„Dean“ höre ich ihre Stimme die mich aus meiner Starre holt. Sie klingt wie damals, nur eben erwachsener. 15 Jahre habe ich sie nicht gesehen. 15 verdammt lange Jahre. Wie gebannt schaue ich sie an und weiß gar nicht, was ich sagen soll. Sie sieht so anders aus, als in meinen Erinnerungen.
„Jess“ ist das einzige, was ich sagen kann. Staubtrocken ist mein Mund und mein Herz schlägt noch immer wie verrückt. Ich hab das Gefühl, gleich versagen auch noch meine Beine.
Wie durch einen Nebel höre ich Jamies Stimme. „Läßt Du uns rein, Jessica?“ „Sicher.“ Sie dreht sich um und wir folgen ihr in ihre Garderobe. Weil ich echt Angst habe, jeden Moment hinzufallen, suche ich nach einer Sitzgelegenheit. Als ich das kleine Sofa entdecke bin ich echt froh. Was um Himmels Willen passiert hier gerade mit mir.
Während ich mich setze, schaue ich wieder auf die junge Frau, die da vor mir am Spiegel steht. Sie hat eine Uniform an. Ich glaube, es ist die einer deutschen Polizistin. Man, sie ist echt groß geworden und….wunderschön. Wie ihre Mum. Doch den Gedanken an Maggie verbiete ich mir sofort wieder. Der Stachel von damals steckt einfach noch immer zu tief. Es ist Ewigkeiten her und doch tut es gerade wieder verdammt weh. Ich dachte, ich hätte das längst hinter mir gelassen.
Jess scheint nicht so überrascht zu sein wie ich mich wieder zu sehen. Also hat Jamie sie schon vorher informiert. Ich atme einmal tief ein, schließe meine Augen und sehe die kleine 8jährige Jess vor meinen Augen. Sehe und höre, wie sie ihre Eltern anfleht mich nicht gehen zu lassen. Ihre Tränen sind plötzlich wieder präsent wie schon lange nicht mehr. Als Jugendlicher habe ich oft von dieser Szene geträumt. Aber das ist lange her. Und nun steht da eine Jess, die sich mächtig verändert hat. Aus dem 8jährigen Kind ist eine Frau geworden. Fast hätte ich sie nicht wieder erkannt. Aber ihre Augen und ihre süße Stubsnase, die sind einfach einmalig.
„Dean, Du wusstest nicht, dass ich Dein Co-Star sein werde?“ höre ich ihre Stimme und frage mich, ob sie immer noch so schön singen kann wie damals. Es dauert eine Weile, bis ihre Frage wirklich bei mir ankommt.
„Nein, er hat mich hiermit total überrascht.“ antworte ich ihr und zeige auf Jamie. Soll ich ihm jetzt böse sein? Wie soll ich überhaupt reagieren? Wäre es vernünftig wieder aufzustehen und zu gehen? Aber ich habe meinen Vertrag schon unterschrieben. Und Jess…sie kann doch für all das nichts. Sie war ein Kind. Was hätte sie damals schon tun können. <Sie hat sich nie bei Dir gemeldet> höre ich diese kleine fiese Stimme in meinem Kopf. Aber mein Verstand sagt mir, dass ich ihr das wohl nicht vorwerfen kann. Sie hätte sich sicher gemeldet, wenn sie gekonnt hätte. <Man findet immer einen Weg und schließlich wurde sie älter. Sie wollte nicht.> Mit Macht versuche ich die Stimme zurück zu drängen. Wenn ich sie nicht los werde, dann brauchen wir erst gar nicht anfangen zu drehen. Dann endet das hier in einer Katastrophe. Will ich das?
„Du willst nicht mit mir drehen. Hab ich Recht?“ höre ich ihre Frage. Was soll ich ihr sagen? Will ich?
„Ich hab Dir gesagt, dass es eine Schnapsidee ist, Jamie. Du musst Dir jemand anderes suchen. Ich bin raus.“ Ihr stehen die Tränen in den Augen. Ein Anblick den ich nicht ertragen kann.
„Doch…doch ich….wir machen das.“ Hab ich das wirklich gerade gesagt? Und ich spüre, dass es stimmt. Ich will das. Ich will mit ihr diesen Film machen. Wir sind beide inzwischen erwachsen und sollten die Vergangenheit ruhen lassen. Außerdem sollte sie nicht büßen müssen für Dinge, die ihre Eltern getan haben.
„Wirklich?“ Ich kann die Erleichterung in ihrer Stimme hören „Auch….obwohl….Du willst diese Szenen…..“ Gott, was hat sie nur?
„Hilf mir auf die Sprünge. Ich hab keine Ahnung was Du meinst.“ Langsam finde ich meine Sprache wieder und werde ruhiger. Jessica kann nichts dafür, was damals vor 15 Jahren passiert ist. Und wenn ich ehrlich zu mir bin, dann habe ich sie vermisst. Sie war, sie ist, meine kleine Schwester. Wenn auch nicht blutsverwandt, so sind wir doch wie Bruder und Schwester aufgewachsen. Unsere Zimmer lagen neben einander. Ich habe mit ihr Lesen und Schreiben gelernt und ich war es, der ihr schwimmen und Fahrrad fahren beigebracht hat. Wir haben zusammen Weihnachtsgeschenke für unsere Eltern gebastelt und gemeinsam dafür gekämpft das Maggie und Paul ja zu einem Hund gesagt haben. Soviel verbindet uns.
„Echt? Dir würde es also nichts ausmachen mich….zu küssen….Sexszenen?“
Oh Shit. Das hatte ich bis jetzt wirklich nicht bedacht. Woher auch. Ich weiß ja erst seit 5 Minuten, dass Jess mein Co-Star sein wird. Ich höre kurz in mich hinein und antworte ihr: „Wenn ich ehrlich bin…es wird am Anfang vielleicht komisch sein, aber warum nicht.“ Das hab ich jetzt mal einfach gesagt. Ob ich das wirklich kann, weiß ich nicht. Ja, mir ist schon bewußt, wir kennen uns seit Kindertagen. Aber, da wären wir nicht die ersten. Ein seltsames Gefühl macht sich breit in mir. Eines, dass ich so noch nicht kenne. Aber…ich hatte noch nie Probleme mit solchen Szenen, warum dann jetzt? Nur weil…nein….eigentlich sollte das kein Problem sein.
„Gut. Ich denke auch, dass wir das hinbekommen. Auch wenn Du irgendwie…mein Bruder bist.“ Sie sieht es also genauso wie ich. Und ich hoffe, dieser Gedanke, von Bruder und Schwester wird sich nicht noch als hinderlich erweisen. Aber ich hab auch noch keine Ahnung, wie sich Sam als Regisseurin und Jamie als Produzent die Sexszenen wirklich vorstellen. So à la Fifty Shades oder….diskreter? Wir werden sehen. Und wenn, sicher haben wir da auch ein Mitspracherecht.
„Leute, das ist doch quatsch. Ihr bekommt das hin. Da bin ich mir sicher.“ sagt Jamie. Ich hoffe es für ihn. Es ist sein Film. Sein finanzielles Risiko. Sicher, auch für Schauspieler birgt jeder Film ein gewisses Maß an Unsicherheit. Vor allem, wenn man nicht immer die gleichen Typen spielt. Jamie ist das beste Beispiel. Nach Fifty Shades hat er sich nicht festlegen lassen und ist ein paar Mal auch ziemlich auf die Schnauze gefallen. Robin Hood war ein Rohrkrepierer bevor er wirklich raus kam. Aber er hat immer etwas gewagt. Wer hätte gedacht, dass Mr. Grey und der Killer von Belfast ein Typ für Komödien ist? Er ist einfach super in ‚Barb & Star go to Vista del Mar‘.
„Ich lasse mir aber von Dir nicht verbieten, dass meine Eltern ans Set kommen.“ meint Jessica mit einer festen Stimme und ich weiß nicht, was sie meint. „Warum sollte ich Dir das verbieten?“ Ich verstehe sie nicht. Ich muss die beiden dann ja nicht treffen.
„In jedem Deiner Verträge steht drin, dass die beiden unerwünschte Personen am Set sind. Das gilt plötzlich nicht mehr?“ Was redet sie da?
„Von was redet sie da, Jamie?“ Vielleicht hat er eine Ahnung.
„Sie hat Recht. In all Deinen Verträgen steht dieser Passus drin.“ Ich hatte davon keine Ahnung. Das muss meine Mum veranlasst haben. „Ich denke Gloria läßt das immer reinschreiben.“ erklärt Jamie weiter.
„Du kannst sicher verstehen, dass ich nicht besonders gut auf Deine Eltern zu sprechen bin. Aber gegen Dich hab ich ganz sicher nichts. Im Gegenteil. Das es dieses Passus gibt, davon hatte ich keine Ahnung. Das ist Mums Part. Ich kümmere mich nicht um diese Sachen.“ erkläre ich ihr. Bisher nicht. Aber das wird sich ändern. Was soll der Scheiß? So was ist Kindergarten. Warum tut Mum das?
„Können wir dann mit Euch beiden planen?“ fragt Jamie uns beide. Er scheint ungeduldig zu sein.
„Von meiner Seite steht dem ganzen nichts entgegen.“ sage ich, obwohl mir ein paar Zweifel bleiben.
„Ich werde das schon schaffen.“ meint Jess, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass ihr die Aussicht mit mir zu drehen nicht ganz so gefällt. Oder?
Es klopft an der Türe. „10 Minuten bis zum nächsten Dreh, Jess.“ kommt eine Ansage von draußen.
„Danke, Susi.“ erwidert Jess.
„Dann sollten wir uns langsam wieder aufmachen. Wir haben geplant in der Woche vor Weihnachten in New York zu drehen. Danach werden wir ab Ende Januar in Deutschland drehen. Dean und ich werden uns übermorgen die Location in Baden-Baden ansehen. Wenn das alles so funktioniert, wie wir uns das vorstellen, dann werden wir dort alles drehen können.“ Jamie gibt Jess einen Kuss auf die Wange und geht zur Türe. Dort dreht er sich nochmal um, als Jess spricht.
„Hört sich gut an. Ich hab meine letzten Szenen hier am 15. Januar. Danach wollte ich nach Südfrankreich. Urlaub machen. Passt gut. Die Woche vor Weihnachten hatten wir ja schon besprochen. Weihnachten bis Neujahr bin ich dann in LA bei Mum und Dad.“
„Mir passt das auch. Im Januar werden einige Termine wegen Awardseason anliegen. Die Globes. Aber das wird schon alles hinhauen. Schick mir den Plan per Mail und ich werde die Daten bei Mum blocken.“ füge ich noch hinzu.
„Gut, dann lass uns gehen. Hättest Du Zeit für ein Abendessen Jess? Heute 20 Uhr im Bayerischen Hof?“ fragt Jamie meinen künftigen Co-Star.
„Wenn ich es nicht schaffe, dann melde ich mich. Manchmal müssen wir ewig nachdrehen. Aber heute sah alles gut aus.“
Auf dem Weg raus sehe ich Jamie an, dass er ziemlich zufrieden ist mit sich und der Welt ist. Er hat zwei tolle Namen auf dem Plakat stehen und einen Cast mit einer gemeinsamen Vergangenheit, das bringt Aufmerksamkeit.
„Puh, dann wird das wohl Dein erster Film, wo Du Deinen Co-Star nicht vögeln wirst.“ Er klopft mir freundschaftlich auf die Schulter. <Arsch> denke ich mir.
„Oh, irgendwer wird sich schon finden lassen.“ Ich grinse ihn an. Aber ja, das wäre Premiere. Bisher war ich kein Kind von Traurigkeit. Und meist wurden mir Frauen an die Seite gestellt, die nicht abgeneigt waren. Und Dreharbeiten dauern lange. Man hat viel Zeit abends. Manchmal sind die Nächte ziemlich kalt. Und wir haben eine sehr hübsche Produktionsassistentin. Ich schaue mich um, ob ich sie nochmal sehe, aber sie bleibt verschollen.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass mein Ruf in Sachen Frauen nicht der Beste ist. Das interessiert mich aber auch herzlich wenig. Niemand kann sich beschweren. Ich verspreche nie was und mache von vorne herein klar, dass ich nicht an einer festen Beziehung interessiert bin. Die Frau, bei der sich das ändern könnte, ist mir bisher noch nicht unter gekommen. Was ich suche, weiß ich zwar nicht, aber nie ist da ein Gefühl, dass es wert ist nach mehr zu streben als Sex. Und auf Sex zu verzichten, dass will ich nicht.
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Nach unserem Besuch in den Studios sind Jamie und ich ins Hotel gefahren. Er hat uns Zimmer im Bayerischen Hof reserviert. Da ich die Stadt noch nicht kenne, versuche ich gegen mein Jetleg anzugehen und mache mich auf den Weg in die Innenstadt. Die freundliche Dame am Empfang hat mir einen Stadtplan gegeben und mir die wichtigsten Sehenswürdigkeiten angestrichen.
Ich merke, dass ich Hunger habe und beschließe zum Viktualienmarkt zu gehen. Davon habe ich schon mal gehört und die nette Blondine an der Rezeption unseres Hotels hat mir diesen Platz auch ans Herz gelegt. Mein Weg geht mitten durch das Zentrum der Stadt. Vorbei an der Frauenkirche und am Marienplatz mit dem Rathaus. Überall bleibe ich einen Moment stehen und mache ein paar Fotos. Diese alten europäischen Städte sind wirklich sehr schön. Solche Gebäude findet man in den Staaten ja nicht. Ich werde später ein bisschen was auf meinen Insta Account hochladen. Meine Fans lieben es, zu sehen, wo ich meine Freizeit verbringe. Ich weiß zwar, dass ich dadurch erst auf mich aufmerksam mache, aber das ist ok. Wenn ich nicht erkannt werden will, dann lass ich es einfach. Es wird Tage geben, wo ich lieber alleine bin. Aber heute wäre es ok. Außerdem bin ich morgen schon wieder weg.
Am Viktualienmarkt gehen mir die Augen über. Ich weiß gar nicht, was ich wählen soll. Hier kann ich alles haben. Ich entscheide mich für ein typisches Bayerisches Gericht. Wie nannte es der Herr: „Leberkäsesemmel“ Er hat noch einen Schlag süßen Senf darauf gegeben. Es schmeckt wirklich lecker. Viel mehr sollte ich auch nicht zu mir nehmen. Heute Abend ist ja noch Dinner mit Jess angesagt.
Apropos Jess. Jetzt muss ich mal Mum anrufen. Diese Sache mit der Verbot für Maggie und Peter muss ich klären. Grundsätzlich kann ich sie ja verstehen. Sie wollte mich bestimmt nur schützen. Aber mit dem Abstand von 15 Jahren sollte ich vielleicht endlich einen Schlussstrich unter diese Geschichte machen. Außerdem mit Peter zu drehen wäre nun nicht das aller schlechteste.
Auf dem Rückweg ins Hotel mache ich im Hofgarten Halt und setze mich auf eine Bank. Ich zücke mein Handy und wähle Mums Nummer. In LA ist zwar noch sehr früh am Morgen, aber da muss sie nun durch. Komischer Weise nimmt sie nicht ab. Das macht sie sonst nie. Aber der Ruf geht normal durch. Das hatten wir wirklich noch nie. Dann werden wir das halt ein anderes Mal klären.
Nach meiner Rückkehr ins Hotel gönne ich mir zwei Stunden im Wellnessbereich des Hotels. Wie nicht anders zu erwarten treffe ich dort auf Jamie. Kaum ein Kerl ist so gut trainiert wie er. Kein Wunder, dass er für Christian Grey eine gute Wahl war. Seine Oberarme sind der Hammer. Außerdem wird er ab nächste Woche wohl auch eine Rolle spielen, die körperliche Präsenz erfordert. Da ist tägliches Training unabdingbar.
Wir beide batteln uns ein bisschen an den Hanteln. Das er gewinnen würde, war eigentlich klar. Durchgeschwitzt gehen wir unter die Dusche und verabreden uns für eine Stunde später in der Bar. Jess hat bisher noch nichts von sich hören lassen. Also wird sie wohl kommen.
Und als sie dann, gut anderthalb Stunden später, durch die Türe in die Bar des Hotels tritt, bleibt mir für einen Moment der Mund aufstehen. Fast hätte ich sie nicht erkannt. Mit einem strahlenden Lächeln kommt uns eine junge Frau entgegen, die einfach mit ihrer gesamten Erscheinung ein einziges WOW ist. Und nicht nur Jamie und ich sehen das ganz offensichtlich so. Den anderen Herren im Raum fällt sie auch auf. Jess trägt eine schwarze, locker sitzende Lederhose. Darüber hat sie ein weißes Hemd mit großem Kragen und Manschetten an. Ihr Look wird komplettiert durch einen super stylischen und modernen Pullunder in einem zarten Lavendelton. Grob gestrickt und mit einem ziemlich tiefen V-Ausschnitt. Das Hemd darunter hat sie weit aufgeknöpft und ein Push-up BH zaubert ihr ein Hammer Dekolleté über dem sie einige Ketten drapiert hat. Zu allem Übel dazu hat sie schwarze High-Heels an, die ihre wahnsinnig langen Beine betonen. Ihr Outfit wird abgerundet von einer schwarzen Umhängetasche die gesteppt und unverkennbar von Chanel ist. Diese Frau ist ein einziger Traum. Obwohl sie kein Kleid trägt, nichts auf anhieb sexy zu sein scheint: alles zusammen ist der Wahnsinn. Ihre Blonden langen Haare trägt sie offen und in leichte Wellen gelegt. Und ich frage mich, wie sie sich wohl anfühlen und ob sie immer noch nach Apfelshampoo riechen so wie früher?
„Atmen, Dean, atmen.“ werde ich von Jamie aus meinen Gedanken gerissen.
Was ist nur aus der kleinen Jess geworden, die ich jahrelang in meinen Gedanken hatte?
Als sie bei uns ankommt, bekommen Jamie und ich jeweils einen Wangenkuss. Oh mein Gott: Sie riecht auch noch teuflisch gut. Ich erkenne ihr Parfum: BOSS The Scent. Mein absolutes Lieblingsparfum und Jamie war einst das Markengesicht für die Herrenlinie. Aber unter dem dezenten Parfum rieche ich auch Jess. Genau so, wie ich sie in Erinnerung habe.
„Hat es Euch die Sprache verschlagen?“ fragt sie auch noch.
„Gib Dean ein paar Minuten, er steht kurz vor Herzstillstand.“ meint Jamie und schlägt mir auf die Schulter
„Was hast Du erwartet? Die kleine Jess im geblümten Wollkleid mit Rüschenkragen und weißen Turnschuhen?“ Ja, was hab ich eigentlich erwartet? Das hier aber sicher nicht. Warum nur wirft sie mich in diesem Outfit dermaßen aus der Bahn? In der blauen Uniform heute Mittag sah sie schon gut aus. Aber das hier?
„Hey, Bruderherz überrascht, dass die kleine Jess erwachsen geworden ist?“ Ich weiß nicht, was mich an diesem Satz gerade so aufregt.
„Nein, Schwesterherz“ ich betone dieses Wort, das ich im Moment überhaupt nicht mit ihr in Verbindung bringen will „Du siehst nur einfach umwerfend aus.“ Sie muss mit dieser Bruder, Schwester Scheiße aufhören. Nicht das es doch noch zu Problemen bei unserem Dreh kommt deswegen. Sie muss das aus ihrem Hirn bekommen.
In diesem Moment nehme ich wahr, wie Jamies Handy klingelt.
„Entschuldigt mich einen Moment. Das sind meine Girls. Ich muss da ran gehen.“ entschuldigt er sich bei uns und geht raus aus der Bar.
Wie immer: Für seine Mädchen läßt er alles stehen und liegen.
Ich frage Jess nach ihrem Getränkewunsch und bestelle ihr den gewünschten Champagner. Sie setzt sich zu mir auf den Hocker, den vorher Jamie hatte.
„Darf ich Dich was fragen Dean?“
„Ja, sicher.“ Warum auch nicht?
„Warum hast Du nie auf meine Briefe geantwortet?“ Welche Briefe? Ich weiß nichts von Briefen, die sie mir geschrieben hat und das sage ich ihr dann auch.
„Anfangs hab ich sie mit der Post geschickt. Aber es kam keine Reaktion. Mum meinte, das könnte schon mal vorkommen. Dann hab ich die nächsten halt selbst eingeworfen. Bin mit dem Rad bis zu Eurem Haus gefahren. Als Dad heraus bekam, dass ich durch die ganze Stadt gefahren war, da ist er fast ausgeflippt. Ich musste ihm versprechen, dass ich das nie wieder mache. Die Jahre danach hab ich dann immer wieder versucht eine Reaktion zu bekommen. Ich hab sogar meine Briefe unter falschem Namen abgeschickt und die Adresse einer Schulfreundin angegeben. Aber nichts, gar nichts kam zurück.“
„Jess, ich schwöre Dir, ich habe nie einen Brief von Dir bekommen. Ich dachte immer, Du hättest mich vergessen.“
„Wie sollte das möglich sein? Ich hatte eine schlimme Zeit. Hab wochenlang nicht mit Mum und Dad gesprochen. Ich war so sauer, dass sie Dich haben gehen lassen.“
„Bitte, lass uns nicht bei den alten Geschichten hängen. Wir sollten in die Zukunft schauen. Was damals war, bringt uns heute nicht weiter.“ bitte ich sie. Sie ist aufgewühlt. So wie ich vorhin. Uns beide lässt das alles nicht kalt.
„Das wäre wohl das Beste.“ haucht sie. Aber ich glaube, dass ist leichter gesagt, als getan.
Irgendwie will ich die Konversation nicht abreißen lassen. Ich muss doch noch so viel wissen von ihr. Aber, die Liste für Mum wird immer länger. Ich glaube Jess, wenn sie sagt, sie hat mir geschrieben. Warum auch sollte sie sowas erfinden? Nein, da steckt sicher Mum dahinter. Wenn sie in der Nähe wäre, würde ich ausflippen. Zunehmend bekomme ich das Gefühl, dass sie all die Jahre alles daran gesetzt hat, dass ich keinen Kontakt zur Familie Flynn knüpfe. Und mir hat sie erzählt, sie hätten mich abgeschoben und kein Interesse an mir. Das passt nicht zusammen. Irgendwas stimmt da nicht. Das sagt mir mein Gefühl.
„Fühlst Du Dich wohl hier in Deutschland?“ will ich von Jess wissen.
Sie denkt einen Moment nach und nippt an ihrem Champagner. „Mittlerweile ja. Aber es hat eine Zeit gedauert. Mums Schwester war mir dabei eine große Hilfe. Sie hat stundenlang mit mir die Sprache geübt. Wenn ich drehfrei hatte, dann ist sie mit mir gereist. Wir waren an der Nordsee, im Harz, in Berlin und Hamburg. Nach Köln hat sie mich im Karneval geschleppt. Jetzt fühle ich mich hier irgendwie zu Hause.“
„Und wie man hört, hast Du auch Erfolg mit Deiner Arbeit.“ Ich schaue sie an und versuche meine Bewunderung zum Ausdruck zu bringen.
„Ja, die Leute lieben unsere Serie. Und ein paar Filme hab ich auch schon gedreht. Die Popularität ist vorhanden, aber längst nicht wie bei Dir oder Jamie.“ Sie stoppt und kommt mit ihrem Oberkörper ein bisschen näher zu mir vor. Leise spricht sie weiter: „Vorhin…vor der Türe, standen zwei Frauen. Die beiden waren völlig am durchdrehen. Ihr beiden, in dieser Bar. Die eine hat alle ihre Freundinnen wissen lassen, dass sie gleich mit ‚Dean und Jamie‘ in einer Bar ist. Völlig Crazy.“
Ich ziehe laut die Luft ein. „Nervig. Aber man gewöhnt sich an alles. In Venice kann ich manchmal nicht mehr vor die Türe gehen.“ erkläre ich.
„Bist Du deswegen nach New York gezogen?“ Neugierig war sie schon immer. Musste alles hinterfragen.
„Ja, unter anderem. Da kann man viel besser in der Masse untertauchen.“ versuche ich ihr meinen Umzug zu erklären.
Nachdem Jamie wieder bei uns war, haben wir noch über dies und das gesprochen und ich habe eine Jessica kennen gelernt, die einen wunderbaren Humor hat und deren Ansichten über viele Themen ich auch als meine identifiziere. Mehr und mehr freue ich mich auf unsere gemeinsame Zeit. Zum Abschied habe ich sie zur Bahn gebracht. Über ihrem tollen Outfit trug sie noch einen Burberry Trench. Sie sieht aus wie der Inbegriff der erfolgreichen Frau. Jede Zelle strahlt Selbstbewusstsein aus.
„Würdest Du mir Deine Handy Nummer geben. Dann können wir in Kontakt bleiben, bis wir uns in New York wiedersehen.“ bat sie mich während wir gemeinsam auf dem zugigen Bahnsteig auf ihren Zug warteten.
Natürlich gab ich ihr meine Nummer. Ein Kuss noch und sie verschwand mit einem Lächeln auf den Lippen in der Bahn. Und ich fühlte mich mit einem Mal einsam. So überraschend unser Wiedersehen war, so wunderbar war es. Ich bin mir ziemlich sicher, wir werden eine entspannte Zeit zusammen haben. Unsere gemeinsame Kindheit ist vorbei und vielleicht schaffen wir es ja uns eine Freundschaft aufzubauen. Verrückter Gedanke. Ich war nie interessiert an einer Freundschaft mit einer Frau. Das kann aus meiner Sicht nicht gut gehen. So eine rein platonische Freundschaft. Irgendwann entwickelt der Eine oder der Andere Gefühle. Dann gibt es plötzlich einen Partner und dann kommt es zum Bruch. Aber unsere Ausgangsposition ist ja eine andere. Und vielleicht muss ich mich nur auch mit dieser Bruder Schwester Geschichte anfreunden.