„Andreas, Schau mal!“, Timo zeigte in Richtung einer Person, welche an einem der Weidenzäune lehnte. Ihr langes braunes Haar tanzte im sanften Sommerwind. Wahrscheinlich beobachtete sie die Pferde, welche die Sonne nach den letzten Regentagen sehr zu genießen schienen. Andreas musterte die junge Frau genauer und wendete sich dann seinem Freund wieder zu: „Könnte die Nichte von Kete sein.“ „Ja sollte passen“, meinte Timo und dem fragenden Blick seines Freundes eine Erklärung schuldend führte er aus: „Scheint doch in Ordnung zu sein. Na schaffst du die auch?“
Das dreckige Grinsen seines Freundes kommentierte Andreas mit einem Augenrollen. Die sportliche Braunhaarige noch einmal besehend, ließ sich nur allzu leicht verleiten und meinte ziemlich selbstbewusst: „Vier Monate.“ Timo lachte: „Gehörst du jetzt zum alten Eisen? Zwei Monate und keinen Tag länger.“ Und schaute herausfordernd seinen blonden Freund an. Der willigte nur ein, um nicht als Drückeberger dazustehen, zwei Monate waren verdammt kurz, aber Wette war Wette, die musste Andreas einfach gewinnen.
Anna war sich der Aufmerksamkeit ihrer Beobachter nicht bewusst, welche über sie verhandelten wie ein Stück Fleisch oder eine Trophäe. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und schaute wohl seit fast einer halben Stunden auf die Weide ohne auch nur den Blick von den stolzen Pferden abzulassen. Ihr leerer Blick sprach Bände von den inneren Zerwürfnissen, welche so gar nicht zu den fröhlichen Pferden passen wollten. Früher da waren ihrer Augen funkelnden Edelsteinen in nichts nahestehenden, doch dieser Glanz war ihnen genommen. So wie man ihr ein Stück ihres Ichs, den glücklichen Teil ihrer selbst vor kurzem genommen hatte.
Gestern Abend erst war die 17-Jährige nach Ikerswerde gekommen und fühlte sich in dem Dorf ihrer Tante absolut fremd und hilflos. Sie hatte ihre Tante, welche einen Krämerladen besaß, dass letzte Mal im Alter von zwei oder drei Jahren besucht. Seit dieser Zeit kam Tante Kete immer zu ihnen. Zu ihnen… Diese beiden Worten schienen noch mehr Leere in ihre Augen zu treiben. Den dort war Anna nicht mehr. Sie fühlte sich verbannt, weggesperrt. Als hätte sie etwas Unsagbares verbrochen. Keine Wut schlich in der jungen Frau auf, nur Leere schien in ihr zu wohnen, als sei nur ihr Körper nicht ihre Seele nach Ikerswerde gekommen. Ihre Armbanduhr begann das piepen, es war Viertel nach sechs. In 15 Minuten würde Annas Tante Kete ihre Nichte zum Abendessen erwarten. Anna hatte keinen Hunger, aber sie wollte nicht unhöflich gegenüber ihrer Tante erscheinen. Langsam, fast schon mechanisch drehte sie sich um. Die beiden Jungs standen nun frontal zu ihr, doch im leeren Blick der jungen Frau waren sie nicht wiederzufinden und so schritt Anna an ihnen vorbei ohne auf das Hallo von Andreas zu reagieren. Ein herber Schlag für sein Ego. Hatte man je solche Arroganz erlebt? Ihn einfach zu missachten? Doch schlimmer als die Missachtung, war Timos dreckiges Grinsen, das vor Schadenfreude schon völlig verzehrt war. Andreas fuhr sich durch sein blondes Haar: „Gott diese Großstädter halten sich auch immer für was Besseres.“, kurz pausierend und ein Grinsen auflegenden, „Umso besser, dann ist es wenigstens eine Herausforderung.“
*
„Fühlst du dich heute besser?“, fragte Kete besorgt über den Tisch blickend zu ihrer Nichte, welche das gesamte Abendessen appetitlos und vollkommen stumm auf Brot und Salat herumgekaut hatte. Flüchtig schaute Anna, die bisher nur ihren Tellerrand betrachtet hatte, in die Augen ihre Tante. Der Blick zweier starken Frauen traf sich und die blauen Augen schimmerten in einer so speziellen Färbung, dass eine Verwandtschaft als gegeben zu sehen war. „Ich wollte die Frage gestern schon nicht beantworten. Es geht mir, entsprechend gut, OK?“, presste Anna heraus. Unwirsch und in einem Tonfall, den sie so gar nicht wollte, doch sie mochte nicht als verletzliches rohes Ei behandelt werden, schon gar nicht jetzt! Sie konnte genauso hart angepackt werden, wie jeder andere auch. Kete lächelte gezwungen und tat so, als ob das Verhalten ihrer Nichte sie nicht träfe. Auch ihr Blick richtete sich wieder auf den Tellerrand und für den Moment aßen sie beide ihr Brot. Kete war keine, die aufgeben würde und schon gar nicht, wenn es um ihre Nichte gehen würde! Sie würden Reden und so setzte sie erneut zu einem Gesprächsversuch an: „Freust du dich morgen schon auf die Schule?“
Anna hob eine Augenbraue und überlegte kurz, ob dies, als ausreichende Antwort genügen würde, der fordernde Blick ihrer Tante widersprach dieser Hoffnung. „Na ja wie man sich eben auf Schule freuen kann.“ Anna zuckte zusätzlich mit den Achseln, um die Ist-mir-egal-Haltung zu unterstreichen, in der Hoffnung ihre Tante würde nun endlich die Kommunikation für das Essen beenden. Doch Tante Kete, wäre eben nicht Tante Kete wenn sie diesen Umstand nicht geflissentlich überspielen könnte und redete einfach weiter: „Du wirst schon sehen, hier sind alle nett. Mach dir keine Sorgen!“
„Ich mach mir keine Sorgen.“, Anna legte bewusst langsam die Gabel vom Salat auf den Küchentisch, „Das alle nett seien sollen, das glaube ich nicht. Ikerswerde erscheint zwar als idyllisches Dorf, aber hier gibt es sicher auch genauso falsche Menschen, wie in…“, Anna führte den Stadtnamen nicht aus, sie wollte nicht an Zuhause denken und auch nicht an die Schule. Konnte Tante Kete das nicht verstehen?
Kete schmunzelte ein wenig. „Stimmt wohl, aber mit denen wirst du sicher fertig.“
„Ja.“
„Was ziehst du dann morgen an?“, versuchte Kete das Gespräch noch etwas länger am Leben zu halten.
„Nichts Besonderes.“
„Nichts Besonderes?“
„Warum sollte ich?“
„Na ja in deinem Alter, da ist es doch eigentlich so, dass…“, Anna unterbrach die Ausführungen ihrer Tante, indem sie abrupt aufstand. „Sei mir bitte nicht böse, aber ich bin sehr erschöpft und möchte jetzt schlafen gehen.“
Kete lächelte und Anna senkte ihren Blick, es war dasselbe Lächeln wie das ihrer Mutter… Als die junge Brünette ihr Zimmer erreicht hatte, begann eine Träne ihren unaufhaltsamen Weg die Wange herunterzugleiten.
*
Die Sommersonne brannte auf die Erde hinab, das Gestüt war trotz der großen Hitze gut besucht, niemand wollte sich das Wetter mit seinem Pferd entgehen lassen. Anna sah dem bunten Treiben mit gemischten Gefühlen zu, den ersten Schultag hatte sie hinter sich gebracht, er verlief wie nicht anders zu erwarten, ruhig und verging in zähem Müßiggang. Sie war froh endlich dem Klassenraum entfliehen zu können und den vielen neugierigen Augen zu entkommen. Es war unverkennbar, dass den ganzen Tag die neugierigen Augen über sie flüsterten und sprachen. Jetzt, nach endlosen Stunden, war sie wieder auf dem Gestüt und sie hatte sich wie am vorherigen Tag an den Koppelzaun gelehnt und schaute stumm anderen Leuten und ihren Pferden zu.
Es war ein wirklich hübsches Gut, dass sich Anna auf Ketes Empfehlung heute nun zum zweiten Mal ansah. Es war abseits von Ikerswerde und umgeben von zahllosen Wiesenhügeln und kleinen Hainen. Die Koppel oder besser der Standort am Koppelzaun, erlaubte einen Panoramablick über die Landschaft, aber vor allem über das gesamte Gestüt. Anna blickte wie am Vortag mit leeren Augen in die Ferne, während sich in ihr Abgründe auftaten und jeden Rest ihrer Seele zu verschlucken drohte. Anna schüttelte den Kopf, sie wollte nicht schon wieder voll Heimweh an zuhause denken, um sich von dem Gedanken zu lösen, riss sie sich vom Koppelzaun los und versuchte mehr Abstand zu der Koppel zu gewinnen. Leer, schoss es ihr plötzlich durch die Gedanken. Wie vom Blitz getroffen wirbelte Anna noch einmal herum und starte auf die Koppel, gestern tollten noch zwei Pferde darauf, sie waren nicht auf dem Gestüt, wo waren sie? Anna war es bis zu diesem Zeitpunkt nicht aufgefallen gewesen, sie hätte genauso gut eine Wand anstarren können, ihr leerer, gedankenverlorener Blick würde ohnehin durch alles durchsehen und nichts zum Halten finden.
„Falls du die Pferde suchst, die haben wir heute auf die Sommerweide gebracht“, lautlos war Andreas an sie ran getreten. Erschrocken fuhr Anna zusammen und wirbelte erneut um die eigene Achse. Stumm schaute sie in die blauen Augen. Was sollte sie tun? Was wollte dieser fremde Typ von ihr?
Andreas erwiderte den Blick, doch bei aller Selbstsicherheit und Hitze des Tages lief es ihm kalt den Rücken herunter. Noch nie hatte er so kalte Augen ohne einen Funken Glanz gesehen. Sie flackerten förmlich hinter der Brille und schienen zu lesen. Wie ein Roboter - durchzog es ihn.
„Nein habe ich nicht…“, sagte Anna nach einer Weile gepresst. Sie wollte nicht wirklich reden, aber mit Schweigen würde sich die Situation nicht lösen lassen. Der ihr gegenüberstehende junge Mann sah gut aus, blondes Haar, tiefblaue Augen mit einem frechen Glanz darin und ein Gesicht mit fein gezeichneten und männlichen Konturen.
„Und was machst du dann hier?“, harkte Andreas nach, er musterte Anna genauer. Sie war grazil und sportlich gebaut. Ihr Oberkörper war relativ flach und auch wenn sie grazil und sportlich wirkte, war sie doch recht klein. Wie ein Zwerg oder eine Elfe, aber dafür fehlten ihr die spitzen Ohren. Ihr Gesicht war ovalförmig und verschwand teilweise in dem braunwelligen Haar. Ihre Lippen erschienen nur dazu geformt zu sein, geküsst zu werden. Doch würde es wohl nicht dazu kommen, wenn man ihren Look betrachten würde. Die Hose war zerschließen und wirkte wie ein nasser Sack an ihrem Körper, auch ihr Oberteil erinnerte mehr an einen Kartoffelsack und ließ sie noch unvorteilhafter aussehen. Doch der größte ihrer Markel waren diese lesenden Augen, die so weit weg zu schienen von allem realen und kein menschliches Ich erkennen ließen. Dass ihre Augen recht groß waren, wurde von der Brille zwar verstärkt, doch es machte den mechanischen Effekt nur noch sichtbarer.
„Wieso willst du das wissen?“, fragte Anna etwas gereizt. Andreas konterte mit einem charmanten, entwaffnenden Lächeln. Doch Anna ließ seine Aufwartung völlig kalt. „Na vielleicht kann ich dir ja helfen? Schließlich ist es das Gut meines Vaters.“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Ich wüsste nicht wobei!“
„Du bist doch die Nichte von Kete, oder?“, fragte Andreas, der nicht so schnell aufgeben
Anna wollte gerade das Gespräch verlassen, doch in diesem Moment stockte sie: „Ja…?“ Er kannte ihre Tante wohl besser, sie wollte ihm deshalb nicht die schnellste Abfuhr erteilen.
„Dann lag ich doch richtig.“, lachte Andreas, „Ich bin Andreas und du sicherlich Anna?“
Langsam nervte es Anna richtig, aber sie wollte sich zusammenreißen und nicht gleich am zweiten Tag als Furie oder was auch immer verschrien sein. Aber es reichte, sie hatte keine Lust auf dieses Gespräch. „Richtig und du willst mich jetzt sicherlich Ausfragen, woher ich komme, wieso ich hier bin und, und, und? Richtig?“
Andreas schüttelte nur lächelnd mit dem Kopf und schaute an ihr vorbei. „Nein, eigentlich nicht, ich wollte nur wissen, warum du hier rumlungerst.“
„Ich lungere hier nicht herum! Es hat dich auch nicht zu interessieren!", sich endgültig aus der Unterhaltung lösend. Warum konnte dieser Typ nicht verstehen, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte? Und was sollte das überhaupt mit dem Gut, sie hatte kein Schritt darauf getan und es war wohl kaum verboten gedankenverloren in die Ferne zu blicken.
Andreas schaute ihr wortlos nach, auch der zweite Versuch war missglückt. Sie war aber auch eine Stadtzicke! Doch er würde sie noch um den Finger wickeln und diese Wette gewinnen!