13. Das sehr geheime Haus der Signora Pereira da Conceicao
In der nächsten Woche fand das erste Quidditchspiel der Saison statt. Hufflepuff trat gegen Slytherin an. Harry und Ron beobachteten aufmerksam die Strategien der beiden Teams. Slytherin wirkte unfairer als je zuvor. Eine Anmerkung in diese Richtung konnte sich auch Roald Saint-Paul, der neue Kommentator der Quidditchspiele, nicht verkneifen. Professor McGonagall verzichtete darauf, ihn deswegen zurechtzuweisen.
„Na, so ein schweres Foul war das auch wieder nicht“, winkte Professor Leroux ab, die es irgendwie geschafft hatte, sich zwischen Snape und Professor Sprout zu quetschen. Doch der Hauslehrer Slytherins schwieg und starrte weiter auf das Spielfeld.
Hermine beobachtete grinsend die Szene und stupste Harry in die Seite. Er blickte in die ihm gewiesene Richtung auf Snape und Leroux. Améthyste lockerte gerade den Umhang, den sie über ihr Gewand gezogen hatte. Dabei war es heute sehr kühl.
Harry fiel es schwer, sich ein Lachen zu verkneifen. „Bald hat sie wirklich alle Register gezogen.“
Slytherin schlug Hufflepuff - allerdings auf sehr unfaire Weise. Harry war kaum nachgekommen, all die Fouls zu zählen, die sie begangen hatten, und dabei waren fast alle Fouls von allein drei Spielern gekommen. Die restlichen vier, unter ihnen auch Violetta Ziob, waren recht fair vorgegangen.
Ron grummelte. „Eigentlich sollte man ihren Sieg für nichtig erklären“, beschwerte er sich, als er den niedergeschlagenen Ernie mit seiner Mannschaft aus dem Stadion gehen sah. „Sie waren so unfair!“
Doch Harry fuhr sich grübelnd über das Kinn. „Die Mannschaft ist gespalten... Sie haben nicht harmoniert. Und hätte Malfoy nicht den Schnatz gefangen, hätten sie auch nicht gewonnen.“
Ron grinste säuerlich. „Dann sieh verdammt noch mal zu, dass du ihn vor dieser kleinen blonden Ratte fängst!“
***
Die Halloween-Feier fand am Samstag statt. Am Abend fanden sie die Große Halle voll geschmückt wie jedes Jahr an diesem Tag vor. Harry, Hermine und Ron aßen und tranken mit den anderen mit, behielten aber immer wieder die Uhr im Auge. Kurz nach elf begannen sie, sich so unauffällig wie möglich aus der Halle zurückzuziehen. In der ausgelassenen Stimmung bemerkte es tatsächlich niemand.
Sie hatten noch mehr als genug Zeit, aber falls ihnen die sich ständig bewegenden Treppen nicht gesonnen sein sollten, wollten sie lieber einen kleinen Vorsprung haben. Ohne große Probleme kamen sie bis in den dritten Stock. Dort allerdings streunerte Filch herum. Peeves lärmte mal wieder im Pokalzimmer, zumindest erschallte daraus krachendes Scheppern. Wütend und fluchend wetzte Filch los und das Trio stieg eilig die nächste Treppe hinauf. Es war fünf nach halb zwölf, als sie das sechste Stockwerk erreichten. Der Korridor hier war sehr breit, fast schon wirkte er wie eine kleine Halle. Links von ihnen erhoben sich die Zwillingssäulen. Harry erinnerte sich an einen Vermerk auf der Karte des Herumtreibers, dass sich zu bestimmten Tagen ein geheimer Raum zwischen diesen Säulen öffnete.
Als sich der Korridor verzweigte, wandten sie sich nach rechts, in den Ostflügel. In diesem Stockwerk kannte sich niemand der drei Freunde sehr gut aus. Sie wussten nur, dass sich hier die Aufenthalts- und Privaträume der Lehrkräfte befanden.
Nach wenigen Minuten erreichten sie das Ende des Korridors. Er erschien ihnen wie ein toter Gang. Nichts als kahle Wände... und zu linker Hand ein überdimensionaler Spiegel, der sich vom Boden bis zur Decke hinaufzog.
Harry blickte auf seine Armbanduhr. „Elf Uhr dreiundvierzig.“
Ron musterte den Spiegel und legte seine Hand gegen das Glas. „Wie sollen wir da bitte durchkommen?“
Hermine grübelte. „Wenn Lupin sagt, wir sollen durch ihn hindurchgehen, muss es auch funktionieren.“
„Noch eine Minute“, vermeldete Harry.
Ron tastete weiter über den Spiegel. „Aber das tut es nicht. Das ist ein stinknormaler Spiegel, und durch Spiegel kann man nicht durchgehen.“
„Es muss einen Weg geben“, erwiderte Hermine ärgerlich. „Denk gefälligst nach!“
„Wieso ich?“, knurrte Ron. „Ich bin nicht die Intelligenzbestie hier.“
Harry sah die beiden stirnrunzelnd an. „Ähm... denkt ihr wirklich, das ist der rechte Augenblick zum Streiten? - Noch zehn Sekunden.“
„Ich streite nicht“, grummelte Ron. „Ich sage nur, wie es ist: Es ist verdammt noch mal unmöglich, durch diesen blö-“ Und schon stolperte er nach vorn, in den plötzlich durchlässigen Spiegel hinein.
Harry zuckte grinsend die Schultern und nahm Hermines Hand, um sie mit sich durch das Glas hindurch zu ziehen. „Nun ja, Remus hat auch gesagt, wir sollen pünktlich sein.“
„Wenn ich ihn erwische, wird er sich wünschen, sich präzisier ausgedrückt zu haben!“, sagte Ron missmutig, der nur schwer das Gleichgewicht hatte halten können.
Die drei fanden sich in einem schmalen, langen Raum wieder. Er war vollkommen leer - bis auf einen Wandschrank, aus dem nun Dumbledore trat, gefolgt von Hagrid, Professor McGonagall und Professor Snape.
„Ich sehe, ihr habt den Raum gefunden. Sehr schön.“ Der Schulleiter lächelte ihnen entgegen. Minerva und Hagrid taten es ihm gleich, nur Snape runzelte missbilligend die Stirn.
„Halten Sie es für vernünftig, alle drei mitzunehmen, Professor Dumbledore?“, zischte er. „Sie wissen ohnehin schon viel zu viel.“
Dumbledore hob beschwichtigend die Hand und platzierte einen kleinen Wasserspeier auf einen Steinsockel in der Mitte des Raumes. „Ich werde sie nicht ausschließen, Severus. Gerade jetzt nicht. - Seid ihr bereit?“ Er blickte Harry, Ron und Hermine an, die nickten. „Gut, dann los.“
Sie legten ihre Hände auf den Wasserspeier und Dumbledore zählte leise bis drei. Dann spürten sie auch schon das unangenehme Reißen in der Bauchnabelgegend und der Portschlüssel tat seine Arbeit.
Sie fanden sich in einer kleinen Gasse wieder. Auf dem verblichenen Schild unweit von ihnen war im Licht der Laternen der benachbarten Straße deutlich Water Street zu lesen. Als sie sich umwandten, bemerkten sie, dass sie in einer Sackgasse gelandet waren. Sie war menschenleer und dunkel
Dumbledore schritt auf ein schäbiges Haus zu, das am Straßenrand stand. Er hatte kaum angeklopft, als ihm auch schon geöffnet wurde. Molly Weasley streckte den Kopf durch die Tür. „Schnell, rein mit euch!“, kommandierte sie.
Im Gänsemarsch drückten sie sich an ihr vorbei in das Innere des Hauses. Hagrid musste sich bücken und hätte sich beinahe den Kopf angestoßen. „Dämliche Muggelhäuser“, knurrte er. „Bau’n immer alles für Zwerge.“
Der Flur war lang und schmal. Rechts führte eine alte Holztreppe in das obere Stockwerk hinauf. Links sahen sie zwei geschlossene Türen. Die am Ende des Flures war nur angelehnt und durch die Ritzen hindurch schimmerte Licht.
Mrs Weasley sah grimmig auf Ron, doch bevor sie etwas sagen konnte, kam Kingsley auf sie zu. „Da seid ihr ja alle. Willkommen im Haus von Pirella Pereira de Conceicao!“ Er machte eine fröhliche, weit ausladende Geste. „Kommt herein. Die anderen sitzen schon alle am Tisch.“
Sie folgten Kingsley in den erleuchteten Raum. Er schien einmal ein Wohnzimmer gewesen zu sein, doch außer dem Kamin stand nicht mehr darin, als ein großer runder Tisch und zwölf Stühle darum. Remus Lupin, Alastor Moody, Mundungus Fletcher und Arthur Weasley waren bereits da.
Als sie sich setzten, blickte Kingsley fragend in die Runde. „Albus, wo ist-“
„Er konnte nicht kommen“, unterbrach ihn Dumbledore. „Es würde zu viel Aufsehen erregen, würde er das Risiko auf sich nehmen.“
Ron blickte sich suchend nach seinen ältesten Brüdern um. „Wo sind Bill und Charlie?“, fragte er verwirrt.
„In der Winkelgasse bei den Zwillingen“, antwortete sein Vater. „Und Lee Jordan und einigen anderen. Sie wissen bereits über alles Bescheid. Wir haben beschlossen, den Orden bei Treffen aufzuspalten. Wegen der...“, er zögerte, sprach den Satz dann aber doch zu Ende, „...zu unserer Sicherheit.“
„Und was is das für’n Haus?“, wollte Hagrid wissen, dessen Stuhl unter seiner Größe und seinem Gewicht ächzte.
„Es gehörte meiner Tante“, erklärte Kingsley. „Sie war ein Squib... und zog das Leben unter Muggeln dem unter Zauberern vor. Ihr Haus war das Beste, was wir haben finden können.“
„Es wird sicherlich ausreichen“, nickte Dumbledore. „Aber vergeuden wir keine Zeit. - Mundungus, du hast Neuigkeiten?“
Der nickte und breitete eine Karte auf dem Tisch aus. „Harpyiensichtungen. Sogar einige. Witcombe, Gloucestershire. Mehrere Male über den Catswold Hills. Vor acht Tagen. Und dann...“, sein Finger fuhr über die Karte, „Knighton, Shropshire, vor sechs Tagen. Und vor fünf Tagen hier, in Rugeley, Staffordshire. Vor drei Tagen in Southport und Lanchester.“ Immer weiter nach Norden strich sein Finger. „Und gestern hier, in Dunoon. Nördlich von Glasgow.“
Dumbledore seufzte tief. „Er ist unterwegs.“
„Auf einem blutigen Pfad“, nickte Mundungus. „In der Region aller benannter Orte wurden Leichen gefunden. Ehemalige Gegner - oder abtrünnig gewordene Todesser. Uns liegen vierundzwanzig Namen vor.“
Harry runzelte die Stirn. Er fragte sich, wieso er nichts von alledem gespürt hatte. Wohl hatte in keinem der Fälle Voldemort selbst getötet, sondern einer seiner dunklen Diener.
„Und heute morgen-“, Fletcher rollte müde die Karte wieder zusammen, „-erreichte uns die Nachricht aus Askaban.“
Alle Augen richteten sich auf ihn.
„Die Dementoren?“ fragte McGonagall ahnungsvoll.
Mundungus nickte. „So ist es. Es ist niemand mehr dort, Askaban ist leer. Nur die Todesser, die vor kurzem gefangen wurden, sind entkommen. Alle anderen ehemaligen Insassen sind tot. Außer den Dementoren gibt es dort nichts mehr. Sehr bald wird es nicht einmal mehr Dementoren auf der Insel geben - denn sie werden beginnen, sich Opfer zu suchen. Und ohne unsere Kontrolle nicht nur in unserer Welt...“
„Das wäre eine Katastrophe!“, rief Dumbledore. „Sie werden eine weltweite Panik auslösen!“
Kingsley blickte düster drein. „An die Konsequenzen will ich gar nicht erst denken. Stellt euch eine Gruppe von Dementoren vor, die sich gerade jetzt durch das Nachtleben Londons fressen könnte!“
„Gibt es keine Möglichkeit, die Dementoren zu vernichten, bevor sie sich Voldemort anschließen?“, warf Harry ein.
Stille. Jeder starrte ihn an. Harry bereute schon, sich eingemischt zu haben, als sich Moody räusperte.
„Einen Dementoren zu erledigen, ist ein fast unmögliches Unterfangen, Junge“, brummte er. „Man kann sie zwar mit einigen unsauberen Zaubern kontrollieren, aber töten...“
„Es gibt nur einen Ort, an dem man das kann“, sagte Dumbledore. „Und es wird der Kraft vieler großer Zauberer und Hexen bedürfen, sie dorthin zu treiben.“
„Wohin?“, fragte Hermine.
„Nach Ginnungagap“, knurrte Moody. „Das ist ihre vermaledeite Heimat, ihr verteufelter Ursprung. Das, was sie hervorgebracht hat. Und das, was sie wieder töten kann.“
„Was ist dieses Gin... dieser Ort?“, sah ihn Harry fragend an, und der Alte lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Die gähnende Leere, Potter. Das Nichts zwischen Feuer und Eis. Er einzige Ort, der unbequemer ist als Askaban in seinen Hochzeiten.“
„Dann müssen wir sie dorthin treiben!“, sagte Harry entschlossen. „So schnell wie möglich, wenn das Ministerium sie nicht mehr kontrollieren kann und Voldemort am Leben ist. Entweder er reißt die Kontrolle über sie an sich oder die Dementoren suchen sich ohne dirigierende Hand unschuldige Seelen zum Aussaugen!“
„Damit wirst du leider Recht haben, Harry“, seufzte Lupin. „Doch es ist nicht einfach. Wir können sie jetzt nicht zurücktreiben. Es ist alles ein äußerst geschickter Schachzug Voldemorts...“
Auf die fragenden Blicke der drei Schüler hin antwortete zu deren Erstaunen Professor Snape. „Der Dunkle Lord hat die Zaubererwelt in eine Zwickmühle getrieben. Einerseits gibt es ihn als drohende Gefahr, vor dem man viele unschuldige Seelen zu bewahren versucht. In unserer Welt wie in der der Muggel. Und auf der anderen Seite stehen die Dementoren. Egal, welchem Problem wir uns zuerst widmen, das andere wird uns zu Fall bringen. Denn um beides auf einmal können wir uns nicht kümmern.“
Harry schluckte. „Sie meinen...?“
„Wie Mr Moody schon angemerkt hat - man bräuchte eine sehr große Gruppe ausgezeichneter Magier, um den Dementoren Herr zu werden und sie nach Ginnungagap zu treiben. Und die Reise dorthin ist lang und beschwerlich... Eine Reise, während der niemand der Beteiligten die Kontrolle über die Dementoren verlieren dürfte. Was - denken Sie - würde dann geschehen, Mr Potter, wenn die größten Zauberer unserer Tage einzig und allein damit beschäftigt sind, diesen Abschaum zusammenzutreiben?“
„Voldemort hätte freie Bahn“, murmelte Harry und seine Stimme kam ihm so fremd vor. „Es wäre niemand mehr da, der ihn aufhalten könnte...“
Snape nickte. „So ist es.“
„Also, was sollen wir tun?“, seufzte Mr Weasley. „Es wird nicht mehr lange dauern, bis es die ersten Opfer in der Muggelwelt gibt.“
Harry spürte Verzweiflung und zugleich ungeheure Wut in sich aufsteigen. „Ich muss Voldemort finden.“
Alle, bis auf Dumbledore, Moody und Hermine zuckten zusammen.
„Du wirst nicht lange nach ihm suchen müssen“, sagte der Schulleiter ruhig, und doch sprach tiefe Besorgnis aus seiner Stimme. „Er wird zu dir kommen. Sehr bald...“
„Wieso wird er das?“, fragte Harry trotzig, obwohl er die Antwort auf diese Frage bereits kannte.
Dumbledore neigte den Kopf. „Weil er dich töten will, bevor du seinen Tod besiegelst.“
„Albus!“, schrie Mrs Weasley und sprang auf. „Wie kannst du nur-“
„Setz dich, Molly.“ Dumbledore wirkte plötzlich sehr müde. „Es nützt nichts. Er weiß es schon... Er weiß alles.“
Weiß wie Schnee sank Mrs Weasley auf ihren Stuhl zurück. „Er weiß es? Aber... Albus, du hast doch nicht...?“
Der Angesprochene nickte. „Doch. Das habe ich.“
Sie war nahe daran, erneut in die Höhe zu fahren und Farbe in Form von Zornesröte kehrte in ihr Gesicht zurück. „Aber er ist verdammt noch mal zu jung! Du kannst ihm doch nicht eine solche Last aufzwingen! Das alles hätte noch einige Jahre warten können und-“
„Nein, Molly!“ Dumbledore schlug mit der Faust auf den Tisch und Mrs Weasley verstummte. „Du weißt sehr genau, dass es nicht mehr warten kann! Ich hätte es ihm schon viel früher sagen sollen! Vielleicht wäre dann vieles anders gekommen.“
Fast jedem schien es unangenehm zu sein, gerade jetzt zu diesem Zeitpunkt in diesem Raum zu sitzen. Doch am elendsten fühlte sich Harry, der zuhören musste, wie sich andere über ihn stritten.
„Äh... von was redet ihr eigentlich, Mum?“, wagte Ron zu fragen.
Seine Mutter durchbohrte ihn mit Blicken und schien alles andere als gewillt, ihm darauf eine Antwort zu geben.
„Von mir“, murmelte Harry und wagte es nicht, auch nur irgendjemandem in die Augen zu blicken. Er spürte Hermines Hand, die sich unter dem Tisch tröstend um seine schloss, und er schluckte den Kloß im Hals hinunter. „Und davon, dass ich Voldemort töten muss.“
Ron starrte ihn mit offenem Mund an. „Wieso ausgerechnet du? Das kann doch auch jemand anders-“
„Nein!“, schnappte Harry und im gleichen Moment tat es ihm leid, dass er seinen Freund so angefahren hatte. „Niemand außer mir kann ihn töten. Und keiner außer ihm mich. Und niemand von uns beiden kann leben, solange der andere überlebt. So heißt es.“ Hermines Griff wurde fester und mit nun wieder ruhiger Stimme sprach Harry weiter. „Und ich werde nicht sterben, verstehst du? Ich will es nicht. Also muss ich ihn töten. Einen anderen Weg gibt es nicht.“
Ron sah kläglich drein. „Und das weiß hier jeder außer mir, oder wie?“ Er deutete das Schweigen als ‚ja’ und seufzte. „Ich glaub, mir wird schlecht...“
Harry raufte sich die Haare. „Und ich weiß nicht, wie ich ihn töten soll. Mein Zauberstab wirkt nicht gegen seinen, seiner nicht gegen meinen. Nicht so, wie es normalerweise wirken sollte. Ich kann nicht den Todesfluch benutzen und-“
Hermine sah ihn scharf an. „Das wirst du auch nicht! Keinen einzigen der Unverzeihlichen Flüche wirst du benutzen!“
„Mir scheint, Mr Potter ist da anderer Ansicht“, sagte Snape aalglatt. „Zumindest hat er-“
„Severus!“ Dumbledore sah ihn streng an. „Das tut nichts zur Sache. Er kann die Flüche nicht gegen Voldemort verwenden. Allein darum geht es.“
„Und wie soll ich ihn sonst besiegen?“, fragte Harry matt.
Dumbledore beugte sich zu ihm hinüber und seine Augen hatten beinahe etwas Väterliches, als er sprach: „Du bist etwas Besonderes, Harry. So lange du lebst, bist du eine ständige Bedrohung für Voldemort. Und je älter du wirst, desto schwieriger wird es für ihn, dich zu töten. Deine Kräfte wachsen in dir.“
„Kräfte?“ Harry seufzte. „Es gibt genügend Schüler, die weitaus besser im Zaubern sind als ich. Ich bin nichts Besonderes...“
Snape gab ein leises bestätigendes Schnauben von sich.
„Kräfte, Harry“, sagte Dumbledore bedächtig, „wachsen nicht aus Schulbüchern. Sie lassen sich auch nicht in Noten packen oder durch Prüfungen erwerben. Kräfte-“, er streckte seine Hand aus und deutete auf Harrys Brust, „-schlummern und reifen in uns. Und das müsstest du inzwischen wissen. Bedenke das, bevor dir wieder die Pferde durchgehen.“
Er zwinkerte ihm zu und Harry gelang ein leichtes Lächeln. Nein, dass die Kraft der Animagie in ihm schlummerte, davon hatte er bis vor kurzem nicht einmal zu träumen gewagt. Allerdings fragte er sich, was ein schwarzer Hengst gegen einen Amok laufenden bösen Zauberer ausrichten sollte, der zu allem fähig war.
„Du wirst einen Weg finden“, schloss Dumbledore das Thema ab. „Und ich befürchte, dass es sehr bald soweit sein wird. Alles, was wir tun können, ist dir zur Seite zu stehen und dich zu unterstützen, soweit wir es können.“
„Dann kümmert euch um die Dementoren“, bat Harry. „Bevor sie die Muggel angreifen. Was sollte passieren, wenn ihr es tut? Der einzige, den Voldemort will, bin ich.“
„Wir werden unser Bestmöglichstes tun, um die Situation unter Kontrolle zu halten“, versprach Dumbledore.
In bedrückter Stimmung verstreuten sie sich nach und nach. Mr und Mrs Weasley wollten in der Winkelgasse nach dem Rechten sehen. Mundungus schlich ohne eine Erklärung davon. Mad Eye Moody verschwand mit den Worten, einen alten Bekannten kontaktieren zu müssen. Snape wie McGonagall verzichteten diesmal auf den Portschlüssel und bedienten sich nun der Apparation. Und auch Hagrid schien noch etwas zu erledigen haben.
Harry starrte auf den zwölften Stuhl, der die ganze Zeit über leer gewesen war.
„Für wen war dieser Platz bestimmt?“, fragte er.
Dumbledore erhob sich. „Für Pithormin. - Wo habe ich den Portschlüssel hingelegt?“
„Sesachar?“ Harry war aufgesprungen. „Sesachar ist im Orden?“
Der Schulleiter sah sich nach dem kleinen Wasserspeier um. „Ja, natürlich... - Ah, da ist er ja.“ Er stellte den Portschlüssel auf den Tisch.
„Aber Professor Sesachar ist ein Todesser!“, begehrte Harry auf.
„Er war“, korrigierte ihn Kingsley. „Er ist ausgetreten, genau wie Snape.“
Harry verzog wütend das Gesicht. „So viele bekehrte Todesser kann es gar nicht geben!“
Dumbledore sah ihn nachdenklich an. „In einer dunklen Zeit fällt es oft schwer, seinen Idealen treu zu bleiben, Harry“, sagte er und er schien seine Worte mit Bedacht zu wählen. „Mit dem Wissen, in ständiger Gefahr zu leben, wenn man sich der aktuell herrschenden Macht nicht unterwirft, tut man manchmal falsche Dinge aus Angst... und Liebe.“
Verwirrt sah ihn Harry an. Auch Ron und Hermine runzelten die Stirn.
„Er hatte Frau und Kinder“, fuhr Dumbledore fort. „Yara war im Orden. Und als mehr und mehr von uns gefunden und getötet wurden, schloss sich Pithormin den Todessern an - und lenkte somit den Verdacht von seiner Frau und seinen Söhnen ab.“
„Und was ist geschehen?“, wollte Hermine wissen.
Kingsleys Gesicht war finster. „Sie starben. Pits gespielte Loyalität flog auf, als man ihn zwingen wollte, ein kleines Mädchen zu töten. Er entkam den Todessern, doch bevor er seine Familie warnen konnte, war es zu spät. In seinem Haus fand er nichts weiter als ihre Leichen vor. Von da an versteckte er sich, bis zu jenem schicksalhaften Tag, an dem Voldemort verschwand. Und der Dunkle Lord glaubt wohl immer noch, dass Pit tot sei..“
Harry schwieg. Insgeheim war er dankbar, dass er sich wenigstens in Bezug auf Professor Sesachar geirrt hatte.
Dumbledore deutete auf den Portschlüssel. „Seid ihr jetzt bereit? Es wird Zeit, zurückzukehren...“