8. Kapitel
Rückkehr in die Höhle der Medusa
Wiedererweckung der Göttin
So also machte sie die beiden Frauen und ihre Begleitlöwin, auf den Weg zur Höhle der einstigen Medusa. Auf einem steinernen Bett, mit nur einem Kissen, lag dort eine bleiche, schmale Kreatur. Es war die Jungfrau, welche aus der Medusa geworden war und sie hatte tatsächlich einen grossen Teil ihrer Bedrohlichkeit, jedoch auch ihrer Lebensenergie eingebüsst.
Die vielen Augen auf ihrem Kopf, waren jedoch wieder zurückgekehrt und musterten Lea und ihre Begleiter erneut unverwandt. Die Augen folgten jeder Bewegung, die sie machten und das erzeugte in Lea einmal mehr ein sehr unangenehmes, grauenerregendes Gefühl.
Was nur hatte es mit diesen schrecklichen Augen auf sich? Warum hatte sie der Medusa diese bei ihrer ersten Begegnung allesamt ausgekratzt? Sollte sie die die einstige Medusa wohl selbst darüber befragen?
Einen Moment lang zögerte sie und sie merkte, wie sehr sie dieser Kreatur noch immer misstraute. Sie blickte hilfesuchend zur Löwenfrau herüber, welche ihr aufmunternd zulächelte, als würde sie wissen, was für Gedanken ihren Schützling umtrieben. So fasst sich Lea ein Herz und frage, direkt an die Dämonin auf dem Bett gewandt:
«Warum hast du so viele Augen? Und warum, schaust du mich immer so schrecklich mit diesen Augen an?“
Und dann kam die erstaunliche Antwort: «Weil ich beobachten muss. Ich darf mir auf keinen Fall etwas entgehen lassen! Ich muss alles sofort erkennen, ob Gefahr droht, ob Versagen droht. Mit diesen vielen Augen entgeht mir nichts. Ich sehe alles und ich kann nicht unangenehm überrascht werden! Ich muss beobachten, dich muss ich beobachten, mich und auch ganz besonders, muss ich alle anderen beobachten, damit sie mir keinen Schmerz mehr zufügen können. So bin ich immer für den Kampf bereit, bereit zurück zu schlagen und ich vermeide…Versagen!»
Als sie diese Worte hörte, musste Lea einige Male schwer schlucken. Sie schaute in die vielen Augen der einstigen Dämonin und auf einmal konnte sie hinter diese blicken. Sie erkannte auf einmal die Bedeutung dieses Wesens und wie es entstanden war.
Tränen traten in die Augen und sie sank neben dem Lager in die Knie. Tief beweg ergriff sie die kühle Hand der einstigen Medusa und hunderte von Emotionen überrollten sie dabei, wie die heftigen Wogen, eines aufgepeitschten Meeres. Sie fühlte sich auf einmal schrecklich schuldig und empfand grosse Trauer, dass sie die Bedeutung dieses Geschöpfes, dass nun so geschwächt hier vor ihr auf dem Lager lag, nicht erkannt hatte. Dabei war dieses doch eigentlich ein so wichtiger Teil ihres Selbst!
Sie begriff plötzlich, warum es ihr noch immer so schrecklich schwer fiel zur Ruhe zu kommen, warum sie so schlecht abschalten konnte und sich manchmal so schnell erschöpft und ausgebrannt fühlte.
Denn es war so schrecklich anstrengend, immer alles zu beobachten, immer für alles gewappnet sein zu wollen und mit allen Mittel zu versuchen, dem Leid zu entgehen, weil das Leid einem so tief hinabziehen konnte, in die Finsternis.
Wie sagte Buddha einstmals? Das ganze Leben ist unablässiges Leiden und das Leiden kann nur durch erkennen der Grundübel verschiedensten Arten, beseitigt werden.
Es war so wichtig, dass Lea sich von allen Dingen, die sie noch immer belasteten, mehr und mehr befreien konnte. Dass sie die Illusionen in so manchem erkannte, was sie in ihrem Leben noch so wichtig nahm. Denn es gab wahrlich noch so manches, das sie viel zu wichtig nahm. Ganz besonders die Anerkennung durch ihre Mitmenschen. Dazu gehörte auch das Respektiert werden als Frau, mit all ihren Facetten.
Sie wollte nun immer mehr lernen, sich von den Fesseln zu befreien, die sie sich selbst immer wieder selbst angelegt hatte und sich manchmal, auch heute noch, anlegte. So vieles hatte sie in ihrem Leben zu tief in sich hineingelassen, es noch immer nicht vergessen und es hatte sie mehr blockiert, als es ihr bewusst gewesen war.
«Ich habe diese Medusa als Feindin gesehen, die ausgemerzt werden muss,» sprach sie mit bebender Stimme an die Löwenfrau gewandt. «Dabei habe ich sie einst selbst erschaffen, mit meinem manchmal so zerstörerischen Denken, dem Vermeidenwollen von noch mehr Verletzungen und Liebesentzug, von welchen ich doch einige erlebt habe. Ja! Die ich zum Teil sogar noch von meiner weiblichen Ahnenreihe, übernommen habe. Aber nun ist es genug! Es wird Zeit, dass ich meine Geschichte neu schreibe. Und dass ich den Aspekt, den die Medusa eigentlich verkörpert, endlich würdigen lerne!»
Die Löwenfrau nickte zustimmend und sprach: «Dann folge doch jetzt deinem Impuls mein Kind!»
Ihrem Impuls? Was genau war nun eigentlich Leas Impuls gewesen?
Die Frau dachte einen Moment lang nach. Dann erhob sie sich und verliess die Höhle der Medusa. Als sie draussen angelangt war, schaute sie sich staunend um. Überall um die Höhle herum, waren auf einmal unzählige Blumen gewachsen! Blumen in dieser kargen, lebensfeindlichen Landschaft? Das musste etwas zu bedeuten haben! Lea bückte sich und begann einige der wundervollen Blumen zu pflücken. Sie band diese andächtig zu einem Kranz und kehrte dann zurück in die Höhle. Die einstige Medusa, sah bereits einiges besser aus und sass nun am Bettrand. Lea trat zu ihr hin. Dann ging sie erneut in die Knie, neigte das Haupt und legte den Kranz vor deren Füsse.
Tief bewegt sprach sie:
«Vergib mir alles, was ich dir angetan habe! Vergibt mir, dass ich dich so gequält habe, mein ganzes Leben lang. Du bist doch meine Schwester!»
Die Dämonin, die nun ihre ganze Bedrohlichkeit verloren hatte, schaute ungläubig auf Lea herab. «Du…kniest vor mir? Aber…was soll das? Ich war es schliesslich, die dir Leid zugefügt und dir Angst gemacht hat. Wenn, dann muss ich dich um Vergebung bitten.»
«Nein, ich muss um Vergebung bitten, denn ich habe durch mein Verhalten deine einst reine, wundervolle Form zerstört. Ich selbst habe sie zerstört, indem ich dich so lange nicht, als Teil meiner Selbst, anerkannt habe. Dabei bist du so wichtig für mich du…bist eigentlich die Göttin in mir, die einst so wunderbar war und die ich…, ja ich selbst, dazu gebracht habe, so entstellt zu werden.
Doch nun habe ich die Göttin in mir wieder erkannt! Ich habe sie wiedergefunden und ich sehe sie auch in dir! Du bist die Kraft, die weibliche Kraft, die so wundervoll ist, die mich begleitet und antreibt, die so viel an Wertschätzung verdient hat! Ich habe dich lange nicht gewertschätzt, indem ich mich selbst nicht gewertschätzt habe! Bitte vergib mir! Werde wieder zu der wundervollen Göttin, die du einst warst und hilf mir dadurch, heil zu werden!
Bitte, oh Grosse Göttin!» flehte Lea dann, in die Ewigkeit des Raums hinaus
«kehre zu mir zurück! Gib mir Kraft! Zeige mir den wahren Wert meiner Weiblichkeit! Zeige ihn allen Frauen auf der Welt und auch all meinen Ahninnen! Hilf ihnen, diesen Wert wieder zu finden! Denn sie haben es verdient, alle Frauen haben das verdient! Frauen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, haben es verdient, gewertschätzt zu werden und das zu sein, wozu sie wahrlich berufen sind! Schliess mich wieder in deine Arme, oh Göttin, die doch Teil der ewigen, grossen Gottheit bist, bleibt und immer sein wird! Verwandle mich, verwandle meine Dämonin des Selbsthasses in ihre reine Form zurück!»
Und während Lea das sagte, begann tatsächlich erneut eine Verwandlung, mit der einstigen Medusa, vonstatten zu gehen. Die vielen, schrecklichen Augen verschwanden und machten zwei wunderschönen, grossen, dunkelblau schimmernden Augen Platz. Ihr Teint war wieder viel gesünder, ihre Züge wirkten nun weise und edel. Schwarzes, langes, in Locken herab wallendes Haar, bedeckte nun, ihr bisher entstelltes Haupt. Sie war wohlgeformt, mit weiblichen Kurven. Auch ihre Ausstrahlung war nun wunderbar weiblich.
Und Lea begriff, dass ein jede Frau zu so einer Ausstrahlung finden konnte, wenn sie im Einklang mit sich selbst und der Welt lebte.
Das Weibliche und Männliche, im Inneren, wie auch im Äusseren, musste mehr und mehr zu einem Einklang finden. Dies war ein so wichtiger Schritt auf dem Weg zur Erleuchtung. Wie das Yin und Yang im Buddhismus es lehrte. Es wurde Zeit, Grenzen aufzuheben! Alle waren Eins und ein jeder war gleichermassen wertvoll!
Die neu erweckte Göttin, hob nun den Blumenkranz auf, legte ihn um den Hals und streichelte mit liebevollem Lächeln darüber.
«Wie fühlst du dich?» fragte Lea.
«Sehr gut, auch wenn ich irgendwie schrecklich müde bin! Es war so anstrengend, immer alles zu beobachten, immer für alles gewappnet zu sein. Diese vielen Augen…sie waren eigentlich eine Qual.»
«Ich werde dir jetzt endlich die Möglichkeit geben, etwas auszuruhen», erwiderte Lea «und ich hoffe, dass auch ich nun besser meinen Frieden finden werde.»
«Das wirst du bestimmt,» sprach die Löwenfrau überzeugt. «Du hast nun einen sehr wichtigen Teil von dir wiedergefunden und das wird dein Leben nachhaltig verändern. Von heute an, wirst du vielen Herausforderung in deinem Leben besser begegnen können. Alles wird gut! Glaube einfach nur daran!»
«Ja, jetzt kann ich das tatsächlich besser glauben. Ausserdem habe ich ja viele gute Menschen, die an meiner Seite stehen.»
«Genau! Und von diesen guten Menschen gibt es mehr, als du denkst!»
«Ja, ich glaube du hast recht,» gab Lea überzeugt zurück.
«Dann kehre jetzt wieder in deine Welt zurück und stelle dich den Herausforderung, die noch auf dich warten! Meine Kraft wird immer an deiner Seite sein. Vergiss das nie!»
«Ich danke dir liebe Löwenfrau! Ich werde daran denken, sollte der Zorn, worüber auch immer, wieder einmal hervorbrechen!»
Das ist gut, ja das ist sehr gut!» meinte die Löwenfrau und lächelte verschmitzt.
Die Löwin, welche sie begleitet hatte, kam nun zu Lea und strich, wie eine Katze schnurrend, um sie herum.
«Sakhmash will sich auch von die verabschieden! Auch sie wird von heute an, an deiner Seite sein! So leb den wohl Lea mit dem Löwenherz!»
In diesem Augenblick, verschwamm die Welt der Löwenfrau vor Leas Augen und sie fand sich wieder in ihrem weichen Bett, im Spitalzimmer…
Epilog
Durch die wundervollen und einprägsamen Ereignissen im Reich der Löwenfrau, hatte Lea tatsächlich zu einer neuen Kraft gefunden. Sie fühlte viel mehr Zuversicht in sich und ihre Ängste und Selbstvorwürfe, wegen den jüngsten Ereignissen, die zu ihrem Aufenthalt im Spital geführt hatten, gerieten immer mehr in den Hintergrund.
Mit neuer Vitalität stellte sie sich nun den Herausforderung und kam tatsächlich erstaunlich glimpflich aus der Sache heraus. Sie musste zwar tatsächlich eine saftige Busse bezahlen, doch ansonsten wendete sich alles zum Guten, denn zum Glück war niemand, bei dem Auffahrunfall, ernsthaft verletzt worden. Die Versicherung zahlte alles, was Lea ihr angab und auch gesundheitlich ging es schnell wieder aufwärts.
Die Beziehung zu Nathaniel und auch zu ihrem Sohn David, wurde durch den wundervollen Wachstumsschritt, den Lea einmal mehr gemacht hatte, noch mehr gestärkt.
Auch mit der Wut konnte die Frau nun besser umgehen. Wenn diese wieder drohte in ihr aufzusteigen, stiess sie in Gedanken ein lautes Löwengebrüll aus und dachte dann an die Worte der Löwenfrau zurück:
«Ich verstehe gut, warum du wütend bist, doch tatsächlich ist es so, dass du die Wut anerkennen, sie wahrnehmen, dich jedoch nicht zu sehr von ihr beherrschen lassen sollst, denn dann kostet sie dich Kraft. Kanalisiere sie besser, um vorwärts zu kommen, wenn du dich schwach und verloren fühlst!»
Ja und das wollte Lea nun immer mehr zu einem ihrer Leitsätze machen!