Schliesslich sah sie in der Ferne ein Licht auftauchen und...kurz darauf standen sie in einer seltsamen Welt. Sie befanden sich auf einem Felsvorsprung, von dem aus sie einen guten Rundblick hatten. Alles schien fast nur aus Wasser zu bestehen. Weit in der Ferne erblickte sie eine einsame, grüne Insel inmitten des Ozeans. Wie auf Adlerschwingen gelangten sie dorthin und Nathalie blickte sich um. Einige Zelte aus Decken und Tierhäuten befanden sich hier. Man hatte ein Art Dorf erbaut. Mit Erstaunen beobachtete Nathalie wie Tiere und Menschen hier gleichermassen ein und aus gingen. Am Ufer befanden sich eine Menge angelegter Schiffe, sehr grosse Schiffe dann noch, besonders eines davon erinnerte sie irgendwie an die Arche Noah aus der biblischen Geschichte.
Ein besonders eindrückliches Zelt befand sich in der Mitte des seltsamen Dorfes. „Wollen wir mal dort rein, der Grosse Rat ist gerade zusammengekommen. Eine Art Gerichtsverhandlung findet statt,“ sprach der Wolf. „Ja...wenn du meinst,“ gab Nathalie etwas unsicher zur Antwort.
Sie betraten das Innere des provisorischen Zeltes und in diesem Augenblich fiel ihr Blick auf ein junges Mädchen, das gerade das Wort ergriffen hatte. Es war ein sehr schönes Mädchen mit Augen wie Regenbogenobsidian, langem glänzendem Haar und bekleidet mit einem weissen Hirschledergewand. Über ihren Schultern hing ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen. Der Bogen war mit Sehnen verstärkt und geschmückt mit weichem Fell. Die Pfeile bestanden aus Holz und ihre Schäfte waren aus weissen Federn.
Das Mädchen schien aufgeregt zu sein. In der Mitte des Zeltes kauerte ein Jüngling, ebenfalls sehr hübsch, der optisch sehr zu dem Mädchen passte. Doch es ging ihm nicht gut. Der ganze Glanz war aus seinen Augen gewichen...
Heute wurde über Kais weiteres Schicksal entschieden. Er musste vor den Rat treten. Es gab wie üblich eine Verhandlung, wo Ankläger und Verteidigung sich gegenüber standen. Ich habe noch nie so etwas Schlimmes erlebt! Da war soviel Hass, soviel Unstimmigkeit zwischen Tieren und Menschen. Die Ankläger forderten für Kai erneut die Todesstrafe. Der Rat der Weisen tat alles um zu vermitteln, doch es gelang ihm nicht. Es wurde wild durcheinander geredet. Die Ankläger, alles Tiere sagten, dass sie sich vom Verbund der Klans lossagen würden, wenn Kangis Mordtat nicht auf gerechte Weise gesühnt würde. „Ein Leben, gegen ein Leben!“ schrie die Schlange, die wir Braunhaut nennen und die der Sohn von Schwarzer Zahn ist, der sein Leben verlor. Der Anführer der Berglöwen beschuldigte Kai zusätzlich der Aufwiegelung der Menschen gegen die Tiere. Der Dachs stimmte ihm zu, ebenso auch der Luchs. Sie alle beschimpften Kai und meinten, dass sie das Vertrauen in die Sternkinder endgültig verloren hätten. Die Sternkinder ihrerseits beschimpften die Tiere und sagten, dass sie den Respekt vor ihnen verloren hätten und sie in Zukunft allein leben würden. „Wir werden keine Rücksicht mehr nehmen, wenn ihr Kai das Leben nehmt!“ schrien sie . „Wir werden euch alle jagen und uns mit euren Fellen schmücken. Wir haben gute Waffen, ihr könnt uns nicht aufhalten!“
Mein Geliebter kauerte währenddessen voller Verzweiflung inmitten des Kreises von Feinden und Freunden. Er brachte kein Wort heraus. Die langen Tage der Gefangenschaft hatten in ihm etwas gebrochen. Das Feuer in seinen Augen war erloschen, er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Ich empfand schrecklichen Schmerz und Wut über diese ganze Situation und schliesslich konnte ich es nicht mehr mit ansehen. Ich trat neben Kai und erhob meine Stimme. „Wie könnt ihr alle nur so voller Verachtung sein!“ schrie ich. „Habt ihr denn alles vergessen was uns einst verband? Habt ihr vergessen was wir voneinander lernten, wie wir in Frieden und Eintracht zusammen lebten! Ihr Tierbrüder und Schwestern! Ihr wart unsere Vorbilder, unsere Lehrer und unsere Freunde. Ihr habt uns alles beigebracht um zu überleben, dank euch konnte diese Erde für uns zur Heimat werden. Ihr seid so voller Zorn, dabei müsste das alles doch gar nicht sein. Das mit Schwarzer Zahn war ein unglücklicher Zufall. Er hat ein Menschenkind getötet, er war es der uns den Krieg erklärte...! „Die Sternkinder haben uns schon längst den Krieg erklärt!“ kreischten die Tiere. „Sie haben unnötig viel von uns getötet und mit unseren Fellen vor den andren Zweibeinern geprahlt.“ „Ich weiss das!“ rief ich doppelt so laut, um die wütenden Stimmen zu übertönen. „Doch deshalb könnt ihr doch nicht alle Sternkinder bestrafen!“ Ich wandte mich nun an meine Menschengeschwister: „Ihr seid genauso schuldig an diesem Streit hier, alle tragen ihre Schuld daran. Ihr stösst unüberlegte Drohungen aus! Drohungen die noch mehr Unfrieden stiften! Wo ist euer Respekt für die Tiere geblieben? Sie haben uns so viel geholfen, sich uns sogar als Nahrung angeboten, damit wir nicht verhungern müssen! Sie sind die Alten, von denen wir lernen dürfen. Schwarzer Zahn war ein Feind des Friedens , genauso wie jene Menschen Feinde des Friedens sind, die sich nicht an die Urgesetze halten. Wir sind eine grosse Familie, wir alle!“
„Diese Tiere sind nicht unsere Familie! Nicht mehr!“ schrieen die Sternkinder. „Ihre Zeit ist abgelaufen. Nun sind wir dran. Wir sind stärker und klüger. Wir haben viel gelernt und darum, brauchen wir sie nicht mehr!“ „Ihr Elenden!“ brüllte der Herr der Pumas und seine Stimme liess alles erzittern. Er setzte zum Sprung an. Doch da erhob sich der Rat und stellte sich zwischen die streitenden Menschen und Tiere. Vater Grauwolf sträubte sein Nackenfell und knurrte bedrohlich, Grosser Adler öffnete seine weissen Schwingen und fixierte den Berglöwen mit seinen scharfen Augen, Bruder Bison gesellte sich zu ihnen und senkte seine Hörner, genauso wie der Hirsch es tat. Die Schlange Goldenes Auge zischte gefährlich. Alter Kojote fletschte wie Vater Wolf die Zähne. Zu ihnen gesellten sich flügelschlagend der Rabe, die Krähe und die weise Eule. Selbst die Schildkröte half mit die Streitenden auseinander zu halten An ihrer Seite das freundliche Reh. Ich stellte mich ebenfalls in die Reihe des Grossen Rates, ebenso wie einige anderen der Allessehenden. Vater Grauwolf ergriff das Wort: „Wir werde nicht zulassen, dass ihr euch gegenseitig in Stücke reisst. So lange wir da sind, werden wir jeglichen Anfeindungen entgegentreten. Wir haben einst eine Aufgabe übernommen, eine überaus wichtige Aufgabe! Das gilt für alle Tiere, doch ebenso auch für die Menschenkinder. Es ist unser Ziel in Frieden zusammenzuleben, in einer Gesellschaft wo jeder seine eigene Aufgabe innehat. Keiner hier ist weniger wert als der andere.“ Sein Blick fixierte nun vor allem die Menschen, welche die letzten unüberlegten Äusserungen gemacht hatten. „Die Sternkinder dürfen sich nicht anmassen sich über die Tiere zu erheben und die Tiere sollen sich ihrer wichtigen Aufgabe als Alte wieder wahrlich bewusst werden! Sunkmanitutanka hatte vollkommen recht mit ihren Äusserungen. Wir sind alle eine grosse Familie. Wir sind ein Körper, der all seine Teile braucht. Es braucht die Menschen und die Tiere gleichermassen. Wenn sich eines gegen das andere stellt, werden beide irgendwann scheitern. Dieser Streit wegen Kai, ist doch eigentlich nur ein Vorwand gewesen, um schon längst bestehende Feindschaften zu schüren. Es geht hier eigentlich gar nicht wirklich um Kai, oder...Schwarzer Zahn, es geht um tiefsitzendere Differenzen die beigelegt werden müssen...“ Protest wollte sich erheben, doch der Rat gab unmissverständlich zu verstehen, dass es jetzt genug war. Bruder Bison trat vor und blickte einen Moment lang bedächtig in die Runde. Er war eine stattliche Erscheinung mit seinem schwarzbraunen, zottigen Fell, dem massige Körper und dem kräftigen Nacken. „Es ist Zeit, dass wir alle wieder dankbarer werden,“ sprach er. „Wir haben so Vieles von Wakan Tanka bekommen. Nach langer Irrfahrt hat er uns diesen Flecken Land hier gegeben. Er hat dafür gesorgt, dass wir überleben. Abgesehen von den Toten, die wir selbst zu verantworten haben, sind alle heil hier angekommen und das Land vergrössert sich täglich. Bald werden wieder Bäume wachsen, grünes Gras wird die Erde überziehen und ein neues Zeitalter beginnt für uns. Wir haben ein zweites Leben bekommen und können ganz von vorne beginnen. Es ist eine gute Gelegenheit einander wieder näher zu kommen. Wir brauchen uns gegenseitig, um alles wieder aufzubauen. Wendet euch wieder mehr dem Grossen Geist zu, betet zu ihm und versucht in euch den Frieden zu finden, dann findet ihr ihn auch mit den andren Mitgeschöpfen. Nehmt euch ein Beispiel an Schwester Reh! Hat nicht ihr Vorfahre einst durch seine Liebe und Freundlichkeit den Dämon des Hasses und des Zorns besiegt?“ Das Reh trat nun etwas scheu vor und sprach: „Mein Vorfahre wusste um das grosse Gut der Liebe und des Mitgefühls. Wir müssen uns wieder auf diese Güter besinnen, nur so können wir wieder zueinander finden. Alle sind dazu aufgerufen das zu tun. Bitte bemüht euch darum!“
Einen Moment lang glaubte ich die Worte würden wahrlich zu den Herzen der verfeindeten Parteien vordringen, denn sie waren ganz still geworden. Doch schliesslich erhob die Schlange Braunhaut erneut das Wort: „Das alles mag ja schön und gut sein Schwester Reh, doch wenn wir in Frieden leben wollen, müssen auch jene zur Rechenschaft gezogen werden die gegen das Gesetz verstossen haben.“ Ihr heimtückischer Blick fixierte Kai. „Er ist und bleibt ein Mörder, der meinen Vater umbrachte. Was auch immer mein Vater getan hat, Kangi hatte nicht das Recht ihm das Leben zu nehmen. Wo kämen wir hin, wenn jeder einfach den andren umbringen würde, aus welchen Gründen auch immer.“ „Aber Kai hat in Notwehr gehandelt!“ rief ich aus. „Natürlich war es nicht richtig, aber er hat nicht den Tod verdient deswegen!“ „Da wäre ich nicht so sicher,“ zischte die Schlange und ihre Mitstreiter stimmten ihr zu. Wieder drohte der Streit zu eskalieren. Doch der Rat war auf der Hut.
Die Eule, auch genannt der weise Nachtadler ergriff nun zum ersten Mal das Wort: „Ich glaube nicht, dass der Tod Kais der richtige Weg wäre. Dann müssten wir immer wieder jemanden zum Tode verurteilen, unter anderem...auch dich Bruder Puma, denn du und deine Klans-mitglieder haben ebenfalls getötet. Sollen wir euch nun ebenfalls alle dem Tode überantworten?“ die Berglöwen wollten entrüstet protestieren. Doch die Eule sprach ungerührt und mit klarer Stimme weiter. „Natürlich würdet ihr nun gerne allerlei Gründe anführen, die euch ja schliesslich zu dieser Tat getrieben haben. Doch würden wir eurem Verständnis von Gesetz nachkommen, dann müssten wir euch trotz der besten Gründe hinrichten lassen. Wenn wir aber einst mit dem Töten beginnen, müssen wir immer wieder töten. Das ist nicht unsere Aufgabe und nicht unser Ziel, unser Ziel ist es, den Frieden zu erhalten und Leben zu fördern nicht es zu zerstören. Das ist auch im Sinne des grossen Manitus. Ihr solltet euch mal an das erinnern, was uns einst von unseren Vorfahren überliefert wurde. Bruder Krähe wird euch bestimmt gerne die alten Schriften zeigen, über die er Wächter ist. Darin stehen Gesetze die nach wie vor Gültigkeit haben und immer haben werden z. B. :
-Lasst euch bei eurem Handeln nicht von Eigennutz leiten.
-Erkennt immer das Wohl des ganzen Volkes.
-Habt nicht nur die gegenwärtige, sondern auch die zukünftigen Generationen im Blick, die Geborenen und die noch Ungeborenen!
Das sind Grundpfeiler unserer Gesellschaft, sie waren es schon immer. Vegesst das nicht! Tod zieht nur noch mehr Tod nach sich, Hass zieht nur noch mehr Hass nach sich und Krieg zieht nur noch mehr Krieg nach sich. Denkt doch nur mal an eure Nachkommen, an die Nachkommen der Tiere und der Menschen! Wenn wir jetzt keinen Weg zusammen finden, wird das tiefgreifende Konsequenzen für sie haben. Wollt ihr ihnen das wirklich antun, nur wegen dieser dummen Geschichte?“
Die Worte der Eule schienen nun wirklich Wirkung zu zeigen, denn die meisten der Anwesenden wurden auf einmal sehr kleinlaut. Irgendwie wollte niemand mehr so richtig protestieren. Die Augen von Braunhaut funkelten als einzige immer noch von ungebrochenem Hass erfüllt. Sie wandte sich zischend ab und verliess das Zelt. Alle schauten ihr nach, doch keiner machte Anstalten ihr zu folgen. „Nun gut...“ ergriff der Herr der Pumas das Wort. „Wir werden Kais Tod nich weiter fordern. Doch wir erwarten, dass er sobald das Land gross genug geworden ist, verbannt wird. Wir haben ebenfalls getötet und werden deshalb von uns aus genauso weggehen. Mein Klan und ich treten aus der Klansgemeinschaft aus. Wir werden in Zukunft unsere eigenen Wege gehen, als... Einzelgänger. Wir werden die Sternkinder von uns aus nicht mehr angreifen, doch wenn sie uns bedrohen, dann werden wir uns wehren.“ „Dasselbe gilt für uns,“ sprach Spitzohr- Anführer des Luchsklans. „Wir gehen in Zukunft ebenfalls unsere eigenen Wege. Wir sind den Sternkinder nicht von Grund auf feindlich gesinnt, doch wir trauen ihnen nicht mehr und werden auch nicht mehr ihre Lehrmeister sein.“ Der Dachs sprach: „Wir werden versuchen hier zu bleiben, doch sollten die Anfeindungen von Seiten der Menschen zu gross werden, werden wir ebenfalls von hier weggehen und nie mehr wiederkehren.“ „Was ist mit dem Klan der Schlangen?“ fragte die Schlange Goldenes Auge. „Wird er hierbleiben, oder auch gehen?“ Die zwei übrig gebliebenen Schlangenbrüder, die mit Braunhaut gekommen waren erwiderten: „Das ist für uns schwierig zu entscheiden. Einige sind der Meinung von Braunhaut, andere wiederum fühlen sich noch immer mit dem Rat verbunden, da du Goldenes Auge ja zu ihm gehörst. Letztere werden wohl hierbleiben und versuchen in Frieden mit den Sternkindern zu leben, andere aber werden gehen.“ „Werdet ihr gehen?“ „Wir werden vorläufig bleiben und unser Bestes versuchen.“ Ein Funken der Freude blitzte in den Augen der Grossen Schlange auf. „Das ist gut,“ sprach sie. „So geht nun, wir müssen uns beraten!“ Alle ausser dem grossen Rat mussten nun den Raum verlassen, auch ich. Ungeduldig wartete ich das Urteil ab, auch wenn ich bereits ahnte wie es ausfallen würde.
Einige Zeit später kam Kai mit gesenktem Haupt aus dem Zelt heraus. Ich lief sofort zu ihm hin. „Ich...muss von hier fortgehen, sobald das Land gross genug ist,“ sprach er mit belegter Stimme.“ Tief erschüttert schloss ich ihn in die Arme. „Ich habe sowas geahnt. Vielleicht ist es ja besser so. Auf jeden Fall komme ich mit dir. Ich werde dich nie mehr verlassen.“ Kangi seufzte tief und als er seinen Kopf gegen den meinen lehnte, spürte ich seine warmen Tränen auf der Haut.
So also sind wir nun führerlos geworden. Wir müssen unseren eigenen Weg gehen, ohne den Beistand des Rates, ohne den Beistand unserer Freunde der Tiere. Ach Mato! Würdest du doch noch leben. Vielleicht könntest du uns helfen! Warum nur bist du so früh von uns gegangen? Warum hast du mir so eine Last aufgebürdet? Was soll ich denn noch weiter in dieses Buch schreiben? Es gibt bald nichts mehr, worüber ich schreiben kann. Mein Herz fühlt sich an wie ein tiefes, schwarzes Loch. Ich bin ohne Hoffnung, ohne Perspektiven. Genauso wie mein Geliebter Kai, der durch unglückliche Umstände in diese Lage geriet. Wir sind wie entwurzelte Bäume, die keine Heimat mehr haben. Denn unsere Heimat wurde uns genommen!...