22. Der Ort der Schreie
Mit dem Februar kam der Valentinstag. An besagtem Morgen fand sich Harry am Frühstückstisch in der Großen Halle wieder und schnippte ärgerlich Konfetti von seinem Brot, das eine Gruppe kichernder Zweitklässlerinnen herumwarf.
Hermine erschien mit Ginny am Tisch und setzte sich. „Was hast du gegen Konfetti?“, fragte sie grinsend.
„Es ist rosa“, grummelte er, vergaß seinen Ärger aber schnell, als sich Hermine zu ihm beugte und ihn versöhnlich küsste. „Schönen Valentinstag“, lächelte sie ihn an und nun grinste auch Harry.
„Ich hoffe, du wirst mir keinen singenden Zwerg auf den Hals hetzen?“
Sie lachte los. „Um Himmels Willen, nein! - Allerdings hab ich einen von diesen Kerlen beim Herunterkommen gesehen. Er lauert in der Eingangshalle.“
„Auf wen er dort wohl wartet?“, überlegte Neville und fischte eine Karte aus seiner Müslischüssel. Die Eulen waren erschienen und brachten den Schülern ihre Post - und selbstverständlich verteilten sie dabei auch viele Valentinsgrüße. Neville errötete, als er seine Karte öffnete und las.
„Immer noch Eliane?“, erkundigte sich Ginny.
Neville nickte. „Ja, sie gibt nicht auf. Und das, obwohl ich ihr in der Teestube beim letzten Hogsmeade-Wochenende versehentlich Kakao über die Hose geschüttet habe.“ Er verzog das Gesicht. „Das war mir so peinlich.“
Seine Freunde brachen in fröhliches Gelächter aus. Harry stieß Neville amüsiert in die Seite. „Hey, und sie mag dich immer noch. Also, auf was wartest du noch, du Trottel?“
Das Rot in Nevilles Gesicht nahm einen noch dunkleren Farbton an, und er griff nach seiner Feder, um Eliane eine Antwort zu schreiben.
Sie alle blickten auf, als ein tödlich dreinblickender Snape in die Halle platzte, verfolgt von einem nicht minder griesgrämig ausschauenden Zwerg, der sich an seine Fersen geheftet hatte und wild entschlossen an seiner Harfe herumzupfte.
„Ich habe eine musikalische Nachricht an Professor Snape zu überbringen“, keckerte der Zwerg aufdringlich und ließ sich auch von den zornig gebleckten Zähnen des Hauslehrers von Slytherin nicht abschrecken. „Stillgestanden!“, befahl er und packte Snapes dunkle Robe, die er mit eisernem Griff zwischen seinen grauen Fingern hielt.
In Anbetracht dieser Szene waren bereits alle anwesenden Schüler in schallendes Gelächter ausgebrochen. Das Bild, das sich ihnen darbot, war einfach zu exotisch, wenn nicht gar surreal. Der von vielen gefürchtete Snape, bekannt für seine Unnahbarkeit und Unfairness, stand just in diesem Augenblick nahe der Eingangstür und versuchte - schon direkt verzweifelt - einen hartnäckigen Zwerg von seinem Bein zu schütteln, an das sich dieser klammerte.
„Na schön, wer von Ihnen hat sich diesen schlechten Scherz ausgedacht?“, brüllte Snape wütend in Richtung der Schüler, die sich über ihren Tischen bogen. Der Zwerg, der sich nun mit seinen Beinen an Snape verhakt hatte, um die Hände frei zu bekommen, zupfte Unheil verkündend an seiner Harfe.
„Oh, dein schwarzes Haar, so wunderbar,
wie dein Humor, der...“
Die Situation eskalierte, als Zacharias vor lauter Lachen rückwärts von der Bank fiel und Ernie und Hannah ihm aufhelfen mussten. Ron drohte an einem Löffel voll Haferbrei zu ersticken, da er es einfach nicht schaffte, endlich zu schlucken. Dean war japsend über dem Tisch zusammengebrochen und schien ebenfalls keine Luft mehr zu bekommen. Snape zückte voller Zorn seinen Zauberstab und wäre dabei beinahe zu Boden gefallen. Doch bevor er den krächzenden Zwerg mit einem Fluch belegen konnte, hatte dieser auch schon endlich von seinem Bein gelassen und hüpfte keckernd aus der Halle hinaus. Snapes Stupor-Fluch schlug gegen die große Tür und versteinerte sie auf der Stelle. Das Lachen der Schüler - sofern noch möglich - schwoll weiter an.
„Wenn ich denjenigen von Ihnen erwische, der sich diesen lächerlichen Scherz erlaubt hat, wird er meine nächste persönliche Testperson für den Fliegenden Tod!“, fauchte er, aber anders als sonst fruchteten seine Drohungen heute nicht. Das Gelächter wollte nicht verstummen, und kochend vor Wut rauschte Snape an ihnen vorbei zum Lehrertisch, wo Flitwick sich hinter einem großen Kürbissaftkrug verbarg, damit Snape sein Grinsen nicht sah. Pithormin Sesachar hatte die Hand über seinen Mund gelegt und gab vor, ausgiebig zu gähnen. Professor McGonagall, ebenfalls amüsiert, stand auf, um das Portal wieder zu entsteinen. Über seinen Zorn hatte Snape natürlich nicht daran gedacht, das selbst zu tun.
Als kurz darauf Professor Leroux mit einem seligen Lächeln die Halle betrat, war jedem Schüler absolut klar, von wem dieser Zwerg geschickt worden war. Unter Kichern und Scherzen beendeten sie ihr Frühstück, tunlichst darauf bedacht, Snape nicht ins Gesicht zu blicken - nicht, weil sie Angst hatten, dann von ihm in nächstmöglicher Zeit vergiftet zu werden, sondern um ihrem Zwerchfell endlich etwas Ruhe zu gönnen.
Als sie kurz darauf in Snapes Zaubertrankunterricht saßen, mussten sie schwer an sich halten, um nicht erneut loszubrüllen. Snape stand grimmig in ihrer Mitte und schien auf eine Gelegenheit zu warten, einem von ihnen in die Hölle zu schicken, würde er nur ausreichend Anlass dafür finden. Und so konzentrierten sie sich lieber alle darauf, ihre Zutaten sorgfältig abzuwiegen und zu mischen.
Am Ende der Stunde sah Snape wahrlich so aus, als wolle er sie alle dafür bestrafen, dass sie sein Rezept vorschriftsmäßig befolgt hatten. Geladen warf er sie aus dem Klassenraum hinaus, nachdem er ihnen drei Rollen an komplizierten Aufgaben aufgebrummt hatte.
„Ganz ehrlich“, sagte Ron kichernd, als sie zum Zauberkunst-Klassenzimmer in den dritten Stock hinaufstiegen, „für diesen Brüller nehme ich die drei Rollen wirklich gerne in Kauf.“
***
Der Vorfall mit dem singenden Zwerg erfüllte Hogwarts noch Tage lang mit fröhlichem Gelächter. Der Februar ging vorbei und mit seinem Ende schmolz auch der letzte Schnee. Der Winter neigte sich seinem Ende zu und weiterhin gab es keine neuen unwillkommenen Zwischenfälle.
In der ersten Märzwoche verließen McKenzies Männer nach verrichteter Arbeit das Schloss. Im gesamten Umkreis sei keine Harpyie mehr aufzutreiben, versicherten sie, und wenn es noch welche geben sollte, sei ihre Zahl inzwischen so gering, dass sie keine wirklich große Bedrohung mehr darstellten.
Der Unterricht für Kräuterkunde und Pflege magischer Geschöpfe wurde wieder nach draußen verlegt. Und bis zum Nachmittag war es den Schülern nun wieder erlaubt, sich in Gruppen auf dem Schlossgelände aufzuhalten. Der Frühling kämpfte tapfer gegen die letzten langen Nächte, die der Winter hinterlassen hatte, an. Das Quidditch-Training allerdings wollte Professor McGonagall nach wie vor nicht wieder freigeben. Da ohnehin nur noch drei Teams für die Spiele zugelassen waren, so argumentierte sie, bestand keine Eile. Harry wusste, dass sie dem aktuell herrschenden Frieden mit Misstrauen begegnete - und insgeheim konnte er ihr diese Einstellung nicht verübeln. Ganz egal, wie hell und warm die Sonne an wolkenfreien Tagen nun vom Himmel strahlte, niemals gelang es ihr, die Schatten ganz zu vertreiben, die in ihren Erinnerungen hinterlassen worden waren.
***
Grüner Schimmer erhellte schwach die große Halle mit ihren kalten, dunklen Steinfußböden und einer Decke, die so hoch hinaufzureichen schien, dass ihr Ende in der Finsternis gar nicht auszumachen war. Allein die roten Augen Voldemorts blitzten hell darin auf, gemeinsam mit dem kurzen Glänzen einer langen Klinge, die auf eine reglos am Boden liegende Gestalt niederstieß und ihren Rücken durchbohrte.
Blut, überall war Blut - so viel, dass sich ein Nebel daraus zu bilden schien, der die ermordete Kreatur am Boden umgab wie eine grausame Aura. Langsam, ganz langsam stieg er auf, zur unsichtbaren Decke der Halle empor, um dort im Nichts zu verschwinden.
Das schaurige Siegesgeheul des Dunklen Lords erfüllte den Raum und hallte als verzerrtes Echo von den Wänden wider, schwoll an zu einem durch Mark und Bein gehenden Laut des boshaften Triumphes.
Voller Verachtung starrte Voldemort auf die Gestalt am Boden hinab. Der rote Umhang war halb zerfetzt und blutgetränkt, der Kopf kraftlos auf dem merkwürdig angewinkelten linken Arm gebettet, die rechte Hand lag schlaff auf kalten Fliesen. Über das bleiche Gesicht des Toten zogen sich Striemen und Schrammen. Aus dem halbgeöffneten Mund quoll Blut hervor, rann über Wange und Kinn hinab auf den Arm, die Hand... - bildete eine Lache, in dem zerbrochenes Glas leicht schimmerte, das von einer zu Boden geschlagenen Brille herrührte.
Die Augen waren geschlossen, für immer. Halb bedeckt von struppigem und schweißnassem Haar, das so schwarz wie dieser grausame Ort über die Stirn der Leiche fiel, aber die Sicht zuließ auf eine Narbe - merkwürdig geformt, so wie ein Blitz...
***
Schmerz durchzuckte ihn, als er nach Atem rang und sich in seiner Verzweiflung beinahe an der Luft, die er scharf in sich einsog, erstickte. Hustend drehte er sich zur Seite, das Gesicht in die Kissen gepresst, um den Laut zu unterdrücken und niemanden im Schlafraum zu wecken. Er lauschte in die Nacht hinein, für eine Weile reglos, doch niemand schien aufgewacht zu sein.
Mit einem tiefen Seufzen rollte sich Harry auf den Rücken und versuchte verzweifelt, sein unkontrolliertes Zittern unter Kontrolle zu bringen.
Er hatte sich selbst sterben sehen.
War es ein böser Traum gewesen oder hatte sich seine Verbindung mit Voldemort wieder so weit gefestigt, dass er erneut Zeuge seines Tuns und seiner bildhaften Gedanken und Wünsche wurde? Seit Monaten schon plagten ihn keine unwillkommenen Bilder mehr. So lange hatte er nicht mehr mit Voldemorts Augen gesehen, hatte sich verschließen können...
Er verkrampfte den Griff um die Bettdecke. Er hatte nicht mit Voldemorts Augen gesehen. Er war ein außenstehender Zuschauer gewesen. Unmöglich konnte dieser Traum also eine Eingebung des Dunklen Lords gewesen sein.
Harry drehte sich auf die Seite, versuchte sich zu beruhigen und wieder einzuschlafen. Aber kaum hatte er die Augen geschlossen und seinen Körper wieder entspannt, wandelte er auch schon wieder durch dunkles Gemäuer, eine riesige Treppe hinauf und durch ein rundes, wie eine Schlange geformtes Tor hindurch in eine Halle, deren Boden so schwarz und undurchdringlich war wie ihre Decke...
Er fand sich aufrecht sitzend im Bett wieder, die Hand gegen seine Stirn gepresst. Er konnte spüren, wie die Narbe unter seinen Fingern brannte, beinahe pulsierte, so als drohe sein Kopf zu explodieren.
Entschlossen schlug er die Bettdecke zurück, zog leise den Tarnumhang seines Vaters aus seinem Koffer hervor und stahl sich aus dem Jungenschlafzimmer. Ohne zu wissen, wohin er eigentlich ging, eilte er Korridore entlang, Treppen hinunter und wieder hinauf, durch neue Flure und wieder über Stufen, bis er sich zu seiner Überraschung vor einer ihm vollkommen unbekannten Tür wiederfand. Verwirrt sah er sich um, nicht einmal wissend, in welches Stockwerk er gelangt war, als er leises Rumoren in dem Raum vernahm. Bevor er zurückweichen konnte, wurde die Klinke hinunter gedrückt und die Tür öffnete sich zur Hälfte. Harry starrte auf einen braunhaarigen Mann, der mit verschlafenem Gesicht eine Kerze in den Gang hinaushielt und sich suchend umsah.
Es war Pithormin Sesachar.
Der Professor murmelte Unverständliches und wollte sich gerade wieder herumdrehen, um in sein Schlafzimmer zurückkehren, als Harry den Tarnumhang von seinem Kopf zog.
„Du meine Güte!“ Sesachar zuckte erschrocken zurück und hätte beinahe die Kerze fallen lassen bei diesem Anblick.
„Entschuldigen Sie, Professor.“ Harrys Kopf tanzte näher. „Ich... kann ich kurz mit Ihnen reden?“ Er schlüpfte nun ganz unter dem Umhang hervor und Sesachar seufzte erleichtert. „Im ersten Moment dachte ich an diesen aufdringlichen Geist, der immer durch dieses Stockwerk poltert und mit seinem Schädel Kegeln spielt. - Natürlich, komm rein, Harry. Ich wusste doch, dass ich etwas gehört hatte. - Du hast einen Tarnumhang?“
Mit dieser wirren Redeflut schob er die Tür ganz auf und ließ Harry hinein, der sich daraufhin zum ersten Mal in einem privaten Schlafraum einer Lehrkraft wiederfand. Sesachar steckte die Kerze zurück in einen fünfarmigen Leuchter und entzündete ihn ganz. Gedämpftes warmes Licht erfüllte das Zimmer.
Vor sich sah Harry einen Schreibtisch mit Lederauflage und einem sehr bequem aussehenden Stuhl, dahinter Bücherregale, welche die halbe Wand einnahmen. Rechts stand eine große Truhe, so breit wie ein Schrank, auf den Sesachar den Leuchter platzierte. Zur linken Hand befanden sich ein weiterer, kleinerer Rundtisch und ein Himmelbett, ähnlich dem der Schüler, nur größer. In der hintersten Ecke konnte Harry eine zweite Truhe mit einem großen Glasbehälter darauf erkennen. Hinter den Scheiben huschte etwas Undefinierbares zwischen exotisch anmutenden Pflanzen umher und stieß einen hohen Pfeifton aus, gefolgt von einem knurrenden Meckern.
„Ruhe, Wod“, befahl Sesachar in Richtung des Glaskastens. „Schlaf weiter.“
Doch das Wesen hörte nicht auf, quiekend, meckernd und keckernd durch die dichten Pflanzen zu rascheln. Der Professor seufzte ergeben, trat an den Behälter heran und fischte ein zappelndes, moosgrün gefärbtes, pelziges Wesen aus dem Farn. „Okay, ich hab’s begriffen. Du dummer kleiner Teufel bist wach. - Setz dich doch, Harry.“
Der sah sich suchend im Raum um, fand aber nur einen einzigen Stuhl vor, nämlich den hinter Sesachars persönlichem Schreibtisch. Zögerlich setzte er sich darauf. „Es tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe, Professor“, begann er, aber Sesachar winkte ab.
„Du wirst deine Gründe haben... - Äh, du hast nicht zufälligerweise ein paar von Bertie Botts Bohnen bei dir?“
Harry sah ihn entgeistert an und Pithormin deutete auf das nach einem Meerschwein aussehende Tier in seiner Hand - was ein Fehler war. Denn nicht mehr im festen Griff huschte ihm das Wesen davon, sprang behände zu Boden, floh vor Sesachars hastig ausgestreckten Händen und hopste Harry mit aneinanderschnarrenden Zähnen auf den Schoß. Der brachte hastig seine eigenen Finger in Sicherheit.
„Sie wird dich nicht beißen“, grummelte Sesachar. „Sie knurrt mich an, nicht dich. Ich hab keine Bohnen für sie.“
Wod unterzog Harry derweil einer ausgiebigen Geruchsprobe. Schnuppernd wuselte sie über den Schoß des Jungen, bis sie ihren Kopf in dessen Hosentasche hineinsteckte und mit den Vorderpfoten wild und fordernd am Stoff zu kratzen begann.
„Du hast wohl welche“, grinste Sesachar. „Gib sie ihr, bevor sie dich auffrisst.“
Harry zog die Bohnen aus der Tasche hervor und er bildete sich ein, ein glückliches, gieriges Strahlen in den Augen des Tieres zu entdecken, das seine Vorderpfötchen ausstreckte und eine rote Bohne an sich riss. Geschäftig begann es daran zu knabbern.
„Äh... was genau ist das hier?“, fragte Harry und besah Wod eingehend. Sie sah wirklich aus wie ein Meerscheinchen, war aber größer und ihre Beine länger und kräftiger. Zudem waren ihre Ohren spitz und mit kleinen Pinseln versehen wie die eines Eichhörnchens. An diesen Nager erinnerte auch der leicht gebogene buschige Schwanz, der aufgeregt auf und ab wippte.
„Ein Ekus“, antwortete Sesachar. „Mistige kleine Biester. Verschlafen vier Fünftel ihres Lebens, um dir im restlichen Fünftel dein eigenes Leben zur Hölle zu machen.“
Wod kaute genüsslich an der zweiten Bohne und gab dabei einen ähnlichen Laut von sich wie eine schnurrende Katze. Harry strich über das glatte Fell des kleinen Tieres und Wod blieb sitzen. Scheinbar war Harrys Vorrat an Bohnen es würdig, dafür im Gegenzug ein paar Streicheleinheiten zu akzeptieren, ohne ihm gleich dafür in die Finger zu hacken.
Sesachar setzte sich auf die Bettkante und blickte Harry fragend an. „Also, was führt dich zu mir, mitten in der Nacht?“
Wod umklammerte zwei Bohnen auf einmal und flüchtete mit ihrer Beute auf die Schreibtischplatte.
Harry kam sich derweil etwas albern vor, den Professor nur wegen des Dranges, mit jemandem zu sprechen, aus dem Schlaf gerissen zu haben. „Ich...“, druckste er. „Ich hatte...“
„Einen Albtraum?“ Die Worte des Professors klangen nicht spöttisch. Er sprach sehr ruhig. Langsam nickte Harry.
„Und der Dunkle Lord kam darin vor?“, fragte Sesachar weiter.
Sein Gegenüber seufzte. „Ja, Sir...“
„Zuerst einmal“, sagte der Professor langsam, „lässt du heute einmal dein ‚Sir’ sein. Ich sitze jetzt nicht hier als dein Lehrer, sondern als dein Vertrauter. Nenn mich Pit oder meinetwegen auch Pithormin. Und dann erzähle mir deinen Traum. Und zwar in jeder Einzelheit.“
Harry nickte, erneut Wod kraulend, die auf seinen Schoß zurückgekehrt war, um weitere Bohnen zu hamstern. Er beschrieb die dunkle Halle, die er gesehen hatte, so genau, wie er konnte. Und Voldemort, der in der Finsternis erschienen war, mit einem riesigen Schwert in seinen langen, dünnen Händen.
„Und was hat der Dunkle Lord getan?“, erkundigte sich Pithormin.
Ihm die Antwort auf diese Frage zu geben, kostete Harry einiges an Überwindung. „Er... er hat mich getötet“, sagte er leise.
Der Professor schwieg eine Weile und sah Harry nachdenklich an. „Diesen Traum hattest du heute zum ersten Mal.“
Harry nickte. „Ja. Und... meine Narbe schmerzt.“
„Ich weiß.“ Pithormin rollte den Ärmel seines Pyjamas hoch und gab den Blick auf das Dunkle Mal auf seinem Arm frei. Es schien in der Dunkelheit regelrecht zu glühen. „Es ist so deutlich wie schon sehr, sehr lange nicht mehr“, murmelte er. „Der Dunkle Lord ist hier, ganz in unserer Nähe. Und du spürst es genauso wie ich.“ Er warf einen verächtlichen Blick auf seinen Arm und zog den Stoff seines Hemdes wieder darüber. „Du hast diesen Traum nicht zufällig geträumt. Er erwartet dich. Der schwarze Raum... - Ich war einmal dort, vor fast sechzehn Jahren. Es war ein geheimer Ort, eine alte Wehrfestung im Südwesten. Die Exekutionshalle war es, so nannten wir sie. Groß, leer, in ewiger Schwärze liegend. Wer hineingeführt wurde, verließ sie nie wieder lebendigen Leibes. Der Dunkle Lord hatte seinen eigenen Namen für sie: Gairech, den Ort der Schreie.“
Beinahe hätte Harry Wod vor lauter Schreck von seinem Schoß katapultiert. Sein Gesicht war blass. „Es gibt am Rande von Hogsmeade einen Hügel, der so heißt.“ Er erinnerte sich an die alte Karte, die er sich von der Siedlung angesehen hatte. „Und dort stand einmal ein Gebäude... Vielleicht steht es immer noch.“
Pithormin runzelte die Stirn. „Das kann kein Zufall sein. Wo ist dieser Hügel?“
„Im Süden des Dorfes“, antwortete Harry. „Aber auf der Karte gab es keinen eingezeichneten Weg. Ich weiß nicht, wie man dorthin kommt... Vielleicht über die Waldschneise vor Hogsmeade.“
„Du meinst den Trampelpfad, aus dem die Silberpelze kamen?“ Sesachar rieb sich das Kinn. „Das wäre einen Versuch wert. Schließlich hat Severus erwähnt, dass er zu einem alten Gehöft führt.“
„Was für ein Versuch?“, fragte Harry nervös.
Der Professor stand auf. „Dieses Gairech zu finden. Ihn zu finden... - Er ist hier, Harry, sehr nahe. Die Zeit ist gekommen.“
Harry spürte, wie seine Finger kalt und feucht wurden. „Welche Zeit?“
„Die Zeit der letzten Gegenüberstellung.“ Pithormin ging in dem Raum auf und ab. „Er hat schon so lange darauf gewartet. Und seit du in Hogwarts bist, hat er keinen Versuch gescheut, dich zu dieser zu zwingen. Er wollte nicht warten, Harry. Wollte niemals, dass es so weit kommt, dass du die Chance erhältst, deine Kräfte zu entwickeln. Verstehst du nicht? Je länger er warten musste, je älter du wurdest... desto verzweifelter wurde er. Und wie sehr muss er darüber toben, dich nicht sofort in deinem ersten Jahr hier getötet zu haben, als du noch nicht wusstest, worum es ging. Als du noch nicht gewappnet warst - nur ein kleiner, unschuldiger Junge. Doch er hat seine Chance vertan. Und damit wurde es für ihn von Jahr zu Jahr schwerer, auch nur in deine Nähe zu kommen. Mit jeder Begegnung, bei der es dem Dunklen Lord nicht gelang, dich zu töten, bist du in dir gewachsen. Mit jeder für ihn missglückten Chance züchtete er seinen Feind heran.“ Er wandte sich zu Harry um und sah ihn eindringlich an. „Du warst es, der in der Kammer des Schreckens den Basilisken tötete, mit gerade mal zwölf Jahren. Ein Jahr später konntest du als einer der jüngsten Zauberer überhaupt einen Patronus herbeirufen. Wieder ein Jahr darauf konntest du dem Dunklen Lord erneut entkommen, trotz seines so fein ausgetüftelten Planes. Er wollte dich scheitern sehen, aber am Ende war es immer er, der unterlag.“ Pithormin legte ihm mit einem Lächeln seine Hand auf die Schulter. „Auch wenn du noch immer jung bist, er wird nie über dich triumphieren können, solange du nicht vergisst, wer du bist. Und was dir wichtig ist. Sein Hass mag endlos sein, aber manchmal ist die Macht des Hasses nicht so stark wie die der Überzeugung.“
Harry blinzelte. „Wovon sollte ich überzeugt sein?“
„Von Gut und Böse. Schuld und Unschuld. Hass und Liebe. - Gegensätze, Harry. Der Dunkle Lord kennt sie nicht. Er kennt nur sich selbst und die Macht. Er weiß weder, was Leid noch was Glück bedeutet...“
Harry kraulte Wod hinter den puscheligen Ohren. „Es ist soweit, nicht wahr?“
„Wenn du es willst, ja“, antwortete Pithormin. „Wenn du bereit bist.“
Harry lachte bitter auf. „Wenn ich bereit bin? Wenn ich es mir aussuchen dürfte, nie. - Niemals.“ Er seufzte. „Ich will nicht zum Mörder werden...“
Sesachar schüttelte grimmig den Kopf. „Das wirst du nicht. Ein Mörder ist ein Mensch, der ohne Gewissen tötet. Sogar aus Vergnügen. Ohne Grund. Du hast genug Gründe, den Dunklen Lord zu töten. Er hat deine Eltern ermordet. Durch seine Todesser kam dein Patenonkel ums Leben - und Albus. Er hat dir dein Leben zur Hölle gemacht und wird dich umbringen, wenn du dich nicht wehrst. Und du wirst dich wehren, das weiß ich, auch wenn du in den letzten Wochen eher resigniert und sehr in dich gekehrt gewesen bist... Ich hatte schon Angst, dass der Kampfgeist in dir gestorben wäre. Aber ich bin mir sicher, dass ich mich irre. Dass du ihn nicht verloren hast - denn du willst leben.“
Harry nickte. „Ja, sicher will ich das. - Und was ich noch mehr will ist, dass nicht weiter Menschen für mich sterben. Nichts ist grausamer als das!“
Pithormin sah ihn an und aus seinem Blick sprach die gleiche väterliche Wärme, die Harry an Dumbledore gekannt hatte. „Und darum kannst du niemals ein Mörder werden“, sagte er leise. „Ist das das einzige, was dich zurückhält, Harry? Dieser eine, unschöne Gedanke?“
Er nickte. „Das... nichts anderes.“
„Und?“
Harry nahm Wod und setzte sie mit den letzten Bohnen auf den Schreibtisch. Entschlossen straffte er sich. „Na schön“, sagte er, und seine Stimme war überraschend fest und klar. „Ich bin bereit.“