Ich begann zu schreien. Ich wollte nicht glauben, was ich da sah und krabbelte, so schnell ich konnte, zurück, bis ich gegen einen Baum stieß. Das grüne Etwas wich ebenfalls schreiend zurück, als hätte sie nicht mit dieser Reaktion meinerseits gerechnet. In meinem Kopf ratterte es. Was zum Teufel war hier los? Wie war das möglich?
Als sich die vierzehn Zentimeter große Gestalt beruhigt hatte, flog sie wieder auf mich zu. „Hey ganz ruhig, wir tun dir doch nichts“, sagte sie sanft und hob die Hände in beschwichtigender Art. Doch ich drängte mich immer enger an den Baum. Mein Blutdruck schien ungesund hoch zu sein, denn so, wie mein Herz gerade schlug, schien es fast zu zerspringen.
„Komm schon, du kennst uns doch oder?“ sprach sie weiter und war schon fast an meinem Gesicht. Ich schüttelte schnell den Kopf. Ich war total überfordert. Aber sie hatte Recht, ich kannte sie. Aber sie konnten nicht echt sein. Das war unmöglich!
Dann sah ich hinter der Gestalt kleine helle Lichtpunkte. Vielleicht fünf. Und als sie immer näherkamen, erkannte ich, dass es die gleichen Gestalten, wie das vor mir, waren. Mit Flügeln und Kleidern aus Blättern. Feen!
„Tink, das ist vielleicht nicht die beste Art, sie zu beruhigen“, sagte eine von ihnen mit langen, dunklen Haaren und violetter Hose und Oberteil. Auch sie kannte ich. Vidia?
„Okay, lasst mich das mal übernehmen, Mädels.“ Eine flog neben ihnen zu, wie ich nun stark annahm, Tinkerbell heran. Sie lächelte mich an, aber ich beobachtete jede Bewegung sehr genau und versuchte, mir einen Reim auf dieses Schauspiel zu machen. War das hier nur ein Traum? Halluzination? Es fühlte sich, trotz allen, real an.
„Hallöchen!“ sagte das Wesen freundlich und flog näher heran. Nun konnte ich sogar das Muster in den Flügeln erkennen.
„Ich werde mich erstmal ordentlich vorstellen. Ich bin-“ „Rosetta?“ fragte ich misstrauisch. Diese roten Locken und das pinke Blätterkleid konnten nur zu ihr passen. Sie sah mich weiter lächelnd an. „Ganz genau“, dann räusperte sie sich, „Nun, also ich denke, dass du gerade sehr viele Fragen hast, oder Süße?“ Da ich meine Stimme noch nicht wiedergefunden hatte, nickte ich nur schnell. Es kam mir alles so spanisch vor, was hier passierte. Das konnte doch nur ein Traum sein!
„Ich verspreche dir, dass sie alle beantwortet werden, aber leider nicht alle von uns. Damit du deine Antworten bekommst, musst du uns folgen.“ Sagte sie ruhig und zeigte auf einen Pfad. Doch ich schüttelte nur unsicher den Kopf. Wohin folgen?
Auf einmal flatterte der Rest der Wesen auf mich zu. „Komm schon, du wirst nicht enttäuscht sein!“ rief eine in orangefarbenen Blättern gekleidet. „Ja, so eine Chance kriegt jemand wie du nie wieder“, sagte nun eine in einem langen blauen Kleid. Ohne Zweifel, eindeutig Emily und Silberhauch, aber… was zu Teufel? So langsam kam meine Stimme zurück.
„Was ist hier los?“ war meine erste Frage. Sehr einfallsreich, aber mehr konnte mein Gehirn gerade nicht zusammenreimen. Nun sahen mich alle sechs Feen an, bis eine mit dunkler Haut und gelben Kleid antwortete. „Das erklären wir dir, während wir zum Schlosshof fliegen, wir müssen uns so langsam nämlich auf den Weg machen, es wird eng.“ Das war eindeutig Klara. Langsam stand ich auf, blieb aber gegen den Baum gelehnt. So ganz traute ich der ganzen Sache immer noch nicht. Doch bevor ich mit ihnen mitging, musste ich eine Frage noch stellen.
„Träume ich? Oder ist das real?“
Die Feen sahen mich erst nur an, bis sie auf einmal anfingen zu lachen. Verständnislos sah ich zwischen ihnen hin und her. Lachten die mich gerade ernsthaft aus? Silberhauch kriegte sich als erstes wieder ein. „Na was glaubst du denn?“ fragte sie mich grinsend. Verwirrt hob ich die Schultern und schüttelte den Kopf. Meine roten Haare hingen mit mittlerweile wirr im Gesicht. Die anderen haben sich auch wieder eingekriegt und erklärten mir folgendes:
„Das hier ist natürlich mehr als nur real, Butterblümchen. Wir schweben doch direkt vor deiner Nase. Aber Klara hat Recht, wir müssen dich jetzt dringend zum Schlosshof bringen. Sonst verpasst du alles.“ Meinte Rosetta.
„Was verpasse ich? Und welcher Schlosshof?“ fragte ich weiter. Doch eine von ihnen, Vidia, sagte nur: „Wirst du schon sehen, aber jetzt schnell!“ Die Feen sahen sich untereinander an und dann schwirrten sie wie wild um mich herum. Ich versteifte mich leicht geschockt und sah den Feen dabei zu, wie sie mich von oben bis unten umschwirrten. Und dabei diesen goldenen Glanz auf meinem Körper zurückließen.
Moment… Oh nein.
„Wartet! Moment!“ rief ich geschockt, als ich erkannte, was sie vorhatten. Doch es war zu spät, denn plötzlich fühlte ich mich immer leichter und leichter. Bis ich den Grund unter meinen Füßen nicht mehr spürte. Ich schwebte in der Luft! Panik breitete sich in mir aus und ich fing an herum zu strampeln. Ich flog. Schon wieder.
„Halt! Roya, ganz ruhig!“ sagte Tinkerbell. Doch für mich war gar nicht an Ruhe zu denken. Je höher ich schwebte, desto stärker wurde meine Panik.
„Lasst mich sofort runter!“ rief ich ängstlich. „Aber so sind wir schnell genug, dass der Zeitplan stimmt. Keine Panik, wir bringen dich sicher zum Hof!“ „Welcher Hof, verdammt!“
Ohne zu antworten nahmen die Feen jeder ein Teil meines Pyjamas in ihre kleinen Hände und zogen mich dann hinauf. Ich schrie auf, als ich sah, dass ich schon einige Meter vom Boden entfernt war. Dann flogen sie gerade aus. Ich kniff, vor Angst, die Augen zusammen.
„Süße, genieße doch etwas die Aussicht. Das Tal der Feen sieht jemand, wie du, nicht alle Tage!“ hörte ich Rosettas Stimme. Verwirrt öffnete ich ein Auge. Das Tal der Feen?
Ich ließ meine Augen über die Landschaft schweifen. Und tatsächlich. Ich konnte mich nur vage daran erinnern, Tinkerbell hatte ich lange nicht mehr im DVD-Player. Aber die Bäume, Bäche, Wiesen und Blumen… Jetzt weiß ich, warum das alles, auf der Lichtung, so perfekt aussah. Wenn sich Naturfeen höchstpersönlich um das alles kümmerten, konnte es nur perfekt sein. Die sechs Feen zogen mich durch die Luft und ich bewunderte die Landschaft. Ab und zu sah ich sogar andere Feen, wie sie Wellen erzeugten, Lichtstrahlen verschoben oder, wie sie mit den Tieren redeten. Es war faszinierend. Und merkwürdig.
„Okay, wir sind gleich da“, sagte Emily, die rechts neben mir den Saum meines Pyjamaoberteils gepackt hatte. Ich sah, so gut es ging, zu ihr.
„Wo da?“ fragte ich.
„Beim Portal zum Schloss. Du kommst gerade noch pünktlich“, sagte Tinkerbell, die meinen Kragen gefasst hatte. Anstatt, dass die Antworten mir halfen, wurde ich nur verwirrter. Von welchem Schloss redeten sie sie ganze Zeit?
Nur wenig später kamen wir an einer großen Steinwand an. Es war etwas kühler, wahrscheinlich waren wir nahe am Winterwald. Oh man, dass klang so komisch. Der goldene Staub auf mir wurde immer weniger, als mich die Feen langsam auf den Boden absetzten, bis er schließlich ganz verschwand. Die Feen flatterten nun vor mir. Sie sahen leicht fertig aus.
„Wow, das war ganz schön knapp mit dem Feenglanz. Wir hatten gehofft, du würdest länger ohnmächtig bleiben, dass hätten wir dich leicht hierherbringen können“, sagte Silberhauch. Länger ohnmächtig? Ich war wirklich ohnmächtig? „Wie, ich war ohnmächtig?“ „Ja du hast ein anderes Portal erwischt Herzchen. Eigentlich hättest du gleich im Schlosshof bei den anderen landen müssen, nur hat jemand ein falsches Portal geöffnet und du bist beim Feenglanzbaum gelandet, Süße“, erklärte mir Rosetta.
„Portal?“ fragte ich, „Welches Portal?“
Kurz darauf flog Tinkerbell zur Steinwand. Sie sah aus, als wäre hier mal ein Wasserfall gewesen. Die Steine waren spiegelglatt und glänzten in der Sonne. Ein Stein war so groß, wie ich selbst und sie waren am Rand genauso glatt, wie an der Oberfläche. Ich war total fasziniert, wie die meterhoch empor gestapelt lagen. Die kleine Tinkerfee flog zu einem Stein, der direkt vor meiner Nase war. Er war kleiner, als die anderen, vielleicht etwas größer, als meine Hand und der einzige, von dieser Sorte. Dass der mir nicht aufgefallen ist. Tinkerbell hob ihre Hand und legte sie auf den Stein. Daraufhin begann dieser auf einmal zu leuchten.
„Wow“, flüsterte ich beeindruckt. Das Licht breitete sich auf dem ganzen Stein aus, ehe es auch auf den unter sich und den beiden daneben überging. Nun erstreckte sich vor mir ein leuchtend weißes Oval, um die zwei Meter groß.
„Das ist ein Portal. So gelangen wir von Welt zu Welt, von Ort zu Ort, von Königreich zu Königreich… naja und so weiter“, sagte Emily neben meinem Ohr und ich sah zu ihr. „Wie meint ihr das? Von Welt zu Welt?“ fragte ich.
„Das wird alles noch erklärt, aber jetzt schön festhalten, es geht abwärts!“ rief Vidia und ehe ich mich versah, wurde ich von den sechs Feen in das Portal geschoben. Ich fühlte mich, als wenn ich durch einen Tornado fliegen würde. Ich fing an zu schreien, da es so rasend schnell ging und mit einem Mal landete ich auf einem harten Boden.
„Au“, flüsterte ich wehleidig und hielt mir mein Steißbein, als ich mich aufsetzte. So langsam hatte ich vom Fliegen, jeglicher Art, genug. Ich stand auf uns sah mich um. Ich war wirklich nicht mehr im Tal der Feen. Die Wiesen, Bäume und Blumen sind verschwunden und einer großen Halle gewichen. Und man, was für eine Halle. Staunend sah ich mich um. Es waren keine quadratischen Wände, sondern runde, wie in einem 360 Grad Kino. Sie waren durch und durch vergoldet, genau wie der Fußboden und alle 5 Meter ragten dünne Säulen bis zur Decke. Diese waren mit roten Ornamenten verziert, was ein schöner Kontrast zu dem Gold war. Und wirklich alles glitzerte und funkelte, als wären Sterne darauf gestreut worden. Aber noch beeindruckender waren die riesigen gezeichneten Gemälde, die zwischen den Säulen hingen. Ich drehte mich einmal um meine eigene Achse und betrachtete die Meisterwerke. Auf diesen waren Mickey, Donald, Goofy, Minnie, Daisy und Pluto abgebildet. Sie waren so perfekt, jeder Strich saß und man sah ganz deutlich eine Unterschrift unter den Zeichnungen. Walter Elias Disney.
Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wo war ich hier? Es war so wunderschön. Wie in einem Traumland. Mein Blick blieb nun an einem großen Tor hängen, dass wohl der einzige Ein – und Ausgang war. Auch dies war um den runden Torrahmen mit roten Ornamenten verziert. Ich wollte darauf zugehen, da mich die pure Neugier gepackt hatte, wurde aber von einer Stimme aufgehalten.
„Wir dürfen nicht rausgehen!“ rief jemand.
Überrascht drehte ich mich um. Ich hatte niemanden hier gesehen. Langsam ging ich nach rechts, wo die Stimme herkam. Und tatsächlich. An einer Säule, vor dem Plutogemälde, hockte ein Mädchen. Sie musste ungefähr in meinem Alter sein, hatte kurze braune Haare, kleine Augen und trug, wie ich, einen Schlafanzug, nur waren auf ihrem chinesische oder japanische Schriftzeichen.
Ich ging weiter auf sie zu und fragte: „Warum dürfen wir nicht raus?“
Sie zeigte desinteressiert auf ein Schild, dass neben dem Gemälde, unter dem sie hockte, angebracht war. „Da steht jedenfalls drauf, dass wir alle hier warten sollen. Auf was auch immer“, sagte sie und schaute auf den Boden. Verwirrt las ich, was draufstand.
Liebe Auserwählte,
ihr werdet gebeten, in der Empfangshalle zu warten, bis sich alle eingefunden haben. Wenn ihr angekommen seid, tragt euren Namen auf der Liste neben dem Micky Maus Gemälde ein. Sobald alle Namen vorhanden sind, werdet ihr abgeholt und vorbereitet werden.
Wir freuen uns auf euch,
C.
C? Was bedeutete C? Und Auserwählte? Mein Blick glitt wieder zu dem Mädchen. „Was heißt Auserwählte?“
„Ich habe keine Ahnung, keiner von uns.“
„Uns?“ fragte ich.
Sie zeigte mit einer ausladenden Handbewegung rechts neben sich. Ich folgte ihrem Blick und machte große Augen, als ich sah, dass dort noch andere Personen waren. Alle ungefähr in meinem Alter. Sie alle sahen sehr müde aus, waren, wie ich, in Schlafklamotten und hatten wirre Haare. Ich zählte fünf von ihnen. Und jeder sah anders aus, als der andere. Gravierend anders. Von der Hautfarbe und dem Körperbau, bis zur Größe und Gesichtsform.
„Wir hocken hier schon seit einer gefühlten Stunde herum und auf der Liste fehlt nur noch ein Name, das bist bestimmt du. Jetzt trage dich endlich ein, damit wir herausfinden, was das Ganze hier soll“, sagte das Mädchen schnippisch und ließ ihr Kinn auf ihre Knie fallen. Die hatte wohl weniger Schlaf gehabt, als ich.
Ich drehte mich um und ging auf das Gemälde von Micky Maus zu. Und neben dem goldenen Rahmen konnte ich tatsächlich ein Stück Papier finden. Das Einzige, was darraufstand, war: „Alle Jugendlichen bitte hier eintragen“, in der berühmt berüchtigten Disneyschrift.
Eine Feder lag daneben, auf einem kleinen goldenen Sockel. Ich nahm sie und betrachtete die Liste. Es war nur ein Strich ganz unten darauf zu sehen. Ich dachte, die anderen hätten sich schon eingetragen? Schulterzuckend nahm ich die Feder auf dem Tintenfass. Hoffentlich sah meine Schrift, mit der Federmiene, nicht zu unordentlich aus. Ich setzte die Feder an und schrieb, so lesbar wie möglich, meinen vollen Namen auf die Linie.
„Roya Idun Rønning.“
Kaum hatte ich den letzten Buchstaben geschrieben, begann die Feder auf einmal Funken zu sprühen. Erschrocken ließ ich sie fallen und sah zu, wie sie auf dem Boden begann sich zu drehen. Sie wurde immer kleiner, bis sie ganz verschwand und nur etwas goldener Glitzer übrig blieb. Ich sah wieder zur Liste hinauf. Auch diese begann, am Rand zu funkeln. Das Papier löste sich in diesen Funken auf, bis es nur noch daraus bestand. Und dann flogen sie auf das große Tor zu und verschwanden dahinter. Perplex sah ich noch eine Weile auf das Tor, bis ich mich langsam umdrehte und auf die anderen zuging. Mein Kopf ratterte so sehr, dass ich befürchtete, das der Rauch jeden Moment aus meinen Ohren treten würde. Als ich bei den anderen Jugendlichen ankam, sah ich, dass es ihnen nicht anders ergehen musste. Sie saßen alle in sich gekehrt an der Wand. Schlafanzug, wirre Haare, jeder genauso einzigartig, wie die Kontinente.
Was war hier los? Was suchten wir hier? Und warum sind wir „Die Auserwählten“?