Dieser Text ist entstanden in der Challenge der Gruppe „Beauties and Biests – Adults Only“. Der Prompt zeigt ein s/w-Bild eines schlanken Mannes auf einem Felsen am Meer. Er trägt ein paar nasse Shorts, eine Halskette und eine Sonnenbrille. https://www.dropbox.com/s/bmetet1reepezql/man-2153900_1920.jpg?dl=0
Es ist eine Fortsetzung von „Strandgedanken“ sowie „Blicke“.
Achtung: Mir war danach, dass es ein sehr trauriger Text wird.
Sand rutschte durch seine Zehen, ehe seine Fußsohlen den warmen, festen Fels spürte. Das Gehen fiel ihm nicht einfach, denn die Sonne erhitzte den Boden schon den ganzen Tag. Bald schon würde die Wärme wieder schwinden, und er fragte sich, was er von diesem Ort mitnehmen würde, das Warme oder das Kühle.
Er hörte nicht, wie ihm jemand hinterherpfiff. Wie denn auch, er war ja taub. Doch selbst wenn er es hätte hören können, er hätte kein Ohr dafür gehabt, so sehr war er in Erinnerungen versunken. Drei Jahre war es her, dass er auf einer Kaufhaus-Toilette die beste Begegnung seines Lebens hatte.
Endlich, kühlendes Wasser umspielte seine Füße. Es war sein Element. Die Erfahrung von Salzwasser und Wellen war neu, doch Schritt für Schritt ließ er das blaue Nass seinen Körper umschmeicheln, dachte dabei an den See, an dem sie so oft waren. Als seine Hüfte ins Meer eintauchte, zuckte er kurz wegen der kühleren Temperatur. Wie schon immer dauerte es, bis er ganz ins Wasser gleiten konnte. Doch es war nicht das Wasser, was ihn aufschreckte, sondern die Erinnerung an viel zu kalte Hände, die sich abends unter seiner Bettdecke verirrten und ihn zum anderen heranzogen. Kuschelminuten nannten sie es. Es war die wichtigste Zeit des Tages, denn sie beruhigte, was immer auch am Tag passiert ist. Die Nähe ließ keine Handgesten zu, doch wie viel man mit Augen sprechen konnte, wussten wohl nur diese beiden. Und wie er immer die kalten Finger an seinem warmen Hintern wärmte, oder, wenn das nicht genügte, direkt im Schritt. Einmal fragte er den Kalthändrigen, wo er die Eiswürfel verstecke, damit er einen Grund habe, sich an ihm zu wärmen. Doch der andere hob nur die Fäuste vor die Brust und zitterte mit ihnen, das Zeichen für kalt. Seine Antwort war immer die gleiche: Er deutete zuerst auf den anderen, hob beide Fäuste, die rechte über der linken, an die Brust und kreiste dann mit zart gespreitzten Fingern vor dem Körper. Kuschelbär.
Er ließ sich auf dem Rücken treiben. Er wusste ja, dass das leichter ging als am Badesee, doch er hatte keine Idee, wie es sich im Salzwasser anfühlte. Die Leichtigkeit faszinierte ihn.
Konnte er etwa schon den Abendstern sehen? „Du bist mein Stern, du gibst mir Halt“, hatte er dem anderen als Karte in den Koffer gelegt, als der zu einem Seminar auf Reisen ging. Prompt kam zwei Tage später eine Karte mit der Post: „Du bist mein Universum, nur durch dich habe ich einen Platz gefunden.“ Es waren diese kleinen Liebesbekundungen, die die Flamme am Leuchten hielt.
Es war Zeit, wieder an Land zu gehen. Mit einem Handtuch um die Schultern schaute er in die Sonne, die den Horizont gerade berührte. Das Rot des Himmels schien die Welt zu beruhigen. Wie gerne hätte er einmal das Meer rauschen hören. Davon schwärmte der andere, dem die Gabe des Hörens nicht genommen war, wie das Geräusch der Wellen die Seele besänftigt. Er versuchte oft, es zu erklären, doch es gelang ihm nicht. Sie waren gerade in einer Sauna, als dem anderen plötzlich eine Idee kam: Der legte die Hand auf seine Brust und bat ihm, es gleich zu tun. Gegenseitig berührten sie sich und fingen an, im Rhythmus des anderen zu atmen.
Ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Immer langsamer und ruhiger. Als er endlich verstand, was sein Freund meinte, musste er weinen, als hätte er tatsächlich zum ersten Mal Wellen gehört, wie sie an Land kamen und wieder gingen. Sie bemerkten gar nicht, wie berührt von dieser Szene die anderen Saunagäste waren.
Nun stand er hier am Strand, an dem Ort, an dem sie gemeinsam sein wollten, und sah den echten Wellen zu, atmete mit ihnen ein und aus. Er dachte, er hätte keine Tränen mehr, doch da waren sie wieder. Ob sie wie die Wellen immer wieder kommen würden, oder doch eines Tages versiegen würden? Im Moment war es ihm egal, er wollte nur niemals diesen Menschen vergessen, der ihm so viel Frische, Liebe und Hingabe schenkte. Sie lachten viel miteinander. Ihr Kennenlernen war reichlich ungewöhnlich. Goethe mit Erektion. Bei dem Gedanken mischte sich mitten in die Tränen ein Lächeln. Beides wischte er mit dem Handtuch weg. Es war an der Zeit.
Das Ende war absehbar, der Krebs aggressiv und das Leiden zum Glück von kurzer Dauer. Er wollte wissen, warum der andere trotz der Krankheit nie zu leiden schien. Die Antwort war immer die gleiche: „Weil ich dich in meinem Leben haben durfte. Und wenn das hier meine Zeit war, dann bin ich froh, dass ich sie nicht vergeudet habe.“
Wie gerne hätte er eine Seebestattung gehabt. Doch die Eltern setzten sich durch mit dem Familiengrab. Am Abend dieser Diskussion kam er aus dem Bad und hielt in den Händen die abgeschnittenen Haare. „Bringe sie ins Meer“, machte er seinem Freund deutlich. Es war das einzige Mal, dass er ihn mit Tränen in den Augen sah.
Timo packte das hölzerne Schiff aus, das er dafür vorbereitet hatte. Er öffnete das Verdeck des Modell-Bootes, in dem bereits Markus Haare deponiert waren. Noch einmal kramte er in seiner Tasche und holte eine Schere hervor. Strähne für Strähne schnitt er seine eigenen Haare ab und legte sie ins Boot dazu. Im Deckelinneren, mit dem er das Verdeck wieder schloss, war die Inschrift schon angebracht: „In jedem Wasser sind du und ich zusammen. T+M“
Zuletzt zog er die Kette aus, die den Beginn möglich machte, und legte sie auf das Schiff. Seine Knie zitterten, während er es zum Wasser trug. Als er bis zur Hüfte darin stand, setzte er es hinein und überlies das Boot dem Meer und dem Wind.
Jetzt wusste er, dass er die Wärme behalten würde.