14. Animagie
Am Montagmorgen ging Harry Rons gequälter Gesichtsausdruck endgültig auf die Nerven. Er knallte sein Glas mit Kürbissaft zurück auf den Tisch und fixierte seinen Freund, der so dreinblickte, als würde er die größten Seelenschmerzen durchstehen.
„Ron, kannst du mir einen Gefallen tun? Hör auf, dieses Gesicht zu ziehen, als müsstest du Voldemort töten.“
Ron winselte und Hermine rollte mit den Augen. „Ich bitte dich! Langsam müsstest du es ertragen, wenn man Voldemort beim Namen nennt.“
„Ich will seinen Namen aber gar nicht hören!“, jammerte Ron.
„Ich werde ihn dich schreiben lassen, drei Rollen lang, wenn es sein muss!“, knurrte Harry.
Sein Freund starrte ihn trotzig an. „Du scheinst vergessen zu haben, wer hier der Vertrauensschüler ist!“
„Hab ich wohl!“ Wütend packte Harry seine Sachen zusammen und stopfte sie in seine Schultasche. „Aber ich hab schließlich auch anderes zu tun!“
Damit stand er auf. Hermine versuchte ihn am Arm festzuhalten und Ron sah ihn groß an.
„Hast du denn keine Angst?“, fragte er leise.
Harry war noch immer zornig. „Wieso? Du leidest ja mehr als genug und hältst mich davon ab, welche zu haben!“
Bestimmt drückte Hermine ihn wieder auf die Bank zurück. „Hört auf zu streiten!“, befahl sie. „Ausgerechnet ihr beide!“
Ron schlug die Augen nieder, während Harry grimmig vor sich hinstarrte. Hermine warf einen demonstrativen Blick auf die Uhr. „Okay, Jungs. Ihr habt drei Minuten. Dann müssen wir in Verwandlungen.“
„Drei Minuten für was?“, fragte Ron.
„Um euch zu entschuldigen.“ Sie tauchte wieder hinter ihrem Buch ab.
Harry und Ron sahen sich an.
„Moment mal... du bestimmst, wann und wie und vor allem wie schnell wir uns wieder zu vertragen haben?“, runzelte Harry die Stirn.
„Klar“, kam die kühle Antwort hinter dem Buch hervor.
„Und wenn wir uns weigern?“, erkundigte sich Ron.
Hermine blätterte um. „Dann werde ich euch an diese Bänke fesseln - und ihr wisst beide, dass ich das kann.“ Wie zur Unterstreichung ihrer Worte zog sie ihren Zauberstab und legte ihn neben sich auf den Tisch.
Ron starrte darauf. Harry starrte darauf. Beide hoben den Blick und sahen einander wieder an.
„Jetzt schnappt sie vollkommen über“, murmelte Ron.
Harry kratzte sich am Kopf. „Und ich befürchte, sie meint es ernst...“
„Noch eine Minute.“ Ungeduldig griff Hermine nach dem Zauberstab und richtete ihn auf die beiden, die hastig vom Tisch zurückrutschten.
„Verdammt noch mal, Hermine, lass das!“, japste Ron.
„Ich schrei ihn doch schon gar nicht mehr an!“, beeilte sich Harry zu sagen und hob abwehrend beide Hände.
Hermine steckte den Zauberstab wieder ein und packte ihre Bücher zusammen. „Wunderbar. - Dann können wir ja gehen.“
Auf dem Weg ins Klassenzimmer hielten Harry und Ron respektvollen Sicherheitsabstand zu ihr.
***
„Heute widmen wir uns einer der wohl größten Verwandlungskünste.“ Professor McGonagall wog den Zauberstab in ihren Händen, als sie durch die Reihen schritt. „Der Animagie.“
Beifälliges Murmeln der Klasse ertönte, in dem Harrys leises Seufzen unterging. Er warf Ron und Hermine einen unbehaglichen Blick zu.
„Ich werde Sie mit viel Theorie langweilen müssen, denn eine praktische Übung zu diesem Thema ist in der Regel unmöglich. Nicht alle Hexen und Zauberer tragen die Begabung oder die Ausdauer in sich, zu einem Animagus zu werden. - Wer kann mir etwas über Animagie sagen?“
Jeder sah mehr oder weniger auffällig zu Hermine, doch heute blieb ihre Hand unten. Sie wusste sehr wohl einiges dazu zu sagen, aber war es ihr unangenehm, auch nur ein Wort davon laut auszusprechen.
„Mr Longbottom?“
Neville zuckte zusammen. Er war damit beschäftigt gewesen, Trevor zurück in seine Tasche zu stopfen, aus der die Kröte just in diesem Augenblick entwischt war. „Äh...“, druckste er und ließ sein quakendes Haustier übereilt in der Tasche seines Umhanges verschwinden, „... ähm, das sind Leute, die sich in Tiere verwandeln können.“
Minerva McGonagall zog tadelnd die Brauen hoch. „Ich hatte etwas mehr an Detail erwartet“, sagte sie kühl und ließ den Blick über die Klasse schweifen. „Mr Potter?“
Harry hatte sich über sein Buch gebeugt, in der Hoffnung, nicht aufzufallen, würde er den Blickkontakt mit McGonagall meiden. Zudem glaubte er zu erröten, sobald sie ihm auch nur einmal in ihrer gewohnten strengen, alles erfragenden Art in die Augen blicken würde. Als sie ihn aufrief, hob er den Kopf - und spürte regelrecht, wie sich seine Wangen dunkel verfärbten.
„Können Sie vielleicht etwas mehr als Mr Longbottom zum Thema beitragen?“
„Nun...“, druckste Harry.
Professor McGonagall trat vor seinen Tisch und sah ihn erwartungsvoll an. Zu Harrys Erstaunen nicht so streng, wie sie vorher Neville angeblickt hatte.
„Es gibt zwei Formen der Animagie“, sprudelte es aus Harry heraus. „Zum einen die ererbte, zum anderen die angelernte Animagie. Diese Kunst zu erlernen kann Jahre dauern und erfordert eine Menge an Konzentration und Praxis.“
Minerva McGonagall nickte wohlwollend. „Das ist korrekt, Potter. Sehr gut.“ Sie wandte ihm den Rücken zu und schritt langsam zu ihrem Pult zurück, dabei weiter sprechend. „Könnten Sie uns noch die Eigenheiten der ererbten Animagie erläutern?“
„Es gibt keine genauen genetischen Richtlinien dafür...“ Harry spürte, wie ihm heiß wurde. Selbst seine Stimme kam ihm plötzlich fremd vor - sie klang sehr belegt. Seine Klassenkameraden schienen das allerdings als Nervosität zu deuten. Normalerweise trug Harry nicht sonderlich viel zum Unterricht bei. Er meldete sich selten - und wenn er etwas gefragt wurde, hatte er zuvor meistens einfach nicht aufgepasst und konnte die betreffenden Fragen demnach auch in der Regel nicht beantworten. Die Lehrer schienen ihn ohnehin immer nur dann etwas zu fragen, wenn sie seine Aufmerksamkeit zurück auf den Unterricht lenken wollten.
„Mir reicht eine allgemein gehaltene Aussage“, erwiderte Professor McGonagall.
Harry räusperte sich. „Nun ja, die Fähigkeit der Animagie ist erblich - ähnlich wie andere Fähigkeiten im musischen oder sportlichen Bereich -, aber nicht garantiert. Wenn ein Elternteil eines Kindes ein Animagus war, ist es nicht unmöglich, dass dieses Kind diese Fähigkeit erbt, aber es ist kein Regelfall.“
„Es geht doch.“ Professor McGonagall schenkte Harry ein kleines Lächeln. „Mehr hatte ich gar nicht von Ihnen erwartet. Vielen Dank, Mr Potter. Es scheint, als hätten Sie bereits ein wenig zu diesem Thema gelesen. Letztendlich hat Miss Granger wohl doch einen guten Einfluss auf Sie. - Fünf Punkte für Gryffindor.“
Vereinzeltes Kichern erschallte im Raum. Harry befürchtete, dass seine Wangen inzwischen die Farbe reifer Waldbeeren angenommen hatten, so heiß fühlten sie sich an.
„Nun, gibt es eventuell jemanden unter uns, dessen Vater oder Mutter ein Animagus ist oder war?“ Professor McGonagall blickte erneut in die Runde und ließ sich diesmal viel Zeit. Die meisten der Schüler schüttelten ihre Köpfe oder blickten recht zweifelnd drein.
„Mein Großonkel war einer“, meinte Seamus Finnegan. „Aber sonst niemand aus meiner Familie. Hat sich wohl verlaufen. - Schade, wirklich schade...“ Er seufzte wehmütig und seine Tischnachbarn grinsten.
McGonagall lächelte leicht, schritt an seiner Tischreihe vorbei und blieb erneut vor Harry stehen, der nervös zu ihr aufsah. Sie blickte ruhig und direkt auffordernd zurück. „Demnach haben wir wohl keinen potentiellen Animagus unter uns? Bedauerlich... Ich hätte ganz gerne mal wieder einen an dieser Schule gehabt.“
Harry senkte etwas zu hastig den Kopf. Wieso wurde er das Gefühl nicht los, dass Professor McGonagall ganz genau wusste, dass er einer war? Er hob den Blick wieder und begegnete ihrem. Erneut war er alles andere als streng, sogar ungewohnt freundlich - und weiterhin auffordernd. Sie nickte ihm zu und wandte sich wieder ihrem Pult zu.
„Mein Vater war einer...“
„Bitte?“ McGonagall wandte sich zu ihm um.
Harry holte tief Luft und wiederholte, etwas lauter: „Mein Vater war ein Animagus.“
Die plötzliche Stille im Klassenraum ließ ihn schwindeln. Hätte er doch bloß den Mund gehalten!
„Ah, James? - Das wusste ich ja gar nicht.“ McGonagall neigte den Kopf. „Wahrscheinlich ist es mir entgangen. Oder er hat diese Kunst erst nach seinem Schulabgang erlernt, sonst hätte ich wohl mit ihm zu tun gehabt. Es ist immer eine leidige bürokratische Angelegenheit, einen neuen Animagus registrieren zu lassen. Aber dieses Prozedere ist nun einmal Pflicht.“
„Wieso, Professor?“, fragte Dean verständnislos.
McGonagall wandte sich ihm zu. „Manche Zauberer der dunklen Seite benutzen ihre Fähigkeiten dazu, anderen Schaden zuzufügen. Das wäre einer der Gründe. Und damit man von einem jeweiligen Tier Schlüsse ziehen kann, werden alle Animagi registriert. Auf nicht gemeldete Zauberer und Hexen“, sie rückte ihre Brille zurecht, „stand seit jeher eine Haftstrafe.“
Seamus seufzte verträumt. „Ich wäre dennoch gerne ein Animagus. Obwohl... mein Großonkel konnte sich nur in eine langweilige Schildkröte verwandeln...“
„Oh, es ist unerheblich, welchem Tier Ihre direkten Vorfahren zugetan waren, Mr Finnegan“, warf McGonagall ein und trat nun wieder hinter ihr Pult. „Jeder Animagus entwickelt eine ganz individuelle, allein für ihn bestimmte Tierpersönlichkeit. Genau damit werden wir uns in unseren Theoriestunden befassen. Schlagen Sie also bitte alle Ihre Bücher auf, Kapitel dreiundzwanzig.“
Im geschäftigen Rascheln der blätternden Seiten entspannte sich Harry wieder.
Zum Glück hatte McGonagall nicht weiter nachgebohrt. Er suchte das Kapitel heraus und überlegte. Vielleicht hatte sie nicht bohren müssen, kam ihm ein Gedanke. Vielleicht wusste sie es längst...
***
Minerva McGonagall sah auf, als Harry an diesem Nachmittag ihr Büro betrat.
„Ah, Mr Potter. Ich habe Sie schon erwartet.” Sie schob Arbeiten beiseite, die sie gerade korrigierte. „Setzen Sie sich.“
Harry tat, wie ihm geheißen. Fragend blickte er seine Hauslehrerin an. „Sie wissen es also?“
McGonagall nickte. „Ja. Albus hat mich unterrichtet.“ Sie reichte ihm einen Teller mit Gebäck und Harry nahm ein Plätzchen.
„Und ich muss mich registrieren lassen?“
„Das müssen Sie, leider.“ McGonagall nahm sich selbst eine Waffel vom Teller. „Allerdings denke ich, dass wir mit der tatsächlichen Benachrichtigung an das Ministerium noch warten sollten. Allein schulintern möchte ich es offiziell halten. Unter einigen Lehrkräften, die allesamt der Schweigepflicht unterliegen.“
Harry sah sie verständnislos an.
„Ich werde eine Bekenntnisschrift verfassen, in der ich und Dumbledore bezeugen, dass Sie ein Animagus sind - und wir werden darin festhalten, in welches Tier Sie sich verwandeln, mit sämtlichen äußerlichen Eigenschaften. Von uns als Zeugen unterzeichnet - und zudem als Autoritätspersonen Ihnen gegenüber - können wir somit von einer Registrierung vorläufig absehen. Und sollten Sie erwischt werden, was natürlich niemand von uns hofft, haben wir das Schreiben, durch das eine Haftstrafe abgewehrt und nur ein Bußgeld fällig wird - und natürlich eine sofortige Registrierung. Also bitte ich Sie, Potter, seien Sie vorsichtig, wen Sie in Ihr Geheimnis einweihen. - Ich nehme an, es ist Ms Granger wie Mr Weasley bekannt?“
Harry nickte.
„Sonst noch jemandem?“
„Nein“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Außer Ihnen und Dumbledore natürlich.“
„Sehr gut.“ McGonagall erhob sich, zog einen Fotoapparat aus ihrem Schreibtisch hervor und verschloss die Tür. „Dann bringen wir es schnell hinter uns, bevor es jemand bemerkt. - Ziehen Sie die Vorhänge zu, Potter. Es darf niemand auch nur zufällig sehen, wenn Sie sich verwandeln.“
Harry gehorchte und überprüfte, dass die Fenster auch wirklich uneinsehbar verschlossen waren. McGonagall schob ihren Stuhl zur Seite und musterte den kleinen freien Raum. „Der Platz wird reichen, hoffe ich. Oder verwandeln Sie sich in ein Shire Horse?“
Nun konnte Harry ein Grinsen nicht unterdrücken. „Nein. Ein, äh... ganz normales Pferd, nehme ich mal an. Ich kenn mich nicht aus mit den Rassen.“
„Gut.“ McGonagall zog Pergament und Feder heran. „Wir brauchen ein Foto und das Stockmaß. Dann los - aber treten Sie mir bitte nicht versehentlich gegen meine Vitrine!“
***
Der Dienstag begann zu ihrem Leidwesen wieder mit Zaubertränke. Snapes Rezepte wurden immer komplizierter. So sorgfältig wie möglich schnitt Harry seinen Anteil an Amhluadh-Wurzeln klein, als Professor Leroux das Klassenzimmer betrat. Sie stellte eine Flasche mit brauner Flüssigkeit auf das Pult.
„Der Siabre-Tran, um den Sie gebeten haben, Severus.“
Ron und Harry wechselten einen verstohlenen Blick. Jetzt nannte sie ihn auch noch Severus!
„Es tut mir leid, dass ich Sie wegen dieser Angelegenheit belästigt habe, Professor“, sagte Snape, aber seine Stimme war so unterkühlt und ölig wie eh und je. Er blickte über Leroux hinweg auf die brodelnden Kessel seiner Schüler, runzelte die Stirn und rauschte durch die zweite Reihe hindurch zu Jolante Kilic, deren Kesselinhalt sich gerade schweinchenrosa gefärbt hatte.
„Können Sie nicht lesen oder einfach nicht exakt abwiegen, Kilic?“, fuhr Snape sie an und deutete auf ihr Gebräu. „Wie viel Demun-Kraut haben Sie beigefügt? Sicher mehr als vier Gramm!“
Jolante war rot angelaufen und sah beschämt unter sich.
Mit einer barschen Bewegung seines Zauberstabes reinige Snape den Kessel von dem misslungenen Trank. „Sie sollten dieses Rezept ernster nehmen“, schnappte er. „Vielleicht werden Sie es bald brauchen, wenn ich mir überlege, einen von Ihnen bis Weihnachten zu vergiften!“
In der Klasse herrschte absolute Stille - einzig und allein gestört durch das herzhafte Lachen von Leroux, die Snape im Vorbeigehen einen leichten Klaps auf den Arm gab. „Oh Professor, ich mag Ihren Humor!“, kicherte sie und verließ daraufhin wieder den Klassenraum.
Es war unklar, wer das verdutztere Gesicht machte - die Schüler, fassungslos über Leroux’ Auffassung von Humor, oder Snape, der irritiert über seinen Arm strich und sich wohl zu fragen schien, was in drei Teufels Namen er gesagt hatte, was nicht ernst zu nehmen war.
***
Die folgenden Wochen verliefen ruhig. Ende November stand dann das nächste Quidditchspiel ins Haus: Ravenclaw gegen Gryffindor.
Terry Boot, der neue Mannschaftskapitän der Ravenclaws, und Harry schüttelten sich auf das Zeichen von Madam Hooch hin die Hand.
„Auf ein gutes Spiel“, grinste Terry.
Harry grinste ebenfalls. „Ja, auf ein gutes Spiel.“
Als der Anpfiff ertönte, schossen beide Mannschaften in die Lüfte. Das Spiel verlief vollkommen sauber, aber dennoch rasant. Beide Teams hatten einige gute Tore erzielt und Punktgleichstand, als Harry schließlich vor Cho den Schnatz erwischte. Sie zog gerade noch rechtzeitig den Besen zurück, bevor sie dem Boden zu nahe kam und die Kontrolle über ihn verlor.
„Irgendwann gebe ich den Versuch auf, dich einzuholen“, rief sie ihm zu, grinste aber.
Statt gleich das Feld zu verlassen, gratulierten sich die Spieler gegenseitig. Madam Hooch wirkte sehr zufrieden. „So ein schönes, faires Quidditch habe ich schon lange nicht mehr gesehen“, sagte sie und klopfte beiden Mannschaftskapitänen auf die Schulter. „Respekt euch allen.“
Am Abend feierten die Gryffindors gemeinsam mit den Ravenclaws. Der Großteil der Slytherins beobachtete die ganze Szene mit einer Mischung aus Argwohn und Ekel. Doch keiner von ihnen sah so missmutig drein wie Draco Malfoy.