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“And a hero has to be in trouble from the Moment of his birth,
or he’s not a real hero.” ~ Schmendrick, the Magician
“The Last Unicorn” by Peter S. Beagle
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1. Petunias Geheimnis
Die Uhr, die auf seinem Nachttisch tickte, zeigte viertel nach drei an. Durch die Vorhänge schimmerte das spärliche Licht der Straßenlaternen und ließ Konturen im Zimmer erkennen. In seinen weit aufgerissenen Augen nahmen diese Konturen schauerliche Gestalten an - hochgewachsene Schatten in langen Kutten, die um sein Bett schlichen wie lauernde Raubkatzen kurz vor ihrem Angriff.
Eine Windböe ließ den Vorhang flattern und Harry schnappte nach Luft.
Ein Traum. Alles nur ein Traum.
Mit dem Ärmel seines Pyjamas wischte er sich über die schweißnasse Stirn und starrte auf den großen Schrank an der Wand gegenüber, der eben noch so bedrohlich auf ihn gewirkt hatte.
Alles nur ein Traum.
Harry zog die Bettdecke höher. Dass er dadurch weiter schwitzte, nahm er in Kauf. Die Decke bot einen Schutz wie eine zweite Haut. So jedenfalls empfand er es.
Hedwig saß in ihrem Käfig und sah ihn aus großen Augen aufmerksam an. Es schien direkt, als wolle ihn die Schneeeule fragen, ob er in Ordnung sei. Harry nickte. „Ich bin okay“, sagte er.
Hedwig schuhute leise und plusterte sich auf. Noch immer musterte sie ihn.
Harry seufzte und schloss wieder die Augen. Und obwohl sein Herz noch immer wild gegen seine Brust pochte, noch aufgeschreckt vom letzten Traum, fiel er erneut in einen unruhigen, dunklen Schlaf.
Durch waberndes Weiß gestaltenlosen Eintauchens hindurch gelangte er in die Welt des Unterbewussten, die sich nur selten - oder nie - bei Tage zu zeigen pflegte. Zuweilen war sie ein Zufluchtsort, doch manchmal auch die Versinnbildlichung von Hölle und Pein.
Und heute sollte sie - wie so oft in den vergangenen Wochen - zweites sein.
Harry starrte auf eine Flügeltür, die sich meterhoch vor ihm erhob und die in einen ellenlangen Korridor hinausführte. So endlos, dass er schon beinahe abstrakt wirkte, war er.
Wohin führte er?
Eine Stimme ließ ihn zusammenfahren. Eine volle, laute Stimme, die hinter ihm ertönte. Sie war kalt, laut, klar... Und sie rief seinen Namen.
Langsam und verwirrt drehte Harry sich um - und sah sich in einem gewaltigen Gerichtshof stehen, starrte in gesichtslose Gesichter, spürte emotionslose Emotionen, die ihm entgegenschlugen, und fröstelte, als eisige Kälte seinen Rücken entlang kroch, über seine Haut flimmerte - einen Weg durch ihn hindurchsuchend in das Innere seines Körpers, um sein Herz zu erfrieren.
Die, die sich vor ihm erhoben, kannten keine Gnade. Ausdruckslos, doch ausdrucksstark, lebendig und doch tot, starr und doch so schnell.
Gedanken flogen.
Geisteswirrwarr.
Wer waren sie?
Wer waren diese dunklen Gestalten, die da standen, furchteinflößend ihr Leib und ihr Wirken? Schwarz, vollkommen schwarz waren sie, maskiert, so dass nicht ein Stück Haut hindurchschien durch ihre Schwärze. Allein die Augen waren unbedeckt und kalt. Ein kaum deutbares, jeden Zentimeter des erschauernden Leibes erfassendes Grollen aus rauen Kehlen erschallte.
Dunkelwesen.
Ein Gesicht unter den Gesichtslosen erschien - eine grauweiße Fratze, wie ein Hohn inmitten der Finsternis der düstersten Nacht aller Nächte. Ein boshaftes Clownsgesicht, dessen Grinsen von solcher Niederträchtigkeit war, das man glaubte, es allein reiche aus, um Leben sterben zu lassen. Die weiße, spöttische Fratze verzerrte sich unter kehligem, vernichtendem Lachen.
Und das Lachen galt ihm.
Verzweiflung, kalter Wind im Rücken. Harry fühlte sich hilfloser als ein aus dem Nest gefallener Jungvogel, mehr in die Enge getrieben als ein von Jagdhunden verfolgter Fuchs, der nun in die alles zerfleischenden Fänge seiner Häscher starrte.
Es war schlimmer. Jenseits aller Grausamkeit.
Und er musste fort, musste aufwachen aus diesem Alptraum.
Er warf sich herum und rannte los - doch alles geschah wie in Zeitlupe. Langsam, ganz langsam und geschmeidig bewegte er sich, Zentimeter um Zentimeter, während er den Kopf nach vorne in den endlosen Korridor richtete, bloß um noch zu sehen, dass hinter ihm das weißgesichtige Monster der Dunkelheit nach vorne schnellte. - Ja, es schnellte, nichts schien es zu halten, es kam heran wie der Wind. Und er, Harry, konnte sich kaum rühren auf seiner Flucht vor dem Wesen in Schwarz. Seine Beine trugen ihn nicht so, wie sie sollten, jegliche Kraftanstrengung nützte nichts, und alle Muskeln schienen zu versagen. Die Bestie war heran, und mit einem Hieb schlug sie ihn zu Boden. Sein Fall war unvermittelt und hart - sein Verweilen in Zeitlupe hatte ebenso schnell und überraschend geendet, wie es begonnen hatte.
Halb ohnmächtig vor Schmerz blickte er auf. Er sah Augen, die direkt durch ihn hindurchblickten, hörte eine Stimme, die fast geräuschlos war, nur ein leises Zischen. Und doch verstand er, was sie sagte.
Das Gesprochene erfüllte ihn mit einem Gefühl jenseits aller Ängste.
Vollkommen paralysiert starrte er das unirdische Gesicht vor sich an, das aus den Tiefen des Alptraumes zu ihm heraufgestiegen war. Und er fühlte, dass „er“ schon immer da gewesen war. Er, Lord Voldemort, der heute so nah war wie nie zuvor, ihm sein Gesicht zeigte, ganz unverhohlen.
Und er sah, was nicht sein konnte...
Ewigkeit ist eine lange Zeit, um diese mit Hass im Blick zu verbringen. Doch er, dessen Namen nicht genannt werden durfte, hatte es getan.
Und die Dämonen der Verwirrung und Furcht hatten einen Platz für ihn, weit unter der Erde, wo die Flammenglut jede Seele verbrannte, die nicht war wie „er“.
Der maskierte schwarze Tod beugte sich zu Harry hinab, und seine Krallen droschen auf sein Gesicht ein, gaben ihm ein Zeichen, quer über die Stirn. Ein rotes, verlaufendes Zeichen des Todes...
Mysterien und Konfusion.
Wo keine Antworten waren, gab es auch keine Fragen...
Ein Zauberstab wurde angehoben und wie ein entferntes Fauchen vernahm Harry die Worte „Avada Kedavra“. Gleichzeitig packte ihn etwas grob an den Schultern und riss ihn in die Höhe, in die Schwärze...
Mit einem Schrei fuhr er auf, heftig atmend, die Augen weit aufgerissen... - und mit einem breiten, von Zornesröte erfüllten Gesicht direkt vor seiner Nase.
„Hast du den Verstand verloren?“, donnerte Onkel Vernon ungehalten los. „Was fällt dir ein, mitten in der Nacht das ganze Haus zusammen zu schreien!“
Obwohl Harry das Grauen des Traumes noch in den Gliedern steckte, konnte er sich des sarkastischen Gedankens nicht erwehren, dass sein Onkel genau das tat, was er ihm gerade noch vorgeworfen hatte. Schweigend starrte er ihn an.
Vernon Dursley hatte die Färbung einer überreifen Tomate angenommen - und sah, war er doch ohnehin nicht gerade mit einem nennenswert sichtbaren Hals bestückt, auch sonst so ziemlich nach einer solchen aus.
„Petunia ist ganz aus dem Häuschen!“, fauchte er. „Mit deinem Geschrei hast du sie zu Tode erschreckt! Wegen dir Bengel hat sie schon genug Alpträume! - Keinen Mucks will ich jetzt mehr von dir hören, haben wir uns verstanden?“
Er wartete gar keine Antwort ab, sondern wandte sich um, stiefelte aus dem Zimmer und schlug knallend die Tür hinter sich zu. Harry saß noch immer regungslos im Bett. Die kurze Standpauke seines Onkels war mehr oder weniger wirkungslos an ihm vorübergegangen. Nur etwas Gutes hatte sie gehabt, und Harry mochte es nicht wirklich zugeben - aber Onkel Vernon hatte ihn aus seinem Alptraum befreit.
Er seufzte und warf einen Blick auf die Uhr. Halb vier. Beinahe Morgen. Draußen hörte er bereits die ersten Vögel zwitschern. Entschlossen schlug Harry die Decke zurück und stand auf. Er verzichtete nun mehr als gerne darauf, noch etwas Schlaf zu bekommen. Es war zu wahrscheinlich, dass der Traum wiederkehrte - zu deutlich standen die beängstigenden Bilder noch vor seinen Augen.
Er stieß das Fenster auf und lehnte sich hinaus. Im Osten deutete ein heller Streifen über dem Horizont den baldigen Sonnenaufgang an.
Leise schob Harry einen Stuhl heran und setzte sich, nachdenklich auf das Firmament starrend. Seitdem Lord Voldemort einen Körper zurückerlangt und seine Todesser zu sich gerufen hatte, verfolgte ihn diese Nachtmahr. Er brauchte niemanden, der ihm seinen sich ewig wiederholenden Traum erklären musste. Harry wusste auch so um seine Bedeutung. Und dieses Wissen machte ihm Angst. Die gesichtslosen schwarzen Gestalten im Gerichtshof waren Voldemorts Todesser. Und die weißgraue Fratze, die ihn durch den Korridor jagte, der dunkle Lord selbst. Und das Zeichen...
Harry tastete automatisch nach der blitzförmigen Narbe, die sich über seine Stirn zog.
Ein rotes, verlaufendes Zeichen des Todes...
Seine Eltern, James und Lily Potter, hatten durch Voldemort den Tod gefunden. Nur Harry, geschützt durch die Liebe seiner Mutter, die sich für ihn geopfert hatte, hatte überlebt. Alles, was ihm Voldemort hatte beibringen können, war diese Narbe... und zugleich war seine Macht zerstoben in alle Himmelsrichtungen, als er die Hand an den damals einjährigen Jungen gelegt hatte. Was Harry inzwischen wusste war, dass Voldemort dabei - wohl gar nicht nach seinem Gefallen - einige seiner eigenen Kräfte auf Harry übertragen hatte. Und auch sonst gab es viele Parallelen zwischen dem größten Zauberer aller Zeiten und Mörder Lord Voldemort und Harry, dem Jungen, der überlebte. Die Fähigkeit, Parsel zu sprechen. Die Phönixfeder im Kern ihrer Zauberstäbe. Nicht einmal unähnlich hatte Voldemort Harry in seinen Jugendjahren gesehen...
Harry starrte in einen kleinen Spiegel, der zusammen mit einigen anderen Dingen auf seinem Schreibtisch lag. Er seufzte, nahm die Brille ab und sah genauer hin. Schlanke Gestalt, dunkles Haar... wie Tom V. Riddle. Und die Augen... welche Augenfarbe hatte Voldemort ursprünglich gehabt?
Ein Schauern überlief Harry und ärgerlich stieß er den Spiegel zur Seite, so dass Hedwig in ihrem Käfig über diese plötzliche Bewegung laut aufflatterte.
„Ich bin nicht wie er! Ich habe gar nichts mit ihm gemein“, schnaubte Harry. „Nicht wirklich...“
So als wolle er nach einem raschen Halt suchen, zog er seine Schuluniform aus dem bereits fast fertig gepackten Koffer. Das rot-goldene Abzeichen des Hauses der Gryffindors blinkte im entgegen.
‚Gryffindor, nicht Slytherin’, hämmerte es in seinem Kopf. ‘Gryffindor, Gryffindor, Gryffindor!’
‘Weil du dieses Haus gewählt hast, vergiss das nicht’, mischte sich eine zweite Stimme in seinem Unterbewusstsein ein. ‚Und wegen der Prophezeiung...“
Ärgerlich starrte Harry vor sich hin. Die Prophezeiung... Wenn er ehrlich war, hatte er ohne das Wissen um sie besser gelebt. Zwar vollkommen im Unklaren, wieso Voldemort nicht aufhörte, ihn zu jagen und nach dem Leben zu trachten... Aber auch frei von dem Wissen, zum Mörder werden zu müssen, sollte der dunkle Lord jemals aus dieser Welt verschwinden - endgültig.
„... und einer muss sterben durch die Hand des anderen, denn keiner von Zweien kann leben, solange der andere existiert.“
Es schien der Wahrheit zu entsprechen. Harry konnte sein bisheriges Leben alles andere als normal nennen. Nicht einmal, wenn er es mit den Augen eines Zauberers betrachtete. Er wie Voldemort waren Gefangene der Prophezeiung. Und der dunkle Lord war sicherlich entschlossener, sein ‚Problem’ aus dem Weg zu räumen, als Harry es war.
Erneut öffnete sich die Tür zu seinem Zimmer und unterbrach seine dunklen Gedanken. Tante Petunia trat herein und starrte ihren Neffen an, der ihren Blick schweigend erwiderte.
„Ich habe gewartet, bis Vernon eingeschlafen ist.“ Petunia Dursley schloss leise die Tür hinter sich und lehnte sich an die Wand neben dem Fenster. „Er würde nicht wollen, dass ich mit dir spreche... geschweige denn würde er es verstehen.“ Sie beugte sich etwas vor und zischte: „Und du wirst ihm kein Wort davon sagen, dass ich bei dir war!“
Harry verbiss sich eine ironische Bemerkung darüber, dass er ohnehin nie mehr als nötig mit Vernon sprach, und nickte nur. Er war neugierig, was seine Tante von ihm wollte.
„Du hast im Schlaf gesprochen“, sagte Petunia nun.
Ihrem Blick ausweichend sagte Harry leise: „Das tue ich oft...“
„Das höre ich...“ Seine Tante sah ihn nachdenklich an. „Wieso träumst du von... von diesem... du weißt schon wem? Dem, dessen Name nicht genannt werden darf?“
Nun konnte Harry sein Erstaunen nicht verbergen. Perplex starrte er sie an. „Woher...“, setzte er an und schnappte nach Luft. „Woher weißt du von ihm?“ Die Erinnerung an den letzten Sommer stieg in ihm hoch und er fragte weiter. „Woher kennst du die Dementoren und woher weißt du, dass sie Askaban bewachen? Woher weißt du überhaupt, was für ein Ort das ist? Wie kannst du...“
Die erhobene Hand Tante Petunias brachte ihn zum Schweigen. „Sprich gefälligst leiser, oder willst du deinen Onkel noch einmal wecken?“
Für einige Sekunden sprach keiner von ihnen ein Wort und sie lauschten zum Nebenzimmer hin. Aber nur das gleichmäßige Schnarchen von Mr Dursley drang durch die Wand zu ihnen hindurch.
„Du weißt nichts von deinen Großeltern. Du weißt nichts von dem, was geschah, nachdem meine Schwester in diese Zaubererschule kam und diesen... Potter“, sie spuckte diesen Namen förmlich aus, „kennen lernte... Was passierte, als sie den Fehler machte, ihm zu folgen. Das Verderben hat sie über uns gebracht in ihrer blinden, naiven Liebe. Es war alles die Schuld deines verfluchten Vaters!“ Sie zischte nur leise, aber jedes ihrer Worte hallte gleich eines wütenden Schreis in Harrys Ohren wider. „Niemals hätte sie sich diesen Leuten angeschlossen, wäre er nicht gewesen. Niemals hätte sie die Aufmerksamkeit dieses Zaubererabschaums auf uns gelenkt, hätte sie auf uns gehört. Dann würden deine Großeltern heute noch leben, alle beide! Allerdings hätte es dich dann niemals gegeben. Oh wie sehr wünschte ich, es wäre so gewesen...“
Verständnislos starrte Harry sie an, versuchte die kleinen Informationsfetzen zu verarbeiten. „Voldemort hat sie getötet...?“
„Zwei seiner Todesser. Kurz bevor deine Eltern getötet wurden. Niemand sollte übrig bleiben, der Bescheid wusste. Niemand. Aber du hast überlebt. Und auch ich. Das Gute an der Sache war, dass sich keines dieser Scheusale um mich scherte.“ Sie setzte Harry einen spitzen Zeigefinger auf die Brust. Ihr Fingernagel bohrte sich merklich durch sein Shirt in seine Haut. „Was glaubst du, wieso ich mit eurer Welt nichts zu tun haben will? Wieso ich dich nie hier haben wollte? Weil mir meine Familie wichtig ist - die du mit deiner bloßen Anwesenheit gefährdest!“
„Aber du hattest keine Wahl“, knurrte Harry und schob ihre Hand mit dem bohrenden Zeigefinger fort. „Dumbledore hat dich dazu gezwungen, mich anzunehmen. Weil dieses Haus der einzige Schutz ist, den ich habe.“
„Und unser Verderben!“, schnappte Petunia, blickte alarmiert auf und dämpfte sofort wieder ihre Stimme. „Hör zu, ich lehne diesen Zaubereikram nicht aus Intoleranz ab, sondern weil ich wirkliche Gründe habe. Diese Welt, an der du“, sie schnaubte, „so sehr hängst, hat meine Familie zerstört, und ich werde nicht zulassen, dass das wegen dir noch ein zweites Mal passiert!“
„Sobald Voldemort gestorben ist, seid ihr mich auf Ewig los. Dann muss ich nicht mehr bleiben“, zischte Harry wütend.
„Wenn er tot wäre, hätte ich auch nur halb so viel Angst wie jetzt!“, fauchte sie zurück.
„Dann haben wir etwas gemeinsam.“ Harry starrte demonstrativ aus dem Fenster. In seinem Inneren tobte ein wilder Sturm aus neuen Informationen, Erklärungen auf aus Furcht unausgesprochene Fragen und schlichtem Zorn über das Keifen seiner Tante. Das Letzte, was er sich gewünscht hatte war, sie und ihre vehemente Abwehr gegen die Welt der Zauberei und Magie zu verstehen. Und es ärgerte ihn, dass er es tat.
Petunia verschränkte die Arme vor der Brust. „Bis er stirbt - wann sollte das sein? Jemand müsste ihn umbringen, damit er verschwindet. Wer sollte das tun?“
Harry blickte weiter aus dem Fenster. Es fiel ihm leichter zu sprechen, wenn er sie nicht ansehen musste. „Ich bin der Einzige, der es kann.“
Seine Tante machte ein Geräusch irgendwo zwischen Zischen und Schauben. „Du? Wie solltest ausgerechnet du das können?“
Harry senkte den Kopf und fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. „Wenn ich das wüsste“, murmelte er. „Wenn ich das nur wüsste...“
***
Am Frühstückstisch schwieg Harry - wie meistens. Es wurde nicht gerne gesehen, dass er hier den Mund auftat. Zwar wussten die Dursleys, dass es ihm in den Ferien verboten war, zu zaubern - und nichts fürchteten sie mehr, als dass Harry genau das doch tat -, aber dennoch... man konnte nie wissen, welche unverzeihlichen Worte aus dem Munde dieses abnormalen Bengels rutschten, der in der geordneten Welt der kleinen Familie nichts zu suchen hatte.
Onkel Vernon schlug gerade Dudley auf dessen fleischige Finger, als dieser nach einer zweiten Portion Schinken greifen wollte.
„Du machst doch noch Diät, mein Sohn“, sagte er und nahm sich selbst den Speck.
Harry grinste kaum merklich. Die ‚Diät’ sah man Dudley wahrlich nicht an. Selbst wenn Tante Petunia ihren geliebten Sohn wochenlang nur mit Rohkost versorgte (natürlich zum höchsten Missfallen Dudleys), nahm er kein Gramm ab. Harry vermutete, dass er sich heimlich in der Schule und bei Freunden mit allerlei Naschereien versorgte.
Demnach bestand der nun einzige äußerliche Unterschied zwischen Onkel Vernon und Dudley darin, dass Vernon graue Haare und einen Schnauzer hatte.
Tante Petunia dagegen hatte das, was ihrem Mann und ihrem Sohn fehlte: einen äußerst langen Hals, der sich besonders dazu eignete, über die Zäune hinweg in die Gärten und Häuser der Nachbarn zu spähen.
Und Harry? Nun, kleiner als Dudley war er inzwischen nicht mehr. Er war noch immer von eher schlanker, beinahe zierlicher Statur, aber sein zuvor kindliches Gesicht hatte inzwischen einen viel reiferen Ausdruck angenommen. Auch von seinem Verhalten und der Art, wie er sprach, wirkte er wesentlich älter als Dudley, aber das würden die Dursleys niemals zugeben, geschweige denn - und dies galt besonders für Onkel Vernon - überhaupt erkennen.
Allerdings kümmerte Harry das wenig. Wie fast immer hatte er den Tisch nach Beendigung des Frühstücks abzuräumen und das Geschirr wegzuspülen. Für einen Moment fragte er sich, ob es witzig wäre, einen Teller fallen zu lassen und auf das darauf folgende Entsetzen zu behaupten, er habe lediglich einen Zauberspruch ausprobiert...
Lautes Klingeln unterbrach seinen Gedankengang. Er hörte ein schnaufendes Geräusch - Onkel Vernon, der zur Tür stapfte. Das Drücken der Klinke, ein leises Quietschen. Dann ein freundliches, aber bedeutungsvolles „Guten Morgen, Mr Dursley.“
Harry ließ das Handtuch fallen, an dem er sich eben noch die Hände abgetrocknet hatte, und hastete aus der Küche hinaus in den Flur, wo gerade die Haustür zuschlug. Über sein Gesicht huschte ein überraschtes, aber unverhohlen freudiges Lächeln. „Hermine?“
Sie grinste zurück. Onkel Vernon, der neben ihr stand, schnaufte erneut. „Wäre sie auf einem Besen vorbeigekommen, hätte ich die Polizei gerufen!“
Hermine Granger winkte ab. „Meine Eltern haben mich gefahren... Besser ausgedrückt: Sie wollten die Cousine meiner Mutter besuchen, und ich bat darum, dass sie mich mitnehmen. Sie holen mich nachher auch wieder ab. - Ich wollte schauen, wie es dir geht, Harry...“
Dieser konnte es nicht fassen, dass Onkel Vernon widerstandslos eine junge Hexe in sein Haus gelassen hatte.
„... und dich fragen, ob du Lust hast, die letzten zwei Ferientage bei uns und dann bei Ron zu verbringen. Wir würden morgen nach London fahren, um die neuen Bücher einzukaufen und ihn dort treffen.“
Ein Blick in das Gesicht seines Onkels gab Harry alle Antworten. Dieser schien es regelrecht zu begrüßen, seinen Neffen frühzeitig wieder aus seinem magielosen Haus bekommen zu können.
„Wenn du willst, können wir gleich fahren“, fuhr Hermine fort.
Onkel Vernon nickte zur Treppe. „Marsch, nach oben. Pack deine Sachen.“
„Gerne.“ Harry lachte und rannte die Stufen zu seinem Zimmer hinauf. Hermine folgte ihm, von Onkel Vernon scharf beobachtet. Aber entweder schien sie dies nicht zu bemerken, oder einfach gekonnt zu ignorieren.
In Harrys Zimmer half sie ihm beim Packen. Nichts durfte vergessen werden. Sämtliche Schulbücher, Kleidung, der Feuerblitz, sein Besenpflegeset, der Tarnumhang... nach und nach wanderte alles, was noch nicht zuvor gepackt gewesen war, in den Koffer.
„Wie ich sehe, hast du die Kräuterkundehausaufgaben noch nicht gemacht“, stellte Hermine fest, als sie Harrys bisherigen Arbeiten überflog. „Und der Aufsatz für Professor Flitwick zur Geschichte des-“
„Fehlt auch noch, ich weiß“, unterbrach sie Harry. „Ich wette, bei euch habe ich weitaus mehr Zeit, das zu machen... Ohne die ständigen Drohungen, alle meine Bücher gleich ins Feuer zu werfen, wenn ich sie auch nur einmal offen liegen lasse - schließlich könnte jedes Wort darin extrem gefährlich sein.“
Hermine lächelte nachsichtig. „Das bezweifle ich... - Zumindest, dass du bei uns mehr Zeit für die Hausaufgaben haben wirst.“
Als die Grangers eintrafen, um ihre Tochter und Harry abzuholen, wurden sie von Onkel Vernon und Tante Petunia unverhohlen kritisch und zu Anfang auch fast ängstlich beäugt. Zu sehr saß ihnen noch die Begegnung mit den Weasleys im letzten Jahr in den Knochen. Doch schnell merkten sie, dass die Grangers keine Zaubererfamilie waren, sondern ‚ganz normal’ zu sein schienen. Sie hatten sogar, sehr zu Onkel Vernons Wohlbehagen, einen anständigen, ganz normalen Beruf.
Das Gepäck wurde im Wagen verstaut und schon bald waren sie unterwegs. Harry sank mit einem zufriedenen Seufzer auf der Rückbank zurück. Es war zu schön, um wahr zu sein, dass er schon vor Schulbeginn von den Dursleys fortkam. Und diesmal sogar ohne Streit und großen Tumult. Fast einmalig, dachte er leicht amüsiert.