Wie es sich wohl anfühlen muss zu lieben?
Schon den ganzen Heimweg über stelle ich mir diese eine Frage, doch ich finde keine Antwort. Denn wie sollte ich auch, wenn ich doch ein Teil dieser vollkommen lieblosen Welt bin, der nie gelernt hat, sich an andere zu binden?
Wäre ich nur wenige Jahrhunderten zuvor geboren worden, würde mein Leben vollkommen anders aussehen. Ich würde einen Namen tragen, mich kleiden können, wie ich es wollte, essen und tun wonach mir der Sinn stand und gehen wohin auch immer, ohne dass ich von Kameras und Wachposten bei jedem Schritt beobachtet werden würde. Mein Leben wäre rundum selbstbestimmt und nicht so leer. Zu meiner Familie würde ich täglich nach Hause kommen und mich geborgen fühlen; Freunde, Hobbies und Sorgen hätte ich, um sie mit anderen zu teilen. Vielleicht hätte ich auch eine Beziehung - ob mein Partner nun männlich oder weiblich wäre, würde für mich keinen Unterschied machen.
Ich wäre einfach frei. Die Lehrer erzählen so viel von der alten Welt, dass es für mich die reinste Folter ist, ihnen zu zuhören. Zwar ist das vergangene System so kompliziert und chaotisch gewesen, dass es am Ende vernichtet werden musste, doch immerhin haben die Menschen damals noch Freiheit und Individualität gekannt. Die Gleichheit hat das alles zunichte gemacht. Wir sind austauschbar und kennen uns untereinander nicht - wir sind Fremde, die zufällig am selben Ort gestrandet sind, wenn wir uns einmal begegnen sollten. Die Gesichter meiner Mitmenschen sind mir vertraut, aber gesprochen habe ich mit ihnen noch kein einziges Wort.
Uns Schülern wird von den obersten Instanzen nicht einmal verraten, wie viele Menschen wir insgesamt, oder wie viele Distrikte über die gesunden Teile der Erde verteilt sind. Stattdessen füttern sie uns mit Wissen über moderne Medizin, antike Kriegskunst und Parapsychologie, das schon im nächsten Moment als unbrauchbar deklariert wird, aber zu spät, um dass wir es noch aus unserem Gedächtnis löschen könnten. Mit unnützem Wissen machen die Lehrer uns träge und gehorsam - denn denkst du über das Gelernte nach, hast du keine Zeit mehr für Gedanken an das, was dieser scheinbar perfekten Welt fehlt. Die Schule ist nur noch dazu da, dass wir dem Staat nicht unangenehm werden.
Mit Hausaufgaben versucht die Schule uns dann auch in unserer "Freizeit" ständig beschäftigt zu halten. Es wird jeden Tag exakt so viel aufgeben, dass man noch Zeit für eine Mahlzeit hat, die exakt zwanzig Minuten beanspruchen sollte, damit man nicht zu viel Zeit verschwendet, bevor man dann zu Bett gehen muss, um die gesetzlich vorgeschriebenen acht Stunden Schlaf einhalten zu können, ehe man am nächsten Morgen aufsteht und alles wieder von vorn beginnt. Nebenher sollen wir Schüler noch für diese Art der Bildung dankbar sein, da wir hier wie Auserwählte behandelt werden.
Wir sind die fünfhundert Menschen mit dem höchsten angeborenen Intelligenzquotienten der Welt. Aus diesem Grund dürfen wir hier im Distrikt Discis leben und die beste Bildung genießen. Ärzte sollen wir werden, Wissenschaftler, Astronauten, Weltveränderer allgemein. Nach Begabungen werden wir Schüler sortiert und in kleine Klassen gesteckt - spezialisiert auf ein Fach, doch das ganze unnütze Wissen wird uns trotzdem vermittelt. Mich wollen sie zum Biologen machen, genauso wie meine zehn Mitschüler. Doch ich bin die Einzige, die noch nachdenkt. Die anderen haben diese Gabe verlernt, da sie bereits vollständig von der Regierung manipuliert worden sind.
Nach der Schule wird aber der Alltag keineswegs selbstbestimmter. Es wird uns allen ein Arbeitsplatz in unserem erlernten Gebiet verschafft - außerhalb dieses Distrikts natürlich, da wir mit unserem Schulabschluss in einen anderen versetzt werden -, ohne dass wir mitbestimmen dürften, wo wir unser restliches Leben jeden Tag zehn Stunden lang verbringen müssen.
Wir werden beschäftigt gehalten, um dass wir nicht auf dumme Gedanken kommen. Alles hat die Regierung geplant. Die Menschen heutzutage haben vergessen, was es heißt, in Freiheit zu leben. Sie tönen, wie ungeheuerlich die Welt vor zweihundert Jahren gewesen ist und wie gut wir es doch heute haben, mit all dem Wissen, der Einheit und dem endgültigen Frieden. Doch das alles ist wertlos, wenn man bedenkt, wie eingeschlossen in diesem goldenen Käfig wir doch unser Leben lang sind.
Nicht einmal Angehörige habe ich, denen ich mich anvertrauen, und diese eigentlich verbotenen Gedanken so loswerden kann. Denn wir werden gezüchtet, künstlich erzeugt und in Frauen eingepflanzt, die ihr ganzes Leben lang nichts anderes tun, als Kinder zu gebären. Aus diesen sterilen Legebatterien kommen wir und sind somit von Anfang an in den Händen des Staates, der uns alle zeugungsunfähig zur Welt kommen lässt, bis auf die, die später die ausrangierten Gebärmaschinen ersetzen sollen.
Dieser entreißt uns dann auch unseren Müttern sobald die Nabelschnur durchtrennt ist und stellt uns eine Pflegekraft zur Seite, die uns stillt, wickelt und schlafen legt - doch an wahre Mutterliebe reicht diese Art der kalten Fürsorge niemals heran. Diese einzige Bezugsperson verlässt uns bereits wieder, sobald wir anfangen, die Schule regelmäßig zu besuchen. Ab diesem Zeitpunkt sind wir dann wirklich auf uns allein gestellt. Als Kind bekommt man eine eigene Wohnung im jeweiligen Distriktzentrum, wo die Schulen sind, und jeden Tag bringt einer der dafür zuständigen Beamten einen Korb, in dem sich jeweils unsere Tagesration Nahrung, die für alle, egal welchen Alters oder Geschlechts man ist, gleich ist und eine Garnitur Kleidung in unser individuellen Größe, die uns als bestimmter Teil der Gesellschaft brandmarkt.
Denn bist du Schüler trägst du Blau, bist du Arzt ist Grün deine Farbe und so geht das mit allen gesellschaftlichen Klassen weiter. Außerdem sind bereits Vorbestrafte dazu gezwungen, einen schwarzen Seidenschal zu tragen, wobei sie aber variieren dürfen, an welcher Stelle ihres Körpers, solange das Kleidungsstück sichtbar für die Außenwelt ist. Das ist die Art der Regierung, Menschen zu demütigen, die, der Meinung der Elite nach, etwas falsch gemacht haben.
So sitze ich hier in meiner kargen Wohnung, die aus genau zwei Zimmern und einer sehr spartanischen Einrichtung besteht, und versinke wieder in meinem Hass auf die Welt, in der ich zu leben gezwungen bin, weil ich zu spät geboren worden bin.
Warum merkt nur niemand, dass nicht alles so perfekt ist, wie die Regierung es gerne hätte? Vielleicht sind wir ja alle gleich, aber niemand ist mehr er selbst. Warum müssen denn Freiheit und Sicherheit in den Köpfen der Menschen immer im Gegensatz zueinander stehen? Kann man nicht beides haben, wenn man nur lernt, anderen so weit zu vertrauen, dass man sie nicht wie Hunde anleinen und an dumme Gesetze binden muss, nur um die Gewissheit zu haben, dass sie einem nichts anhaben können?
Hätten die Menschen doch nur nicht vergessen zu lieben - wir wären so viel glücklicher. Doch in dieser kalten Welt bin ich wohl allein mit diesen Gedanken. Ich möchte geliebt werden - von Freunden, Eltern, Geschwistern und einem Partner. Ebenso möchte ich zurück lieben und ein so unbeschreibliches Gefühl in Händen halten dürfen, das mir, und nur mir allein, gehört und niemand mir wegnehmen kann, außer ich selbst.
Doch das alles werde ich wohl niemals haben. Denn es wirkt nun wirklich nicht so, als gäbe es unter den fünfhundert anderen Personen hier auch nur eine, die genauso schlecht über diese Welt denkt. Sie alle glauben, das hier wäre eben jenes Utopia, das sich unsere Ahnen immer erträumt haben. Doch ich habe nur das Lachen unserer Vorfahren im Kopf, wenn sie sehen könnten, wie die Angst vor allem uns steuert und zu feigen Tieren macht, die ihr Leben lang flüchten, ohne jemals zur Ruhe zu kommen.
Die mir zugeteilte Nahrungsration - ein halber Laib Brot samt Butter und synthetisch hergestellter Wurst, eine Schüssel mit Gemüsesuppe und eine kleine Flasche Milch, da die Regierung so sehr auf die Einfachheit des Lebens pocht - rühre ich nicht an. Ebenso interessieren mich die danebenliegende Kleidung, die der an meinem Leib aufs Haar gleicht, oder auch der Hausaufgabenberg, den ich wie immer fein säuberlich auf dem sonst sterilen Tisch platziert habe, nicht im Geringsten.
Alles wirkt wieder so sinnlos auf mich. Ich führe ein Leben ohne eigene Entscheidungen. Stattdessen werde ich auf Schritt und Tritt von Kameras und den Männern in Schwarz verfolgt, als wäre es geradezu überlebenswichtig für die Regierung zu wissen, wann ich aufs Klo oder schlafen gehe. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sie auch meine Wohnung beobachten, einfach um sicher zu gehen, dass ich auch ja nichts vor ihnen verheimliche.
Seltsam wäre dann nur, dass sie mich noch nicht ins Visier genommen haben, wo ich sie doch Tag für Tag so hintergehe, dass sie mich auf offener Straße hinrichten lassen könnten. Denn neben Beziehungen generell sind auch jegliche Medien, die mit dem Thema zusammenhängen, oder auch zu intensive Privatgespräche strengstens untersagt. Eigentlich sind sämtliche "verbotenen Verführungen", die die alte Welt mit sich gebracht hat, in einem riesigen Nachkriegsfeuer verbrannt, oder in unterirdischen Bunkern gelagert worden, die noch strenger bewacht sind, als die Grenzwälle zu den verseuchten Gebieten.
Doch scheinbar sind die Beamten, die dafür zuständig waren, dass die Welt von diesen "Schandflecken" gereinigt wird, nicht sonderlich gründlich gewesen.
Denn einst hat ein alter Mann vor meiner Wohnungstür gestanden und hat mich gefragt, was ich denken würde. Einfach aus dem Nichts heraus ist er da gewesen, ohne dass ich ihn jemals zuvor gesehen hätte und hat mich mit seinen trüben, grünen Augen angesehen, die wir alle haben, weil sie uns angezüchtet werden. Gehetzt und von meiner anerzogenen Paranoia getrieben, habe ich mich schnell nach allen Seiten umgeblickt, ob auch kein neugieriger Nachbar uns sah, und bat den Fremden dann herein.
Ohne Platz zu nehmen, hat er eine kleine, braune Kiste auf meinen Tisch, die er wie aus dem Nichts heraus hervorgezaubert hat. »Du bist anders, als die anderen«, ist der einzige Satz gewesen, den der Mann zu mir gesprochen hat, bevor er ging und nur Verwirrung in meinem Kopf und diese Kiste zurückließ.
Als ich diese endlich geöffnet habe, obwohl ich zuvor wirklich überlegt habe, sie einfach aus dem Fenster zu werfen und für immer zu vergessen, habe ich darin vollkommen zerlesene Bücher vorgefunden, die Titel wie „Stolz und Vorurteil“ oder „Love Story“ trugen. Verboten waren diese Bücher, das habe ich auf den ersten Blick gewusst, und dieser Fremde stellte sie einfach in meiner Wohnung ab, ohne mir zu erklären, was genau ich damit soll?
Alle waren diese Romane auf Englisch - durch den Altsprachenunterricht in der Schule hatte ich also keinerlei Probleme, die vor Jahrhunderten niedergeschriebenen Geschichten zu lesen.
Dennoch verstand ich zunächst kein Wort von dem, was mir die Geschichten zu erzählen versuchten, so oft ich die Bücher auch las. Alles an diesen Figuren und ihren Verhaltensweisen war neu und fremd und ich musste erst lernen, dass sie nicht ohne Grund immer wieder umeinander kreisten und nur füreinander existieren zu schienen. Wie wohl die Menschen vor zweihundert Jahren über mich gedacht hätten, hätten sie mich dabei beobachtet, wie ich einfach nicht verstand, was Liebe für sie war? Sicher hätten sie mich als seltsam abgestempelt - als Sonderling, der nicht in ihre Welt passte.
Doch ich habe immer weiter gelesen, bis die Bücher beinahe auseinander fielen, immer wieder dieselben Worte, bis ich endlich gewusst habe, was sie bedeuteten.
Danken habe ich dem fremden Mann, der mir dieses Geschenk gemacht hat, nicht können. Ebenso wenig habe ich je herausgefunden, warum er gerade mich dafür ausgewählt hat, diese besonderen Romane zu verwahren. Denn nur wenige Tage später, nachdem er mir diese Aufgabe vermacht hat, ist er exekutiert worden, obwohl keine Anklage verlesen worden ist, wie es sonst immer der Fall ist. Vor meinen Augen ist der Mann gestorben, der mir gezeigt hat, was es heißt zu leben und nicht nur zu existieren.
Auch aus diesem Grund habe ich die Kiste mit den Büchern unter meinem Bett verstaut, wo sie bis heute steht und mein größtes Geheimnis ist, das ich niemals lüften darf. Denn wenn ich sterbe, geht auch der letzte Rest Liebe, der in dieser Welt noch existiert, verloren und der Mann hat vollkommen umsonst sein Leben für diese alten Romane gelassen, die früher vielleicht ein kleines Vermögen, aber nicht wie heute die Welt bedeutet hätten.
Würde ich selbst meine Geschichte so schreiben, wie es diese Autoren vor manchmal fünfhundert Jahren getan haben, die heute niemand mehr kennt, wäre ich wohl der stille Rebell, der sich gegen alles auflehnt und auf alles und jeden wütend ist, bis ein Partner ihm endlich Seelenfrieden beschert.
Doch eigentlich fühle ich mich nicht so, als würde ich etwas Verbotenes tun, wenn ich diese Geschichten lese und mich in eine bessere Welt träume. Ich fühle mich eigentlich nur leer und verbraucht, als würde mir die Lieblosigkeit meines Lebens einfach mit jeder Sekunde die Kraft entziehen und mich zu Staub zerfallen lassen. Eine Person muss her, mit der ich alles teilen kann. Ich möchte in einer dieser Geschichten leben, mit allen Höhen und Tiefen, die mich da erwarten würden.
So sitze ich auf meinem Stuhl, vollkommen reglos, und warte, bis die Sonne untergeht, um wieder diese eine Person sehen zu können, die mich jede Nacht aufs Neue Hoffnung schöpfen lässt. Wieder werde ich vorsorglich meine Essensration anwärmen, damit diese Person nicht kalt essen muss. Den Hunger ertrage ich, wenn ich im Gegenzug dafür ihre Gesellschaft bekomme. Ich hoffe einfach wieder von ihrem Zeichen wach zu werden, wie es die letzten paar Nächte auch der Fall gewesen ist.
Denn ich bin gezwungen schlafen zu gehen, egal ob nun mein nächtlicher Besucher kommt oder nicht. Denn er lässt gerne auf sich warten - um Mitternacht erscheint er meist wie aus dem Nichts und streicht um das Haus, wie eine räudige Katze. Wie lange nur habe ich diese Person von meinem Fenster aus bei ihren Streifzügen beobachtet, ehe ich mich getraut habe, auf sie zu zugehen? Es kommt mir zumindest wie eine Ewigkeit vor.
Als die Sonne endlich am Horizont verschwindet, mache ich mich, mit einem vorfreudigen Lächeln auf den Lippen, bereit, ins Bett zu gehen. An meine nicht erledigten Hausaufgaben denke ich schon gar nicht mehr - soll sich doch mein zukünftiges Ich mit der Strafe, die die Konsequenz sein wird, sobald meine Lehrer herausfinden, dass ich meine Pflicht missachtet habe, herumschlagen, mich interessiert nur noch eines. Vermutlich freut sich wirklich niemand auf der ganzen Welt so sehr, ins Bett gehen zu dürfen, wie ich es jeden Abend tue. Aber was schert es mich schon, was die anderen Menschen meinen? Nur ich zähle, ebenso wie die wenigen Stunden, die ich nicht mehr einsam sein muss, wenn mein nächtlicher Besucher einkehrt.