25. Das Vermächtnis
Es war der Raum neben dem Spiegel, durch den Harry, Hermine und Ron in der Nacht zu Halloween gegangen waren. Es war wirklich nicht schwer gewesen, ihn zu finden. Harry murmelte das Passwort und die Tür öffnete sich in einer fast einladenden Geste.
Er trat ein und sah sich suchend um. Das Zimmer war - ebenso wie Dumbledores Büro - vollgestopft mit Gegenständen jeder Art. Truhen und Regale voller Bücher und astronomischer Geräte füllten den Raum. Selbst das große Himmelbett hatte lange, lilafarbene Vorhänge, auf denen kleine Silbersterne glänzten.
„Kann ich dir helfen, junger Mann?“
Überrascht sah sich Harry um und sein Blick blieb an einem Gemälde hängen, das sich über einer Truhe neben dem Bett befand. Es sah schon sehr alt aus. Die Farbe des Rahmens war teilweise abgeblättert und am oberen Rand des Gemäldes war ein fleckiger Riss zu erkennen. Das Porträt zeigte einen Mann mit dunklen, amüsierten Augen, Bart und rotbraunem Haar, das teilweise mit grauen Strähnen durchzogen war. Er lehnte sich mit einer Hand gegen den Bildrand und legte den Kopf schief.
„Ähm, ja...“ Harry sah sich immer noch suchend im Raum um. „Professor Dumbledore sagte mir, hier wäre jemand...“
„Hier ist doch auch jemand.“ Der Mann im Porträt lehnte sich so sehr gegen den Bildrand, dass der Rahmen verrutschte. „Oh weh, nicht schon wieder.“ Er schien zu straucheln und warf einen mürrischen Blick auf seine Hände. „Es ist sehr lästig, die ganze Zeit stehen zu müssen. Warum haben sie mich nicht sitzend malen können? Könntest du vielleicht...?“
Harry beugte sich über die Truhe und richtete das Bild wieder gerade. Der Mann darin wirkte zufrieden. „Ah ja, vielen Dank. So ist es besser.“ Er strich seinen roten Umgang, der ihm über sein Gewand fiel, glatt. Darunter war ein Schwertgehänge zu erkennen und ein Zauberstab, der ihm im locker angelegten Gürtel steckte.
„Dumbledore hat mich also zu Ihnen geschickt?“ Harry musterte das Bild. Es war das einzige Gemälde im gesamten Schlafzimmer.
Der Mann schien in die Hocke zu gehen und kreuzte die Arme am unteren Bildrand. Harry musterte ihn. „Wer sind Sie?“
„Ah, nenn mich Ric, wenn du möchtest. In den letzten Jahrzehnten habe ich mich an diesen Namen gewöhnt. War ein ruhmreicher Einfall von Thaddäus Rowery - der war auch mal Schuldirektor hier in Hogwarts... und der letzte, der mir damals einen neuen Rahmen verpasst hat. Wenn du mich fragst, langsam wäre mal wieder einer fällig. Ich habe so ein schickes Messingmodell im Treppenhaus gesehen. Muss was Neueres sein. Richtig edel.“ Ric seufzte sehnsüchtig.
Harry hatte sich einen Stuhl herangezogen und mit der Lehne voran darauf gesetzt. Nachdenklich musterte er das Bild. „Wieso schickt mich Professor Dumbledore zu Ihnen? Er schrieb, ich würde sicher gerne mit Ihnen reden...“
„Er schrieb?“ Ric hob den Kopf. Sein eben noch verträumter Blick war echtem Entsetzen gewichen. „Er hat dir das geschrieben?“
Harry nickte und Ric senkte seufzend den Blick. „Also ist er tot... Und ich hatte gehofft, er sei nur einmal mehr unangekündigt verreist.“
„Woher wissen Sie das?“
„Er hat den Brief an dich hier in diesem Raum verfasst“, antwortete das Porträt. „Wir haben uns über dich unterhalten. Und wenn alles glatt gegangen wäre, hätte dich Albus selbst zu mir geschickt...“ Ric sah ihn an. „Aber wenigstens du hast überlebt, Harry. Und das bedeutet, dass Voldemort tot ist... - Das ist er doch?“
„Ja“, antwortete Harry perplex.
Ric begann zu strahlen. „Ich wusste, du würdest es schaffen! Albus verbrachte so viele Nächte voller Ängste in Sorge um dich und dein Wohlergehen. Doch ich habe nie auch nur eine Sekunde an dir gezweifelt. Ich habe immer gewusst, dass es so enden würde... - es durfte gar nicht anders kommen.“
Harry starrte das Porträt an. In seinem Kopf wirbelten Gedanken in einem heillosen Chaos durcheinander. Dumbledore hatte oft mit diesem Porträt über ihn gesprochen. Und wohl auch die Prophezeiung und Voldemort, denn alles schien Ric sehr vertraut zu sein. Mit zusammengekniffenen Augen musterte Harry das Bild, entdeckte Details, auf die er zuvor nicht geachtet hatte. Die goldene Brosche mit dem eingravierten Löwenkopf, die den roten Umgang hielt. Der Schwertgriff mit dem roten Rubin, der immer dann zu sehen war, wenn Ric den Arm anwinkelte, um seine Hand in die Hüften zu stemmen. Der Turm eines gewaltigen Schlosses, der hinter ihm zu sehen gewesen war, als er sich kurz über den unteren Bildrand gebeugt hatte, und der Harry so vertraut war...
„Sie sind Godric Gryffindor“, murmelte er und konnte kaum glauben, was er da sagte.
Das Porträt lächelte ihn an. „Ja. Aber wie ich bereits sagte, Ric geht vollkommen in Ordnung.“
„Sie waren das gestern Nacht, der Geist des Löwen.“ Harry schüttelte den Kopf. „Der Patronus... - Ich meine, es sah aus wie ein Patronus...“
Godric schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Einen Patronus musst du mit einer Formel herbeirufen und er dient nur zu deinem Schutz. Und er wächst nicht in dir. Hast du es nicht gespürt? Du weißt, wer du bist, Harry. Also weißt du auch alles über den Geist, der letzte Nacht an deiner Seite gekämpft hat - und der deine gesamten Kräfte beansprucht hat, mehr als alles andere.“
Eine Weile herrschte Schweigen, bevor Harry wieder sprach. „Es war einfach da... ganz plötzlich. Ich habe nicht gefragt... ich habe nicht überlegt...“
„Das solltest du auch nicht.“ Godric ließ sich wieder in die Hocke fallen. „In dem Moment größter Gefahr soll man niemals denken, sondern einfach nur handeln. Alles nutzen, was man zu seiner Verteidigung zur Verfügung hat, ohne zu fragen, woher es kommt. Wenn alles vorbei ist, kann man sich noch immer genug Gedanken darüber machen, wie man es eigentlich hat schaffen können, diese Situation zu überstehen.“
Harry sah ihn mit einem kläglichen Lächeln an. „Nun, dann... wie habe ich es geschafft?“
„Wie hast du es damals in deinem ersten Jahr in Hogwarts geschafft, dem Spiegel Nerhegeb den Stein der Weisen zu entlocken?“
„Ich wollte ihn finden“, murmelte Harry.
„Jawohl, finden, aber nicht benutzen. Der Aufgabe willen, nicht der Macht.“ Godric lehnte sich zurück. „Weiter. Der Basilisk.“
Harry seufzte, nicht wissend, was das alles jetzt für einen Sinn haben sollte. „Das war Glück. Er hätte mich genauso gut erwischen können, trotz Ihres Schwertes und Fawkes.“
„Das hat er aber nicht. Warum?“
„Ich wollte Ginny retten“, murmelte Harry. „Und ich wollte nicht sterben...“
Godric nickte. „So ist es. Du hast ihn aus Notwehr getötet, nicht aus Hass. Und du bist nicht gestorben, denn dein Herz war treu. Sonst wäre Albus’ Phönix niemals erschienen.“
„Ohne ihn wäre ich ganz sicher gestorben“, sagte Harry.
„Nein.“ Godric Gryffindor deutete auf ihn. „Ohne deinen Mut und deine Treue wärst du gestorben. Denn sie brachten dir mein Schwert und Fawkes. Und seitdem sind beide ein Teil von dir. Fawkes bringt dir die gleiche Ergebenheit und Loyalität entgegen wie Albus. Und es war mein Schwert, das dich als neuen Träger auswählte. Ruf es herbei.“
Harry sah ihn verwirrt an. „Bitte?“
„Das Schwert. Ruf es zu dir.“
„Aber Professor Sesachar hat uns verboten, den Zauber anzuwenden, wenn wir nicht in Gefahr schweben.“
Gryffindor lächelte. „Dieser Raum ist einer der bestverschlossensten in ganz Hogwarts. Keiner wird etwas bemerken. - Also bitte ich dich darum. Ich möchte es in deinen Händen sehen. Nur einmal.“
Harry zuckte mit den Schultern und stand von seinem Stuhl auf, dabei den Zauberstab hervorziehend. „Creato Armatus!“, rief er und beobachtete, wie das Schwert in voller Größe vor ihm materialisierte. Er packte den Griff und drehte die wundervoll geschmiedete Waffe in der Hand.
Godric beobachtete ihn lächelnd. „Ja, es passt zu dir. Wie hätte es auch anders sein können... - Weißt du, dass Siloel, die Strahlende, dieses Schwert geschmiedet hat? Sie war eine der größten Hexen der Antike und die erste große Priesterin in Stonehenge. Na ja, für dich sicher langweilige Geschichte...“ Er grinste vergnügt.
Harry ließ das Schwert sinken und es verschwand wieder. „Aber meine Frage haben Sie mir immer noch nicht beantwortet, Sir... ähm... Ric.“
„Welches waren die Menschen, die Lord Voldemort am meisten von allen fürchtete?“, fragte Gryffindor.
„Professor Dumbledore“, antwortete Harry. Langsam wurde er ungeduldig. Ric schien sich jede Antwort aus der Nase ziehen zu lassen, nachdem man ein gutes halbes Dutzend an Gegenfragen hatte beantworten müssen.
Das Porträt nickte. „Korrekt. Und?“
„Und was?“ Harry setzte sich wieder auf den Stuhl.
„Und dich.“ Gryffindor seufzte. „Hör doch auf, es zu verdrängen. Wie kann man so viel in jungen Jahren ertragen wie du - große seelische Belastungen und eine schwere Bürde - aber kein lobendes Wort?“ Er beugte sich erneut vor und sah ganz so aus, als würde er gerne aus seinem Bild herausspringen. „So mächtig Albus auch war, er konnte Voldemort nicht besiegen. Nur du konntest es. Das wusste er, das wusste der Dunkle Lord. Du trägst eine große Kraft in dir - ganz abgesehen von all deinen anderen beachtenswerten Fähigkeiten. Eine Kraft, die Voldemort niemals kannte, denn sein Geist war stets zu schwach dazu.“
„Welche?“, begehrte Harry zu wissen. „Sagen Sie es mir doch endlich.“
„Die Kraft, die Macht, die du besitzt, nicht zu missbrauchen“, sagte Gryffindor ruhig. „Das ist die größte Kraft, die es gibt und nur wenige besitzen sie. Macht, Harry, zeigt einen Menschen, wie er wirklich ist. Sie ist kein wundervolles Geschenk, außer wenn sie dazu benutzt wird, die Unschuldigen vor der Böswilligkeit anderer zu beschützen. Voldemort aber nutzte sie, um zu unterdrücken, zu befehlen und zu töten. Du hast die deine niemals zu solch niederen Zwecken benutzt, sondern immer nur dann, wenn es keinen anderen Weg gab. Deine Macht hat es nicht nötig, pausenlos präsent zu sein. Sie zeigt sich nur, wenn du sie wirklich brauchst. Wenn es um dein Leben geht - oder das derer, die du liebst. Verstehst du es jetzt, Harry? Du hast nie daran gedacht, welche Möglichkeiten der Stein der Weisen für dich bieten könnte, würdest du ihn benutzen. Du hast nie aus Freude - oder noch schlimmer - Kaltblütigkeit gequält oder getötet. Niemals Menschen unterdrückt. Obwohl du all das hättest tun können mit dem, was du in dir trägst. Aber dein Geist ist stark und gefestigt und bedarf nicht solcher Armutszeugnisse. Und darum warst du es, der Voldemort besiegte. Du, dessen Kraft über die seine hinauswuchs - und all sein Hass konnte ihm den Sieg nicht sichern. Du bist mein Erbe, Harry... Es tut mir leid um all das, was du hast durchleben müssen. Voldemort hat nie erfahren, was Leid ist, denn er gab es stets an andere weiter. Du hast es ertragen - und bist damit gewachsen. Einer der ersten Zauberer, der an Hogwarts unterrichtete, meinte immer, ein wahrer Held sei von Leid und Ärger geplagt mit Anbeginn seines Lebens...“
Harry hatte die ganze Zeit schweigend auf seinem Stuhl gesessen. Sehr begeistert sah er nicht aus. „Wissen Sie was?“, murmelte er. „Manchmal wäre ich gern ganz einfach nur... normal.“
„Kein Zauberer?“, grinste Gryffindor. „Gefangen in der spießigen, phantasielosen Welt der Muggel?“
„Nein. ich meine... - Doch, ich will schon ein Zauberer sein.“ Harry seufzte. „Aber... eben nur ein ganz gewöhnlicher.“
Das Lächeln verschwand nach wie vor nicht aus Rics Gesicht. „Tut mir leid, das zu sagen, junger Freund: Aber du könntest niemals gewöhnlich sein.“ Und dabei brach er in leises Lachen aus. „Und ich weiß, wir haben noch viel von dir zu erwarten.“
Jetzt sprang Harry auf. „Erwarten? Was denn noch? Ich habe Voldemort getötet. Das war es doch, oder? Nur das. Ich bin fertig. Das war’s. Jetzt hab ich Ruhe! Was sollte man noch von mir wollen? Wie kann man überhaupt auch nur-“
„Ruhig, Junge.“ Gryffindor hob beschwichtigend seine Hand an. „Lord Voldemort war ein großes Übel, aber nicht das einzige.“
Harry ballte die Hände zu Fäusten. „Schön. Fein. Wunderbar. - Aber der ganze Rest geht mich nichts mehr an!“ Er kam sich etwas lächerlich vor, ein Bild anzuschreien, das nicht sonderlich von seinem Ärger beeindruckt zu sein schien.
„Albus hat mir von der Berufsbesprechung erzählt“, sagte Gryffindor leichthin und musterte interessiert seine Fingernägel. „Du willst Auror werden...“
Harry schwieg störrisch.
„Ein Auror. - Du weißt, womit du dich als solcher beschäftigen wirst, nicht? Dem Dreck. Den Niedrigsten der Niedrigen. Dem Verbrechen. Der Ungerechtigkeit. Dem Ruchlosen... - Komisch, dass du dir solch einen Beruf aussuchst, wenn du mit all diesem Rest, wie du es nennst, nichts zu tun haben willst... Denkst du, Voldemorts Todesser werden winselnd und reuevoll zurück in ihre dunklen Löcher kriechen, aus denen sie hervorgekommen sind? Du hast eine große Schlacht gewonnen, Harry. Aber der Krieg ist noch nicht vorbei. - Allerdings, du könntest auch Professor Snape um hervorragende Noten in Zaubertränke bestechen und dich als Heiler versuchen. Ich wette, der Krankenhausaufenthalt wird dich spätestens nach einem Monat an den Rand eines Nervenzusammenbruchs treiben. Das ist nichts für dich... Auch dieser ganze Beamtenmist... - Erfordert eine Unmenge an Geduld. Nein... oh nein. Alles nichts für jemanden von deinem Schlag. Oder täusch ich mich so in dir?“
Harry kochte, aber Gryffindor schien dies nicht zu beeindrucken.
„Lass mich sehen, was gibt es noch? - Ein Seher... Nun, du kannst mit einer Kristallkugel so viel anfangen wie mit... ähm, einem Flubberwurm. Zu bodenständig... viel zu bodenständig. Daraus wird nichts. Irgendein Forschungszweig vielleicht? Nein, viel zu kompliziert. Zu viel zu lernen, zu viele Bücher, zu viel Schreibarbeit. Auch nichts für dich... - Lehrer vielleicht?“
„Ja, am besten Schulleiter, damit ich Ihr Porträt in den Kerker verbannen kann“, knurrte Harry.
Gryffindor legte den Zeigefinger an die Lippen. „Nun, in Anbetracht dieser Tatsache wäre das auch keine besonders gute Idee... - Bleibt also doch nur der Auror, was?“
Harry überlegte, ob sich ein Vorhang an dem Bild anbringen ließ, den man zuziehen konnte, wann immer man genug von seinem Bewohner hatte und dessen unverschämtes Grinsen nicht länger ertragen wollte.
„Gut, lassen wir das“, knurrte er. „Ich denke, es ist Zeit fürs Abendessen.“
Gryffindor schmunzelte. „Hast genug von mir, was? Na dann, geh schon. - Aber komm mich mal wieder besuchen. Es wird sehr, sehr langweilig und trostlos hier sein ohne Albus.“
„Das Zimmer wird nicht leer stehen bleiben, nehme ich an“, erwiderte Harry. „Sobald Hogwarts wieder einen Schulleiter hat...“
„Erst nach den Sommerferien“, unterbrach ihn Gryffindor. „Und bis dahin ist es eine lange, einsame Zeit. Auch Bilder langweilen sich und brauchen Beschäftigung. Wir sind auch nur Menschen.“
Endlich spielte wieder ein Lächeln um Harrys Lippen. „Soll ich einen Ball und Leckerlis mitbringen?“
„Jetzt werd nicht frech, junger Mann!“, drohte Ric halbherzig. „Ich kann doch nichts essen. Bild sein birgt viele Nachteile. Man altert zwar niemals, muss sich über keine Falten oder eine sich bildende Glatze aufregen - sofern man nicht schon zur Zeit, als man gemalt wurde, eine hatte -, aber dafür... nun ja.“
Harry nickte. „Okay. Ich besuche Sie bald wieder“, versprach er.
Gryffindor lächelte zufrieden.
***
Der April war verregnet und die regelmäßigen Wolkenbrüche verwandelten Hogwarts in einen riesigen Sumpf. Wieder fielen die Quidditchspiele - ganz buchstäblich - ins Wasser. Erst im Mai durfte eines der letzten beiden anstehenden Spiele endlich durchgeführt werden und nach all den langen, dunklen Monaten begann wieder das Training. Allerdings kam für die Fünftklässler ihre Vorbereitung auf ihre ZAGs heran und die Schüler des siebten Jahrgangs paukten in jeder freien Minute für die anstehenden UTZ-Examen. Auch die Sechstklässler waren beschäftigt. Einigen gelang das Apparieren noch immer nicht besonders gut und sie brauchten viele zusätzliche Trainingsstunden. Doch diesmal war es nicht Neville Longbottom, der die größten Probleme damit hatte, sondern Seamus Finnegan. Er verschätzte sich ständig mit den Abständen, so dass er des Öfteren in einem Papierkorb, mitten auf dem Tisch oder einmal sogar in einer der Rüstungen apparierte, die den großen Korridor zierten. Unter lautem Lachen und Prusten half Professor Flitwick dem geplagten Seamus aus der Rüstung heraus und wies ihn an, die Übung solange zu wiederholen, bis er es endlich schaffte, in der Mitte der Eingangshalle zu landen - weit genug weg von allem, in das er sich unfreiwillig einsperren konnte.
Als sie endlich Anfang Juni die Zulassungsprüfung durchlaufen mussten, kamen schließlich doch alle glimpflich davon. Die Prüfer des Ministeriums schienen zufrieden zu sein. Nachdem jeder Schüler aus dem Jahrgang seinen Test durchlaufen hatte, wurde Harry erneut in den Raum zitiert, wo sich nun auch Professor McGonagall einfand. Ihm schwante, dass er sich jetzt auch noch als Animagus würde registrieren lassen müssen und ergeben ließ er den bürokratischen Papierkram über sich ergehen.
Später, beim Abendessen, zog er eine Karte aus der Tasche und zeigte sie Ron und Hermine.
„Krass, du hast ’nen echten Ausweis?“, staunte Ron und betrachtete ihn eingehend. Harry fand, dass er Ähnlichkeiten mit einem normalen Muggel-Personalausweis hatte. Neben seinem Namen und einigen Angaben zu seiner Person und Tierform - versehen mit einem sich bewegenden Passbild, das, wenn man die Karte leicht in den Fingernd drehte, wie ein Hologramm einmal Harry und einmal das schwarze Pferd zeigte - hatte er auch eine Registrierungsnummer erhalten. Von nun an war er offiziell als Animagus anerkannt.
„Also, ich würd’ mich ja auch gern in ein Tier verwandeln können“, grübelte Ron. „Wie lang braucht man, wenn man es selbst lernen muss?“
„In Anbetracht dessen, wie kompliziert die Animagie ist, sicher gute acht bis zehn Monate, wenn man intensiv arbeitet“, überlegte Hermine.
„Soll heißen, du schaffst es in dreien?“, witzelte Ron.
Sie gab Harry den Ausweis zurück und blickte nachdenklich drein. „Hm... vielleicht.“
Ron stöhnte. „Oh nein. Du willst doch nicht wirklich... - was für ein Tier soll bei dir schon rauskommen? Ein Bücherwurm?“
Er flüchtete hastig vor Hermines drohend erhobenem Lexikon, das sie vor sich aufgeschlagen hatte. „Das ist sicher besser, als ein Faultier, Ronald Weasley!“, fauchte sie und Harry brach in schallendes Gelächter aus.
***
Auch dieses Schuljahr ging zu Ende und trotz all der grausamen Geschehnisse verließen sie Hogwarts alle nur sehr wehmütig.
In King’s Cross erfolgte dann der gefürchtete, große Abschied. Violetta drückte nacheinander jeden von ihnen an sich. „Ich werde euch ganz schön vermissen, euch bescheuerten Gryffindors“, grinste sie. „Macht nicht zu viel Mist nächstes Jahr.“
„Wir machen doch niemals Mist“, entrüstete sich Ron und wandte sich dann an Amber, von der er sich ebenfalls verabschieden musste. Fred und George, die mit Molly Weasley zum Bahnhof gekommen waren, um ihre Geschwister in Empfang zu nehmen, grinsten dreckig.
„Siehst du, was ich sehe, George?“
„Yupp. Er hat ’ne Freundin.“
Fred rieb sich die Hände. „Er wird seine Ferien hassen...“
Harry seufzte, als er die Dursleys in dem Gedränge ausmachte, die sich in seine Richtung schoben. Er reichte den Grangers, bei denen er noch stand, zum Abschied die Hand, bevor er noch einmal Hermine an sich zog.
Dudley machte große Augen und Onkel Vernon stieg die Zornesröte ins Gesicht, als er mit ansehen musste, wie sein verhasster Neffe mitten auf dem Bahnsteig innig ein Mädchen küsste.
„Meinst du, du kannst mich besuchen?“, fragte Hermine und Harry warf den Dursleys einen abschätzenden Blick zu. „Hey, wenn sie mich einsperren, appariere ich einfach“, zwinkerte er ihr zu. „Obwohl, unsere Holztüren halten sicher auch keine Hufschläge aus, egal, wie sorgfältig man sie verschließt...“
Sie lachte nur. „Also sehen wir uns.“
„Ganz sicher“, versprach Harry.
Und mit einem triumphierenden Grinsen wandte er sich zu seinen noch immer grimmig schauenden Verwandten um. Sie konnten seinetwegen den ganzen Tag ein Gesicht ziehen, als wollten sie ihn bei lebendigem Leibe auffressen. Er war sich sicher, dass ihm das - und egal, was sie sich noch ausdenken mochten - nicht die gute Laune verderben konnte.