Grinsend gebe ich Mona die Faust.
»Na? Ready, Luce?«, fragt sie mich.
»Immer doch.«
Wir fangen an Spielzüge durchzugehen, planen unsere Aktionen noch einmal im Detail.
»Mädchen, los geht’s«, brüllt Coach Warren und unterbricht uns.
Er kommt auf uns zu gehumpelt, ein diabolisches Lächeln im Gesicht.
»Macht euch dieser Gesichtsausdruck auch so Angst wie mir?«, fragt Hailey uns, jedoch mit zuckenden Lippen, als muss sie verhindern zu grinsen.
Ein warmes Gefühl rauscht durch mich hindurch, als ich mein Team um mich habe.
Bei uns angekommen, schlingt der Trainer den Arm um meine Schulter, während wir uns zusammen mit dem Team Richtung Eingang der Turnhalle bewegen.
»Und Champ, alles klar?« Die Baseballcap tief ins Gesicht gezogen, mustert er mich.
»Jup«, antworte ich ihm fröhlich.
Heute ist das erste Spiel der Basketball Play-Offs.
Vor der Eingangstür löst er sich von mir und klopft mir auf die Schulter. »Geh dich Umziehen.«
Mit meinen Teamkolleginnen betrete ich das Gebäude, wo uns dieser typische Sporthallengeruch empfängt.
Eine Mischung aus Schweiss, Ehrgeiz und Spass.
Zu zwölft gehen wir in unsere Umkleide hinein. Wir ziehen unsere rot-weissen Trikots an mit dem Seeadler drauf.
Ich binde mir meine Bryant-Schuhe fest zu. Dann ziehe ich mir die Kniestützen an und die für den Ellbogen streife ich mir über den rechten Arm.
Mit der Flasche in der einen und meinem Basketball in der anderen Hand, warte ich bis alle die Kabine verlassen haben und schliesse dann die Tür hinter mir.
Ich muss die Umkleide als Letzte verlassen, sonst kriege ich eine Krise.
Mein Dad hat früher immer zu mir gesagt, dass es als Sportler wichtig ist Rituale zu haben, auf die man sich verlassen kann, die einem Halt geben, aber trotzdem ist es komisch.
Ich habe das Gefühl, dass das eine Zwangsstörung ist und nicht bloss ein Ritual vor einem Spiel.
Bei unserem Glück ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass wir im Flur auf unsere Erzfeinde, die Mira Cost High School beziehungsweise die auf die Mustangs treffen.
Jennifer, der Captain ihres Teams, baut sich vor mir auf, die Hände in die Hüften gestützt.
»Und Lucinda? Hast du auch all deine Tabletten eingeworfen?«
Ich lasse ein schmales Lächeln aufblitzen.
Diese miese Schlange erinnert mich jedes Mal bei unserer Begegnung an einen Vorfall von vorletzter Saison.
Da hatte ich einen Anfall gekriegt, weil der Schiedsrichter den Mustangs einen Freiwurf im Play-Off Finale zugestanden hatte, der völlig ungerechtfertigt war.
Ich hatte gebrüllt wie unfair das sei und mit ziemlich üblen Wörter um mich geschmissen.
Dann war ich des Feldes verwiesen worden, was mich noch viel wütender gemacht hatte.
Jennifer hatte den Wurf natürlich versenkt und die Mustangs haben das Spiel für sich entschieden.
Nach dem Spiel mussten sie uns ihren Sieg, wie könnte es anders sein, unter die Nase reiben, was das Fass zum Überlaufen brachte.
Ich konnte die Wut noch immer in meinen Gliedern spüren, als wäre es erst wenige Sekunden her.
»Oh die armen Sea Hawks haben verloren, weil ihr Captain eine Geisteskranke ist«, feixte Jennifer nach dem Spiel.
Ich sagte mir, dass es keine Rolle spielte wie sie mich nannte.
Alles ist gut, Lucy. Hör einfach nicht hin.
Mein Atem beruhigte sich langsam wieder.
»Hat die Tabletten nicht eingenommen«, machte sie weiter.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten, grub die Fingernägel in meine Haut, um mich von meiner Wut abzulenken.
»Von ihrer Familie verstossen. Muss hart sein zwei perfekte Geschwister zu haben für die deine Eltern alles tun würden, während sie dich wie eine Missgeburt an deine Grosseltern abgeschoben haben.«
Das war nachdem ich von meinem Auslandssemester zurückgekommen war und seit etwas mehr als neun Monaten bei meinen Grosseltern lebte.
»Misshandelt, verstossen. Was sind das für Narben, da an deinem linken Arm?« Sie genoss es richtig mir diese Dinge an den Kopf zu schmeissen.
Aber das Schlimmste war, dass alles, was sie aufzählte sogar wahr war.
»Ignorier sie«, flüsterte Hailey mir zu.
Dasselbe sagte ich mir in Gedanken.
Es war als ob Michael Jordan zum finalen Dunk ausholte. »Ich wette deine Eltern haben dich bereits vergessen. Völlig aus ihrem Leben gestrichen.«
Das war zu viel.
»Lass meine Familie da raus, du verdammtes Miststück«, schrie ich, als ich mich auf sie stürzte und ihr den heftigsten Haken versetzte, den ich je geschlagen hatte.
In ihrem Kiefer knackte es, genau wie in meiner Hand.
Blut schoss ihr aus dem Mund, während sie mich angewidert anstarrte. Meine Hand schmerzte furchtbar, aber es war mir egal.
Sie hatte es verdient.
Sanitäter kamen und hatten sich um Jennifer gekümmert. Ich stand bloss da, mit hängenden Schultern, hinter mir mein Team, dass ich mehr nicht hätte enttäuschen können. Ich sah es in ihren Augen. Es war dieser Blick; eine Mischung aus Unglaube und Enttäuschung.
Also tat ich, was ich besser konnte, als alles andere.
Ich lief davon.
Mit Tränen in den Augen rannte ich aus der Halle raus. Zum Glück war es für einen Februarabend ziemlich warm, während ich die Strassen von Redondo Beach entlanglief.
Als ich am Strand ankam, wurden meine Schritte langsamer.
Bei meinem Lieblingssteg lehnte ich mich an einen der Pfähle und starrte auf das weite Meer hinaus.
Ich betrachtete seufzend meine Hand, versuchte meine Finger zu bewegen, was ziemlich wehtat. Spontan hätte ich auf einen Knochenbruch getippt, aber ich hatte keine Ahnung.
Stundenlang sass ich da, schluchzend, müde und voller Selbsthass.
Ich hatte die Schritte nicht gehört, aber auf einmal erklang eine Stimme hinter mir. »Weißt du, Lucy, ich hatte früher ein ähnliches Problem wie du.«
Starr hielt ich den Blick weiter auf den Ozean vor mir gerichtet.
Coach Warren setzte sich neben mich in den Sand.
»Ich war ein Roudie. Talentiert, wie du, aber aufbrausend. Vollkommen loyal dem Team gegenüber, aber impulsiv und leicht zu provozieren. Auch mir hat das zwischendurch einiges an Schwierigkeiten im Team bereitet, aber mein Trainer hat mir da durchgeholfen ebenso wie meine Kollegen.«
Ich drehte den Kopf um ihn zu mustern.
»Ich will dir helfen, Lucy. Aber du musst die Hilfe zulassen«, sagte er leise.
»Sie hat es verdient«, murmelte ich trotzig.
Der Coach stiess ein Lachen aus und schüttelte den Kopf. »Ich war genauso stur wie du. Wie du habe ich stundenlang in der Halle gestanden, habe einen Korb nach dem anderen geworfen, bis ich zufrieden war. Einen Trick tausende Male nacheinander gemacht, bis ich das Gefühl hatte, dass ich ihn im Schlaf konnte. Ich glaube, du bist sogar noch sturer als ich.«
Ich wusste nicht was ich darauf erwidern sollte.
Dass ich ein sturer Esel war, hatte ich schon oft zu hören bekommen.
»Weißt du was? Wir machen einen Code ab«, beschloss er.
Stirnrunzelnd schaute ich ihn an.
»Was für einen Code?«
»Na, wenn es einen Moment gibt, in dem du das Bedürfnis hast, jemandem eine runterzuhauen, sagst du diesen Code und wir können die Situation entschärfen.«
Ein leichtes Lächeln zupfte an meinen Lippen. »Sie sind echt ein cooler Coach. Aber die Standpauke wird noch kommen, stimmt’s?«
»Wird sie wohl, weil dir noch einiges bevorsteht, Champ, aber das kriegen wir hin. Also, schon ‘ne Idee für den Code?«
»Kennst du die Serie Friends?«
Mit hochgezogenen Augenbrauen sieht er mich an. »Kennst du die Serie Friends?«
Nun musste ich wirklich grinsen. »Kaum zu glauben, aber ja, ich kenne die beste Serie, die es je gab.«
Lachend schüttelte Warren den Kopf. »Du bist etwas ganz besonderes Lucy. Und das meine ich nicht nur aufs Basketball bezogen. Sondern auch auf dich als Person.«
Seufzend schlug ich die Augen nieder.
Eigentlich sollte man sich freuen, wenn man als besonders bezeichnet wurde, aber ich konnte es einfach nicht.
Denn »besonders« war ein Synonym für »anders«.
Und »anders« war ein Antonym von »normal«.
Ich war eben nicht normal.
»Unagi wäre doch ein passender Code, meinst du nicht?«, fragte ich ihn schief grinsend.
Er erwidert das Grinsen und nickt.
Seither sage ich im Spiel, Training oder neben dem Feld, wenn ich kurz davor bin auszurasten, »Unagi« und zusammen entschärfen wir die Situation. Es hilft mir mich zu konzentrieren.
»Also Champ... Jetzt müssen wir leider noch zum etwas unangenehmeren Teil übergehen.«
»Darf ich raten?«, fragte ich feixend.
Er schüttelte bloss den Kopf, was ich als Zustimmung befand.
»Ich werde ins Büro des Rektors zitiert. Wieder einmal. Ich werde gesperrt, für zwei, nein eher drei Monate so hart wie ich zugeschlagen habe.« Warren versuchte sein Lachen als Huster zu kaschieren, was nicht wirklich klappte. »Eine Entschuldigung bei der lieben Jennifer, Sozialstunden? Und ich muss den Captain-Titel abgeben.«
»Du hast Talent, nicht nur im Basketball«, meinte er schnaubend. »Ich glaube zehn Sozialstunden. Aber du wirst nur für zwei Monate gesperrt.«
Ich seufzte. »Das mit den zwei Monaten trifft sich gut, weil ich mir glaube ich die Finger gebrochen habe.«
Erschrocken schaute der Trainer mich an. »Zeig mal deine Hand.« Ich hob meine Hand. Sie war mittlerweile blau angeschwollen, meine Finger etwa doppelt so dick wie sonst.
»Champion, wie fest hast du eigentlich zugeschlagen?«, fragte er mich ungläubig.
Ich zuckte die Achseln. »Ric wird stolz auf mich sein.«
»Ric Mesos?« Vorsichtig berührte er meine Hand. Schmerz schoss durch meinen ganzen Körper und ich zog zischend Luft ein.
»Er ist mein Boxtrainer.«
Warren lächelte schief. »Ich weiss wer Ric ist. Weil er mein Bruder ist.«
Mir fiel die Kinnlade runter.
Schon wieder lachte er. »Jetzt schau nicht so ungläubig.«
»Aber ihr habt überhaupt keine Ähnlichkeit«, stammelte ich, während wir aufstanden.
»Wir sind nur Halbbrüder. Aber wir haben ein sehr enges Verhältnis.«
Ich fragte mich, wie ich das nicht hatte wissen können. Warren war seit über zwei Jahren mein Trainer und auch mit Ric trainierte ich schon fast solange.
Langsam liefen wir zurück Richtung Stadtzentrum.
»Ihr seid beide echt tolle Coaches«, murmelte ich, während ich versuchte den Schmerz in meinen Fingern zu verdrängen.
»Du hast das Herz am rechten Fleck«, sagte er mit einem sanften Ausdruck in der Stimme.
Die nächsten zwei Monate waren dann echt schlimm. Wie sich herausstellte hatte ich mir den Mittelhandknochen an Zeige-, Mittel- und Ringfinger gebrochen, was bedeutete, dass ich fast drei Monate keinen Sport machen durfte.
Das Gespräch bei Direktor Brendt war irgendwie überhaupt nicht schlimm. Er hatte mir zwar eine kurze Standpauke gehalten, aber danach hatten wir über das Spiel geredet und er war ebenso der Meinung, dass der Freiwurf völlig ungerechtfertigt war.
Meine Grosseltern waren hauptsächlich besorgt wegen meiner sowohl psychischen als auch physischen Gesundheit, auch wenn Grandma mir eine Woche Hausarrest gab.
Die Sozialstunden verbrachte ich im Altersheim, wo ich mich um die alten Leute kümmern musste. Hauptsächlich spielte ich Spiele mit ihnen, erzählte Witze und erfand Geschichten.
Die Entschuldigung bei Jennifer versetzte meinem Stolz zwar einen Schlag in die Magengrube, aber als ich sah, dass sie mit einer Halskrause rumzulaufen hatte, musste ich mir ein Grinsen verkneifen.
Aber am schlimmsten war es einfach nichts tun zu können.
Ich konnte mein Cello nicht in die Hand nehmen und anfangen zu spielen.
Surfen fiel ebenso weg, was mich fast wahnsinnig machte. So gut wie jeden Tag ging ich runter zum Meer, wo ich mich an den Steg lehnte, auf die Wellen hinausschaute und den Surfern zuschaute.
Boxtraining war nur mit einer Hand möglich. Dafür baute ich extreme Muskelmasse an meinem linken Arm auf. Ausserdem hatte ich so viel Zeit mit Ric zu reden, wodurch ich mehr über seine Verwandtschaft zu Warren erfuhr.
Aber am härtesten war wohl das Basketballtraining.
Ich hatte natürlich schon mit links prellen können, aber nie so gut wie mit rechts. Also war ich nun, wie der Trainer gesagt hatte, stundenlang in der Halle und übte solange mit meiner linken Hand bis ich es genauso gut beherrschte wie mit der rechten.
Denn die Alternative wäre gewesen einfach nichts zu tun.
Die Spiele waren noch viel schlimmer als nur das Training.
Klar, die Play-Offs waren vorüber, aber trotzdem machte es mich wahnsinnig nur am Feld stehen zu können, die Hand im Gips, nicht fähig mitzuspielen. Alles in mir schrie förmlich danach aufs Feld zu rennen, den Ball zu nehmen und im Korb zu versenken.
Ich blinzle, um die Erinnerung verblassen zu lassen. »Wo hast du die schicke Halskrause gelassen?«
Sie verzieht die Augen zu Schlitzen, erwidert, aber nichts. Ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen gehen wir um sie herum und lassen die Mustangs stehen.
Wir betreten die Halle, wo Warren auf uns wartet.
Zusammen machen wir unsere Aufwärmübungen, die wir vor dem Spiel immer machen. Pässe spielen, ein bisschen dribbeln und noch ein paar Körbe werfen.
»Also Mädchen ... Kommt her«, sagt der Trainer und wir versammeln uns um ihn herum. »Die letzten Play-Offs haben wir für uns entschieden und auch diese will ich wieder gewinnen.«
Wir nicken alle.
»Also die Starting Five sind: Lucy als Point Guard, Mona als Shooting Guard, dann haben wir Kira als Small Forward, Leslie du machst den Power Forward und Nicki du spielst Center.«
Das ist eine gute Anfangsaufstellung. Stark, aber trotzdem so, dass wir noch gute Auswechselspieler haben. Warren sieht mich an, damit ich als Captain noch was sagen kann.
»Wie Bob der Baumeister immer so schön sagt, Ja wir schaffen das.« Damit konnte ich ihnen allen ein Lächeln entlocken.
»Dann raus aufs Feld mit euch.« Warren klatschte in die Hände und wir fünf stellten uns auf dem Feld auf. Da wir das Heimteam waren, hatten die anderen Anspiel. Nach wenigen Minuten steht es zwei zu null für sie.
Doch wir holen schnell auf.
Ich dribble von hinten nach vorne, zeige an welchen Spielzug wir machen. Ein Pass zu Mona, die einen Distanzwurf antäuscht, stattdessen aber zu Nicki spielt, die den Ball in den Korb dunkt.
Wir dominieren das Spiel ganz klar.
Ich geniesse das berauschende Gefühl auf dem Feld zu stehen, völlig ins Spiel versunken zu sein.
Am Ende gewinnen wir mit 83 zu 21. Somit sind wir im Viertelfinal. Leider gewinnen auch die Mustangs.
Nach dem Spiel spendiert uns Warren allen einen Milchshake. Wir lachen zusammen, gehen die besten Aktionen noch einmal durch.
»Nicht schlecht Kleine«, erklingt es hinter uns. Ric zieht einen Stuhl zu unserem Tisch heran, wobei Sam zur Seite rutscht um ihm Platz zu machen. »Der letzte Korb, wirklich gut. Auch wenn du noch ein bisschen mehr aus den Knien hättest schiessen können.«
»Du hast das Spiel mit angeschaut?«, frage ich ihn überrascht.
»Ich muss meinem Bruder doch auf die Finger schauen. Schiesslich will ich, dass ihr diese verdammten Play-Offs gewinnt.« Er streicht sich über die Glatze.
Lachend schauen wir zu Warren. »Schön dich zu sehen.«
Wir bleiben in dem kleinen Bistro bei der Turnhalle sitzen. Verbringen die nächsten Stunden damit den Brüdern zu zuhören wie sie sich gegenseitig aufziehen.
Für diese Zeit kann ich die Schatten in mir verdrängen. Diese Lustlosigkeit, die sich so oft in mir breit macht.
Diesen Wunsch nach dem Tod.