7. Kapitel
Anerkennung des Zorns
Lea verabschiedete sich herzlich von ihrer Mutter, als diese sich zum Gehen anschickte. Ihre Beziehung war durch das, was diese ihr offenbart hatte, auf wundersame Weise gefestigt worden und Lea erkannte, dass sie beide dadurch einen Neuanfang machen konnten. Sie sah ihre Mutter nun mit anderen Augen.
«Ich hoffe wir treffen uns bald wieder,» sprach sie deshalb und meinte es wirklich aufrichtig.
«Ja, diesmal werden wir schauen, dass es nicht mehr so lange dauert. Übrigens noch etwas: Dein Stiefvater Harald und ich haben darüber gesprochen, dich und deine Familie, finanziell etwas zu unterstützen. Ausserdem sagte Tante Lena, sie habe noch ein Auto, dass sie nicht mehr brauche. Sie will es euch vermachen. Harald und ich helfen euch bei möglichen anderen Kosten, die noch auf euch zukommen, solltet ihr diese nicht allein bewältigen können.»
Sie reichte ihrer Tochter einen Umschlag mit ein paar Geldnoten darin und meinte lächelnd: «Fürs Erste gebe ich dir das mal. Die Busse könnt ihr damit sicher bezahlen.»
Lea konnte es kaum fassen. Ungläubig schaute sie ihre Mutter an. «Ihr wollt uns wirklich helfen?»
«Ja natürlich! Wir sind ja schliesslich eine Familie. Wenn ihr in Schwierigkeiten seid, dann sind wir für euch da.»
«Und Harald ist damit wirklich auch einverstanden?»
«Ja.»
«Dabei hatten er und ich nie ein wirklich gutes Verhältnis.»
«Das stimmt, was ja auch in gewisser Weise verständlich ist. Aber eine Seite an ihm, die ich liebe ist, dass er hilfsbereit ist, wenn irgendwo Not am Mann ist.»
Auch wenn Lea sehr froh und tief berührt von der Hilfsbereitschaft ihrer Mutter und ihres Stiefvaters war, wagte sie es fast nicht, dieses Geld anzunehmen. Das sagte sie dann auch. Doch ihre Mutter erwiderte: «Mach dir keine Gedanken! Wir tun das gerne. Schliesslich haben wir dir noch nie etwas wirklich Grosses geschenkt, weder zu deinen Geburtstagen noch zu Weihnachten und auch sonst nie. Aber jetzt braucht ihr das Geld und wir wollen es euch gerne schenken. Wir haben alles was wir brauchen und da kann man auch mal etwas abgeben. Du bist ja schliesslich meine Tochter!»
Die jüngere Frau zögerte noch einen Augenblick, dann nahm sie das Geld dennoch entgegen. «Ich danke euch von ganzem Herzen! Ich werde euch das nie vergessen!»
Beatrix lächelte liebevoll und verliess dann das Krankenzimmer.
Lea liess sich auf das Bett sinken. Sie konnte es noch immer kaum glauben. Langsam öffnete sie schliesslich den Umschlag mit dem Geld und zählte den Inhalt. Es war ein stattlicher Betrag. Sie atmete tief durch und verstaute ihn dann in ihrer Nachttischschublade. Wenn Nathanael mit David auf Besuch kommen würde, konnte sie ihm das Geld gleich mitgeben, dann konnte er es auf eins ihrer Konten einzahlen.
Ziemlich spät am Abend, legte sie sich, nachdem sie sich von ihrem geliebten Mann und ihrem wundervollen Sohn verabschiedet hatte, wieder schlafen. Noch eine Weile dachte sie darüber nach, was sich heute alles zugetragen hatte. Ihre Gedanken wanderten nochmals zurück zu der Medusa, welche sie im Reich der Löwenfrau bekämpft hatte und sie empfand auf einmal ein schlechtes Gewissen. War es wirklich richtig gewesen, sie so zu traktieren und warum war die Medusa schliesslich ausgerechnet zu einer Jungfrau geworden? Woher war sie gekommen? Lea wusste durch ihre Erfahrungen in den Zwischenwelten mittlerweile, dass es immer dunkle Anteile ihrer selbst waren, die ihr in Form irgendwelcher Dämonen begegneten. Warum aber ausgerechnet so eine schreckliche Medusa, mit so vielen Augen? Die Medusa war eine der bisher furchterregendsten Kreaturen gewesen, die ihr jemals begegnet waren. Nur der Tentakel- Dämon, welcher sie damals nach ihrem Selbstmordversuch heimgesucht hatte, war noch schrecklicher gewesen. Nicht mal der schwarze Ritter oder der furchterregenden Mann, den sie als Kali bekämpft hatte, hatten ihr solche Angst eingejagt. Warum nur war das so? Und während sie darüber nachdachte, schob sich der Vorhang ihrer Realität einmal mehr zurück und sie fand sich wieder im Heim der Löwenfrau!
Sie schreckte auf und merkte dass sie auf einem weichen Lager lag. Es schien erneut Nacht zu sein und sie hielt nach der Löwenfrau Ausschau. Diese kniete an einem Feuer und fachte dieses gerade neu an. Das Holz, das sie eben hineingeworfen hatte, knackte und während es zerbarst, erhob sich ein magisch anmutender Funkenregen, aus dem Feuer und stieg, wie eine rot golden glitzernde Wolke, empor zu der Öffnung im Dach, wo sie sich dann auflöste.
Die Löwenfrau schaute den Funken hinterher und ihr Gesicht lag noch im Schatten. Doch dann wandte sie sich Lea zu und auf ihrem schönen und zugleich etwas unheimlichen Gesicht, tanzte das Licht der neu entfachten Flammen.
«Du bist also zurückgekehrt,» sprach sie monoton, als würde sie sich nicht wirklich darüber freuen.
«Ja, ich bin hier vermutlich noch nicht ganz fertig,» erwiderte Lea «entschuldige, wenn ich dich störe.»
«Warum entschuldigst du dich?» erwiderte die Löwenfrau tadelnd «du solltest dich nicht immer für dein blosses Dasein entschuldigen!»
«Aber das tue ich doch gar nicht!» meinte die Angesprochene etwas verärgert.
«Doch, das tust du die ganze Zeit und damit bist du nicht einmal die einzige. Viele Frauen machen das. Sie sollten damit aufhören!»
«Also ich glaube nicht das…» Lea hielt inne. Die Worte der Löwenfrau gaben ihr nun doch etwas zu denken. Konnte das was jene sagte, vielleicht tatsächlich möglich sein? «Was genau meinst du damit?» fragte sie deshalb, erhob sich von ihrem Lager und blickte der Löwenfrau forschend in die dunklen Augen, welche im Zwielicht einen silbernen Schimmer aufwiesen.
«Ich meine damit, dass viele Frauen, du eingeschlossen, ihre wahre Natur nicht anerkennen. Ich bin die Kämpferin, welche sich um ihre Rechte kümmert. Geschieht irgendwo Unrecht, dann bin ich da, um das Bollwerk zu sein, welches ihnen Schutz bietet. Nur leider können viele von ihnen diesen Schutz nicht annehmen, denn eigentlich fürchten sie mich. Sie fürchten diesen Teil, der in ihnen allen wohnt. Es ist der Zorn und das sich auflehnen, gegen die geschlechtliche Ungerechtigkeit. Doch viele Frauen wurden seit Generationen dazu erzogen, diesen Teil ihres selbst, nicht anzuerkennen und tun sie es doch, dann haben sie oft sehr zu leiden. Das macht mich wütend und wenn du ehrlich bist, macht es dich ebenso wütend. Habe ich Recht?»
Lea dachte angestrengt nach, dann erwiderte sie: «Ja, es macht mich schon auch wütend, welch schreckliche Demütigungen einige Frauen erleben müssen oder einstmals erlebt haben. Doch ich bin eigentlich keine dieser Frauen. Ich habe einen sehr lieben Mann und auch sonst war ich, wenn ich näher darüber nachdenke, ganz gut aufgehoben in meinem Umfeld. Ich habe mich sogar endlich wahrhaftig mit meiner Adoptiv- Mutter versöhnen können. Weil ich erkannte, was sie schon durchlitten hat und warum sie teilweise ihre Verletztheit, auf mich übertragen hat.»
«Und damit wären wir bereits beim Thema angelangt,» sprach die Löwenfrau. «Die Erlebnisse deiner Mutter haben dich geprägt. Es sind da noch mehr Dinge, welche dich geprägt haben und dir stets das Gefühl vermittelten, als Frau wertlos zu sein. Dieses Gefühl hat sich dir in der schrecklichen Medusa, welche du letztes Mal kennenlerntest, schliesslich manifestiert. Ist dir das klar?»
«Ja, aber sie hat sich dann ja in eine ungefährliche Jungfrau verwandelt. Ich glaube, damit ist bereits ein wichtiger Schritt getan.»
«Ein wichtiger Schritt bestimmt, aber nicht der entscheidende Schritt,» erwiderte die Löwenfrau kritisch. «Du klingst jetzt gerade, wie früher meine Mutter. Anstatt dass du zu mir sagst: «Du hast es gut gemacht, du hast dich einem weiteren Dämonen gestellt und ihn sogar verwandelt, kritisierst du mich unterschwellig.»
«Und da ist er wieder! Dieser Zorn! Ich dachte du hast dich mit deiner Mutter versöhnt?» meinte die Löwenfrau spöttisch. «Habe ich auch, aber es macht mich wütend, dass du mir einmal mehr das Gefühl vermittelst, nicht gut genug zu sein!»
«Ich habe nichts dergleichen gesagt!»
«Doch, gerade vorhin, ich habe es ja an deiner Stimme gemerkt. Du denkst ich habe versagt!»
«Das denkst du! Ich weise dich lediglich darauf hin, dass es damit noch nicht wirklich erledigt ist, obwohl du dich vielleicht gerne auf den Lorbeeren ausruhen würdest, denn du hast die Medusa ja schliesslich in eine unschuldige Jungfrau verwandelt. Warum ausgerechnet in eine Jungfrau? Macht dich das nicht stutzig?»
«Eine Jungfrau ist unschuldig und nicht so gefährlich, wie diese Medusa es war.»
«Du glaubst also, dass Jungfrau zu sein, ein erstrebenswertes Ziel ist?»
«Also ich bin sowieso keine mehr, darum werde ich auch kaum wieder zu einer werden können.»
«Dafür bist du jetzt eine Frau, die ganz in ihrem Familien- Leben steht! Du hast dir alles bestens eingerichtet und nichts sollte diesen Frieden stören, habe ich recht?»
Wieder stieg unbändiger Zorn in Lea auf, genau wie beim ersten Mal, als sie der Löwenfrau begegnet war. So erwiderte sie, mit vor Wut zitternder Stimme: «Natürlich will ich in Frieden leben! Ich habe das schliesslich verdient! Und doch kommt immer wieder irgendetwas, das alles wieder schwierig macht. Oder jemand der glaubt, er müsse meine Qualitäten oder Leistungen in Frage stellen, wie du es jetzt wieder tust. Was soll ich überhaupt hier?»
«Ich sehe du bist wütend auf mich?» stellte die Löwenfrau mit stoischer Ruhe fest.
«Ja, das bin ich! Ich bin wegen so manchem wütend, manchmal bin ich so schrecklich wütend, dass ich fürchte die Kontrolle zu verlieren und jemanden seelisch so tief zu verletzen, dass die Beziehung zu ihm, nicht mehr zu retten ist.»
«Dann nimm jetzt mal die Trommel dort drüben!» forderte sie die Löwenfrau gleichmütig auf und deutete auf eine Rahmentrommel, welche mit einem schönen, elfenbeinfarbenen Fell bezogen war. Lea ging zu der Trommel und nahm sie in die Hand. Eine ganz besondere Kraft ging von diesem Instrument aus, das fühlte sie. Sie umfasste den Griff auf der Rückseite und musterte die Trommel eingehend. Die Löwenfrau reichte ihr einen Schläger und forderte Lea auf, ihrer Wut mal so richtig Luft zu machen, während sie die Trommel schlug.
Zuerst fürchtete sich Lea noch etwas davor, doch dann entschied sie sich, den Rat der Löwenfrau zu befolgen, welcher irgendwie Sinn zu ergeben schien.
Kurz darauf trommelte Lea wild drauflos und schrie alles heraus, was sie in ihrem Leben einst an Negativem erlebt hatte. Immer wieder rief sie: «Ich bin wütend, wütend, wütend!» und dabei schlug sie heftig auf die Trommel. Auch während sie über all das sprach, das sie wütend machte oder einst gemacht hatte, trommelte sie heftig und stapfte wie wild auf den Boden dabei.
Lea trommelte und schrie weiter, bis sie alles herausgelassen hatte. Ihr Hals wurde langsam rau und Erschöpfung machte sich breit. Das machte sie gleich nochmals wütend und sie schrie auch das heraus. Und tatsächlich, es wurde ihr dabei immer leichter ums Herz! Sie anerkannte damit ihren Zorn und konnte ihn somit, Stück für Stück, loslassen.
Schliesslich liess sie die Trommel erschöpft fallen und sank müde auf das Lager zurück, auf dem sie vorhin erwacht war.
Die Löwenfrau musterte sie und ein Grinsen erschien in ihren Mundwinkeln. «So, fühlst du dich jetzt etwas besser, mein Kind?» fragte sie und ihre Stimme klang freundlich. «Eigentlich…schon, es geht wir sogar erstaunlich gut! Dabei dachte ich immer, das Wut und Zorn mich schwächen oder ich sie nicht zulassen darf. Aber nun habe ich erkannt, dass sie mir auch eine ganz besondere Kraft verleihen. Durch die Anerkennung dieses Zornes, lerne ich vielleicht in Zukunft besser damit umzugehen. Meine innere Wut anzunehmen, aber mich nicht gänzlich davon beherrschen zu lassen. Ich danke dir für diese Lektion, liebe Löwenfrau!»