Frank fand sich wieder in der Küche des Hauses. Da es schon ziemlich spät war, war es hier und auch im Flur bereits dunkel. Nur im Wohnzimmer flackerte noch das bläuliche Licht eines Fernsehers. Vanessa befand sich jedoch nicht dort und so huschte Snakeman, weiterhin als kleine Maus getarnt, in den oberen Stock, wo er vorhin bei seinem Anflug, ebenfalls einen schwachen Lichtschein wahrgenommen hatte.
Die Tür von Vanessas Zimmer, stand zum Glück einen Spalt weit offen. Frank zögerte einen kurzen Augenblick, dann huschte er hinein und traf dort die blonde Frau an, welche vor dem Computer sass und irgendetwas für eine Projektarbeit recherchierte.
Er verwandelte sich in seine Menschengestalt zurück und hoffte, dass sie nicht gleich das ganze Haus zusammenschreien würde, wenn er sich ihr vorstellte.
„Guten Abend,“ sprach er „bitte nicht erschrecken! Ich habe eine wichtige Botschaft für dich!“
Vanessa fuhr herum und starrte den alten Indianer, zu Tode erschrocken, an. „Wer… sind sie?“ stiess sie hervor. „wie sind sie hier hereingekommen?“
„Das ist eine etwas komplexe Geschichte,“ erwiderte der Schamane ausweichend. „Doch glaube mir, dass ich dir keinesfalls Leid zufügen will. Im Gegenteil. Ich glaube, dass du etwas ganz Besonderes bist und ich bin hier, um dir eine Botschaft zu übermitteln.“
Vanessa schien ihm jedoch nicht zu glauben.
„Sie sind ja verrückt!“ rief sie. „Gehen sie sofort wieder oder ich schreie das ganze Haus zusammen!“
„Bitte nicht!“ sprach der Medizinmann mit einer plötzlichen Eindringlichkeit, die Vanessa verstummen liess. Grosse Meister wie Snakeman und auch Wandernder Bär, besassen die Gabe, allein durch ihre Präsenz und grosse, innere Weisheit, das Vertrauen und die Ehrfurcht anderer Menschen zu erwecken. Manchmal setzten sie diese Gabe auch ganz bewusst ein. Es war beinahe wie ein Zauber, der sich nun auch über Vanessa legte, denn die junge Frau entspannte sich zusehends.
„Aber… woher kommen sie?“ fragte sie.
„Ich bin ein Medizinmann und Schamane der Lakota Sioux und lebe normalerweise in der Pine Ridge Reservation. Doch gerade bin ich hier in der Schweiz. Da ich ein grosses Wissen, auch über die ferne Vergangenheit habe, weiss ich, dass du einst, in einem anderen Leben, eine sehr begabte Persönlichkeit warst. Wir nannten dich und deinesgleichen die Sternenkinder und viele von euch waren auch sogenannte Animalrider. Das heisst, ihr konntet euch in Tiere verwandeln. Ist es nicht so, dass dich vor allem Vögel schon immer sehr fasziniert haben?“
„Ja, das ist richtig,“ stimmte die junge Frau zu und drehte sich, noch immer auf ihrem Bürosessel sitzend, nun ganz zu ihm herum. „Ich studiere deshalb auch Biologie, um danach Ornithologin zu werden.“
„Das passt zu dir,“ meinte Snakeman und merkte, wie er die junge Frau bereits ins Herz schloss. Er mochte deren Bodenständigkeit und Zielstrebigkeit. „Bestimmt würde sie Marc sehr guttun,“ dachte er bei sich. Dann sprach er: „Das du diese Berufsrichtung einschlagen willst ist nicht erstaunlich, denn immerhin hast du einst, vor endlos langer Zeit, zum Specht- Clan gehört.“
„Zum Specht- Clan?“ fragte Vanessa skeptisch.
„Ja. Ich habe das auch eben erst herausgefunden. Aus diesem Grund suche ich dich hier auf. Denn ich würde gerne dein Lehrmeister sein. Ich glaube, ich könnte dir noch vieles beibringen und dein Erbe als Animalriderin, könnte dadurch womöglich wieder in dir erweckt werden.“
Vanessa runzelte die Stirn. Man merkte ihr an, dass ihre Hirnzellen auf Hochtouren arbeiteten. Das Ganze musste ihr überaus seltsam vorkommen. Immerhin kannte sie Frank noch gar nicht und natürlich mutmasste sie, dass er womöglich ein Betrüger oder noch Schlimmeres war.
So erhob dieser sich wieder und sprach: „Denk erst einmal darüber nach. Wenn du dich dazu entschliessen solltest, mir zu vertrauen, dann geh einfach nach draussen, an einen stillen Ort, und ruf nach mir. Dann werde ich innert kürzester Zeit bei dir sein. Ich bin noch eine Weile hier in der Schweiz und habe noch einige Projekte geplant. So werde ich das kommende Wochenende in Graubünden ein Schwitzhütten- Ritual durchführen. Ich würde dich gerne dazu einladen, denn ich weiss, dass du so etwas schon länger mal machen wolltest.“ Mit diesen Worten reichte er ihr einen Zettel mit allen nötige Informationen darauf. „Schwitzhütten sind sehr gut geeignet, um Einblick in Wahrheiten zu bekommen, die sonst oftmals vor uns verborgen liegen, fuhr er dann fort.“
„Sie wissen aber schon, dass das, was sie mir da erzählen, ziemlich schräg klingt,“ bemerkte Vanessa irritiert.
„Ja. Das kann ich gut verstehen. Darum werde ich dir auch genug Bedenkzeit geben. Würdest du jetzt bitte das Fenster für mich öffnen?“
„Das Fenster öffnen?“
„Ja, damit ich mich wieder zurückziehen kann.“
„Aber sie können nicht aus dem Fenster klettern oder springen. Es liegt zu hoch oben und…“
„Das lass mal meine Sorge sein,“ erwiderte Snakeman. „Würdest du also bitte?“
Vanessa zögerte einen Augenblick lang, dann jedoch ging sie etwas ratlos zum Fenster und öffnete es. „Hier bitte!“ meinte sie ironisch, „wenn sie sich unbedingt alle Knochen brechen wollen.“
Der Indianer lachte und schwang sich dann, ohne zu zögen, über die Fensterbrüstung. Vanessa stiess einen erschrockenen Schrei aus und blickte nach unten. In diesem Moment flog ein kleiner Kauz mit einem lauten „Schuhu!“ davon. Der alte Indianer jedoch, war wie von Erdboden verschwunden!