Ich stehe in der U-Bahn. Nur selten gelingt es mir, mich so wohl zu fühlen, dass ich die anderen Fahrgäste beobachten kann. Doch heute ist so ein Tag, an dem ich das Bedürfnis danach habe. Ich lehne an der Glasscheibe, die die Sitzreihen von den Stehplätzen trennt. Auf der Vierer-Bank schräg gegenüber sitzt ein Mann. Breit gebaut. Genau die richtige Proportion zwischen Muskeln und Fett. Er trägt eine Jogginghose, hat eine Sporttasche dabei. Sieht insgesamt aus wie ein Schrank. Und doch hat er etwas Verletzliches. Ich kann nicht genau beschreiben, was es ist. Vielleicht sind es seine Arme, die leicht angespannt auf seinen Oberschenkeln ruhen. Oder es ist seine spitze, schmale Nase, die nicht davon zeugt, dass er sich oft prügeln würde. Oder es sind seine braunen Augen, die, halb verdeckt von seiner schwarzen Mütze, die ihm bis über die Augenbrauen reicht, unsicher auf den Boden schauen oder die Menschen begutachten, die sich zu ihm gesellen. Ich kann nicht sagen, ob er mich bemerkt. Ob er sieht, dass ich ihn beobachte. Wenn, dann lässt er es sich nicht anmerken.
Ich habe das Bedürfnis, zu ihm zu gehen und ihm zu sagen, dass er mir sympathisch ist. Aber ich tue es nicht. Dann könnte ich ihn nicht länger ungesehen beobachten.
Ich habe das Bedürfnis, ihn zu fragen, wovor er Angst hätte. Aber ich tue es nicht. Zu sehr fürchte ich mich vor der Antwort.
Dann steht er auf. Wie er da steht - große Figur und doch irgendwie klein - mit seiner Sporttasche auf der Schulter. Sein dicker, grauer Pullover steckt in seiner Boxershorts, seine Jogginghose ist ihm zu groß und rutscht. Er zieht sie mit einer Hand auf seine Hüfte, doch sie fällt wieder ein Stück herunter, sobald er sie loslässt. Er steigt aus, geht über den Bahnsteig, schaut sich nicht noch einmal um. In der U-Bahn bleibt ein Mann zurück, der ihm hinterher schaut. "Das sieht aber auch nicht aus, oder? Stimmt doch!", sagt er zu seiner Freundin. Sofort habe ich das Bedürfnis, den verletzlichen Mann zu verteidigen. Aber ich tue es nicht.