Du bist Arthrax Sundergeer.
„Ich war damals nicht dabei“, sagst du und wirft dem Magier einen Blick zu. „Allyster weiß es.“
Du kannst nur beten, dass Ajis Mentor einen Plan hat.
„Es war reichlich verwirrend“, beginnt Allyster in entschuldigendem Tonfall. „Ich verstehe es selbst nicht genau. Wir waren in einem Auftrag bei Nordstein, als wir von irgendwas angegriffen wurden. Ich weiß nicht, was es war. Irgendeine Magie. Aji wurde getroffen und wurde ohnmächtig, wir fürchteten bereits das Schlimmste … Aber er überlebte, unbeschadet bis auf die Veränderungen.“
„Dann hieltet ihr es für einen Fluch“, erriet Schneebeere. Allysters Erzählung scheint ihn zu überzeugen und du atmest lautlos auf.
„Anfangs ja“, gab Allyster zu. „Irgendeine Nebenwirkung der Magie.“
„Dabei ist das völlig normal. Wandlinge werden in meist unauffälliger Gestalt geboren, das entscheidet sich meist von der Gestalt der Mutter während der Schwangerschaft, beziehungsweise vom Wesen der Mutter, falls sie kein Wandling ist. Sobald sie den siebten Sommer erleben, bricht das Erbe dann durch und sie nehmen zunächst die ursprüngliche Gestalt an. Violettes Haar, lila Augen, wie bei deinem Schüler. Nun lehrt sie meist ein Elternteil, ihre Fähigkeiten zu nutzen.“ Der Druide stockt.
„Könnt ihr es mir beibringen?“, fragt Aji hoffnungsvoll.
Ein Lächeln teilt das gräuliche, zerklüftete Gesicht von Schneebeere. „Ich selbst nicht, aber unter meinem Volk gibt es einige sehr weise, alte Druiden, die sich zu Zeiten verwandeln ließen, als es noch Wandlinge gab. Sie haben die Magie studiert.“
„Und sie können mir helfen?“
„Am besten könnte dir mit Sicherheit ein Wandling helfen, der deine Magie versteht, Aji. Für alle anderen ist es nur Theorie. Aber sie werden dir mit Sicherheit mehr Wissen vermitteln können als ein Kalynorer. Nichts für ungut, Allyster.“
Der dunkelhäutige Magier lächelt dünn. „Alles gut.“
Ihr brecht euer Mittagslager schließlich ab und zieht weiter. Der Wald um euch herum wird zunehmend düsterer. Ihr schlagt euer Nachtlager bei einer der letzten grünen Tannen auf, der Wald vor euch erhebt sich düster und rot. Am nächsten Tag reist ihr durch diesen Wald mit seinen Blutfichten, die sich mächtig und drohend auf einem steinigen Untergrund erheben. Der Boden wird steiniger und ihr nähert euch mächtigen, grauen Bergen, die mit dichtem, riesigem Moos überwuchert sind. Manche dieser Moospolster sind so groß, dass sie Melréd und Atesh bis an den Bauch reichen.
„Wohin reisen wir?“, fragt Allyster am Mittag, als ihr eine kleinere Pause einlegt, erneut bei Pilzen, diesmal mit Wasser als Getränk.
„Zu unserer Hauptstadt, dem Steinrund. Es steht im Gebirge, in einem geschützten Tal. Dort wohnen die Weisen, damit ihr Wissen nicht gestohlen werden kann.“
Allyster wirft euch unter den dichten Brauen hervor einen raschen Blick zu.
Du weißt, worauf er hinauswill, und seufzt wehmütig. Du hast dich gerade an die Gesellschaft der merkwürdigen Baumwesen gewöhnt, und nun musst du dich daran erinnern, dass ihr aus einem bestimmten Grund hier seid. Ihr wollt euch nicht mit den Druiden anfreunden. Ihr steht auf zwei verschiedenen Seiten in einem Krieg, der euch vernichten könnte.
„Ihr sagtet, eure Weisen wurden verwandelt“, sagst du, um dich von den düsteren Gedanken abzulenken, denn Allysters Gedanken scheinen nur noch darum zu kreisen, wie ihr an den Schöpferstein kommen sollt. „Was meintet ihr damit?“
„Nun, wir wurden alle verwandelt“, antwortet diesmal Schattenkraut, der sich sonst eher zurückhält. „Wir waren alle früher einmal Menschen oder Elfen oder Halblinge. Aber wir haben den Ruf des Waldes gehört und sind ihm gefolgt. Der große Baum hat uns akzeptiert.“
„Das … klingt wie ein Bann“, erklärst du ehrlich.
Schattenkraut lacht. „Das glaube ich dir, Arthrax. Aber es ist nicht, wie du denkst. Es ist ein Trost, vielleicht eher wie eine Religion. Der große Baum beschützt und liebt uns, er machte uns zu seinen Kindern. Er könnte auch euch annehmen, wenn ihr es wollt. Doch ihr müsst bereit sein, hinter euch zu lassen, was ihr vorher wart. Ich schätze, dieses Schicksals verlockt euch nicht, denn es kann natürlich auch beängstigend sein. Doch für mich und meine Geschwister war es der Weg zu absolutem Frieden. Hier gibt es keinen Streit. Elfen und Zwerge, Jenseitsvölker oder Kalynorer – das alles spielt für die Kinder des Baumes keine Rolle mehr.“
Du versuchst, dir das auszumalen. Aber obwohl die Druiden stark und groß und schnell sind – vermutlich auch unsterblich, wenn manche seit der Zeit der Wandlinge leben –, bist du doch lieber ein Mensch als ein merkwürdiges Baumwesen. Und Frieden? Wozu brauchst du Frieden? Du bist ein Söldner, ohne Krieg wärst du arbeitslos.
Ihr schweigt alle, sodass die Druiden bald aufstehen und weiterziehen. Ihr sattelt die Pferde erneut.
„Ist es noch weit?“, fragt Allyster.
„Kommt.“ Schneebeere winkt euch, und eilt mit großen Schritten voraus, ebenso der Rest. Ihr erklimmt einen Hügel. „Seht ihr die flache Kuhle zwischen den beiden Gipfeln? Dahinter beginnt das Tal.“
„Dann ist es ja nicht mehr weit“, stellt Allyster fest.
„Lass dich nicht täuschen, Zauberer. Der Weg dorthin führt durch zerklüftetes Land. Wir werden es erst morgen schaffen, solange euren Pferden keine Flügel wachsen.“
Die Druiden schreiten wieder länger aus, doch Allyster lässt sich zu dir zurückfallen.
„Wir müssen reden“, flüstert er dir unauffällig zu. „Was sollen wir jetzt tun?“
„Was meinst du?“
„Wenn wir mit den Druiden in die Stadt ziehen, werden alle dort von uns erfahren“, erklärt der Magier. „Dann können wir vermutlich nicht unauffällig nach dem Stein suchen.“
„Was schlägst du sonst vor?“ Aji sieht zu euch auf. „Wollt ihr etwa fliehen?“
„Nein, wir müssten schon dafür sorgen, dass niemand von uns erfährt.“
Du schluckst. „Du willst sie töten.“
„Vielleicht heute Nacht, wenn alle schlafen.“ Allyster zuckt mit den Schultern. Er scheint sich bei dem Gedanken ebenso wenig wohl zu fühlen. Ihr habt euch mit den Druiden angefreundet, ob ihr es wolltet oder nicht.
„Und wenn wir als Freunde in die Stadt gehen? Vielleicht vertrauen sie uns und wir können herausfinden, wo der Stein ist“, murmelt Aji. „Wir müssen sie nicht töten.“
Allyster zuckt ratlos die Schultern. Aji wirkt ebenso wenig überzeugt.
Du überlegst. Was birgt das geringere Risiko? Von deinen Gefühlen solltest du dich hier nicht leiten lassen. Und ihr solltet auch nicht zu lange die Köpfe zusammenstecken, oder die Druiden schöpfen Verdacht.
Du grübelst und flüsterst schließlich …
- „Wir schlagen heute Nacht zu.“ Lies weiter in Kapitel 23.
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- „Wir tun nichts.“ Lies weiter in Kapitel 24.