem Schlangenbiss gestorben bist, offenbarte?“
Marc wurde nachdenklich, als er an jenes besondere Erlebnis zurückdachte. Damals war ihm alles so klar erschienen und er hatte so vielen unnötigen Ballast abwerfen können. Nun jedoch schien all das in weite Ferne gerückt und er wusste nicht einmal mehr sicher, ob er all das wirklich erlebt oder er einfach besonders lebhaft halluziniert hatte. Jedenfalls kam es ihm gerade so vor, als wäre alles beim Alten geblieben. Der Verlust von Nathalie machte das Ganze nur noch viel schwieriger, denn er hatte doch damals auch in die Vergangenheit geblickt und da war sie noch sein gewesen. Nun jedoch… ach, all das war doch sowieso vergebens!
Tiefe Schwermut ergriff ihn einmal mehr und er verlor seine ganze Lebensfreude. Er seufzte tief und holte sich nun ebenfalls ein Bier aus der Minibar. Leider waren die stärkeren Sachen viel zu teuer.
„Ich mache wir ehrlich gesagt etwas Sorgen um dich,“ meinte schliesslich Snakeman wieder, als sie einander kurz zugeprostet hatten. „Ich spüre, dass es dir nicht gut geht. Doch glaube mir, alles ist nur halb so trostlos, wie du gerade glaubst. Du bist auf einem guten Weg und wenn du deinen Fokus nur etwas anders zu lenken vermagst, wird dir das auch selbst bewusst werden. Ich glaube an dich!“
Diese Worte hatte Frank so liebevoll gesagt, dass Marc aufhorchte. Es schien wirklich so, als würde er seinem Lehrmeister doch mehr am Herzen liegen, als es teilweise den Anschein machte. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als Frank weiterfuhr: „Ich weiss, manchmal ist es nicht leicht mit mir als Lehrmeister. Ich bin oftmals hart und unnachgiebig, wie ein in der Sonne bleich gewordener Knochen. Aber ich möchte einfach, dass du aus der Opferrolle heraus und in deine Kraft kommst Cinksi (Sohn). Denn es schlummert sehr viel Kraft und ein inneres Feuer in dir. Leider lässt du viel zu oft zu, dass dieses Feuer dich verzehrt, anstatt dass du es zu deinem Nutzen lenkst und formst. Du hast als Schlangengeborener die Gabe, dich auf ein Ziel zu fokussieren und dieses mit einer Leidenschaft zu verfolgen, welche vielen anderen Menschen nicht, auf solche Weise, gegeben ist. Das ist deine grosse Gabe, aber zugleich auch deine grösste Schwäche, weil du dich manchmal zu sehr auf etwas fixierst, das du lieber loslassen solltest. Hast du dich erst einmal in etwas festgebissen, willst du es nicht mehr loslassen. Wie ein Kettenhund der, nach langem Hungern, endlich ein Kaninchen erbeuten kann und dieses dann mit fletschenden Zähnen und spitzen Klauen, gegen alle möglichen Konkurrenten verteidigt. Dabei aber übersieht er das Reh, dass ganz nahe an seiner Schnauze vorbeizieht und lässt sich damit einen noch besseren, grösseren Happen entgehen. Jetzt mal… bildlich gesprochen.“