Nun also ist es so weit! Seit zwei Monden sind wir nun schon auf den Schiffen. Alles was wir noch besitzen sind die wenigen Dinge, die wir mit uns nahmen. Unsere ganze Welt ist vom Grossen Wasser verschlungen worden. Nun treiben wir hier, nur allein mit uns, einer vollkommen ungewissen Zukunft entgegen. Viele Tragödien haben sich mitlerweile abgespielt. Einige wollten ihre Heimat nicht verlassen und wurden von den Fluten verschlungen, andere kamen wohl mit, sind aber innerlich vollkommen gebrochen, wie entwurzelte Bäume, deren Lebenssaft immer mehr versiegt. Das Land das wir bewohnten..., es war ein Teil von uns. Seit wir nun so scheinbar führerlos auf dem endlosen Meere treiben, erscheint es, uns als hätte man unsere Körper und Herzen zerrissen. Grosse Trauer herrscht unter unserem Volke, Trauer die nun immer öfters auch in Wut und Anfeindungen umschlägt.
Auf dem grossen Schiff, das Kai entworfen hat, fand der ganze Rat der Tiere Platz und auch einige der Sternkinder, darunter Suna und Kai selbst, und noch einige andere Brüder- und Schwestern. Leider aber gibt es wie erwähnt, einige Spannungen zwischen gewissen Tieren und Menschen. Das mussten wir gerade auf schmerzhafte Weise erleben. Denn... es gab bereits die ersten Todesopfer! Das Schreckliche daran ist, das Kai in eine dieser tödlichern Streitereien verwickelt war. Er selbst ist für den Tod eines Tierbruders verantwortlich.
Es schmerzt mich tief im Herzen, wenn ich nun davon berichten muss.
Ich weiss Kangi hat bestimmt in Notwehr gehandelt, doch... es hätte nie so weit kommen dürfen, dass er das Blut eines Bruders vergiesst.
Ich hab ja bereits mal von „Schwarzer Zahn“ berichtet. Er war einst der engste Vertraute von „Weise Schlange“, doch dann begann er immer mehr sich gegen die Sternkinder zu stellen und erfüllte so seinen Auftrag als einer der Alten nicht mehr.
Schwarzer Zahn war nun also auch mit uns auf dem Schiff.
Eines Tages dann erhob sich auf einmal Entsetzensgeschrei an Bord und...im Bauche des Schiffes fanden wir zwei tote Körper: Jener der Schlange „Schwarzer Zahn“ und jener des Jungen, den die Schlange „Goldenes Auge“ besonders liebt. Ich berichtete auch schon von ihm. Es war der Junge mit dem Kobragewand. Er war durch einen Biss von Schwarzer Zahn getötet worden. Es musste aus Eifersucht passiert sein, wie uns Kangi den wir mit blutigem Messer über dem enthaupteten Körper von Schwarzer Zahn kauernd fanden, versicherte. Er hatte die Schlange getötet, weil diese den Jungen getötet hatte.
Grosser Aufruhr erhob sich unter Tieren und Menschenkindern. Einige verlangten Kangis Tod, andere standen hinter ihm und wandten sich gegen die Schlangen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mit Hilfe des Rates wieder alles einigermassen unter Kontrolle gebracht hatte. Mich erschütterte dabei tief die Gewaltbereischaft auf beiden Seiten. Wohin würde das alles noch führen?
Schliesslich, als wieder einigermassen Ruhe einkehrte, meinte ich : „Dieser Fall betrifft vor allem den Klan der Schlangen und den der Raben. Wir werden zusammen versuchen eine Einigung zu erzielen. Es darf nicht sein, dass wir uns auf diesem kleinen Raum gegenseitig bekämpfen. Wir müssen zusammenhalten, sonst wird das unser endgültiger Untergang.“ Der Rat stimmte mir zu und wir beschlossen eine weitere Versammlung einzuberufen, die über das Los von Kai entscheiden sollte. Es gab jeweils fünf Vertreter für seine Seite und fünf für die Gegenseite. Nach langen zermürbenden Disskusionen, bei denen ich wirklich ernstlich um das Leben meines Schützlings fürchtete, wurde entschieden, dass Kai im Bauch des Schiffes eingesperrt würde, damit er nichts mehr anrichten konnte. Mein Herz schmerzte, bei diesem Gedanken, doch es war die einzige Möglichkeit, um auch die Gegenseite einigemassen zufrieden zu stellen. Immerhin war das besser als der Tod.
Was mich beunruhigte waren, das drei der Schlangen sich für die Todesstrafe aussprachen. Auch unter den andern Tieren gab es einige die schwankend waren. Der Rat wenigstens, und darüber bin ich sehr froh, sprach sich einstimmig gegen den Tod Kais aus. Auch „Goldenes Auge“ nahm einen neutralen Standpunkt ein, hatte „Schwarzer Zahn“ doch vermutlich ihren liebsten Schüler umgebracht, was sie mit grossem Kummer erfüllte.
Die Raben sprachen sich mit nur einer Ausnahme für Kai aus, denn er war ja ein Teil ihres Klans. Doch das nur ein Rabe schon gegen Kai war, beunruhigte mich mehr als alles andere. Warum nur konnten wir nicht in Frieden zusammen leben?
So wurde mein ehemaliger Schüler also eingesperrt. Ausserdem bemühten wir uns darum, dass auf den verschiedenen Schiffen möglichst alle Gleichgesinnte zusammen waren, damit es keine solchen Vorfälle mehr gab. Ob das wirklich die richtige Lösung war...wir werden es sehen. Denn wie sagte Bruder Grauwolf so schön: „Wo viele kleine Flämmchen zusammenkommen, kann auch ein Flächenbrand entstehen...“
Nach dem Erlebnis mit ihrer indianischen Urgrossmutter, wurde Nathalie innerst kürzester Zeit wieder gesund. Alles veränderte sich für sie, als sie nun um diese neue Wahrheit wusste. Das Feuer des Enthusiasmus und der Freude kehrte in ihr Herz zurück und auf einmal wusste sie ganz genau was sie tun wollte. Sie würde zusammen mit „Wandernder Bär“ nach Amerika reisen, um die ganze Wahrheit über sich und ihre wahre Bestimmung herauszufinden...
Doch da gab es noch eine Menge zu organisieren. Ihr halber Urlaub war schon fast vorbei. Da sie noch nicht bereit war alles hier aufzugeben, musste sie nach einer Möglichkeit suchen, die ihr wenigstens genug Zeit verschaffte, um in Amerika die gesuchten Antworten zu finden. Dann erst würde sie eine endgültige Entscheidung treffen. Es galt nun jedenfalls so schnell wie möglich einen Flug nach Amerika zu buchen. Wenigstens war nicht gerade Saison. Doch würden ihr zwei Wochen noch reichen, um ihrem Ursprung auf den Grund zu gehen? Sie dachte fieberhaft nach, wie sie es anstellen konnte ihre Ferien noch zu verlängern. Schliesslich beschloss sie wenn möglich noch zwei Wochen unbezahlt zu nehmen. Hoffentlich erlaubte man es ihr. Wenn es sein musste, und davon war Nathalie nun überzeugt, dann klappte es auch. So vertraute sie sich einer höheren Führung an und tatsächlich war sie erfolgreich. Eine Kollegin, die nur selten da war, erklärte sich bereit noch eine Woche für sie zu arbeiten. Die andere konnte sie unbezahlt nehmen. Das war also erledigt.
Bevor Nathalie aber ihren Flug buchte, wollte sie erst „Wandernder Bär“ über ihre Entscheidung informieren. Er hatte ihr gesagt, sie solle ihn einfach rufen, wenn sie sich entschieden hatte. Wie aber sollte sie das anstellen? Sie konnte ja nicht einfach aus dem Fenster seinen Namen schreien, sonst hielten die Nachbarn sie noch für verrückt. So beschloss sie hinauf zu den Dreilinden- Weihern von St. Gallen zu fahren, wo es jetzt zu dieser kalten Jahreszeit nur bei schönem Wetter Leute hatte. Der Tag den sie aussuchte war besonders schlecht und sie würde schön für sich sein, wenn sie nach ihrem Lehrer rief.