Den Prompt zu diesem Text kannst du dir hier anschauen:
https://www.dropbox.com/s/p3h882lbdhv1yaz/tumblr_oim1hw3arm1tstm5qo1_r1_500.jpg?dl=0 (Gruppe Beauties and Beasts)
Wütend warf er den Telefonhörer auf die Gabel, sodass selbst die Glocke im alten Telefon erschrak und einen Laut von sich gab. Er war im Moment leicht in Rage zu bringen, denn nichts gelang ihm anscheinend mehr. Erst musste er nach New York ziehen, weil es auf dem Land keinen Job für ihn gab, dann hatte er Stress mit einem neuen Vorgesetzten bekommen, was ihn den Job gekostet hatte. Zum Glück konnte er als Kellner in einer etwas zu dunklen Bar eine Straßenecke weiter ein paar Dollar dazuverdienen. Es reichte gerade so zum Leben. Irgendwo zwischen all dem erzählte er seiner Mutter, dass er ihr keine Schwiegertochter und ganz sicher keine Enkelkinder schenken würde. Seitdem endeten alle sonntäglichen Telefonate mit der Frage, ob er es sich nicht doch anders überlegt habe; bei jedem dieser Gespräche mit seiner Mutter sprach sie dann von den jungen Frauen, die noch in dem kleinen Village lebten und keinen Mann hatten. Warum nur ließ sie ihn damit nicht in Ruhe? Warum durfte er nicht der sein, der er war? Wollte er so viel vom Leben?
Heute war eigentlich sein freier Tag in der Bar. Doch ein Kollege ist ausgefallen und so bat ihn sein Chef, einzuspringen. Das wäre noch gegangen, wenn nicht direkt danach seine Mutter wieder angerufen hätte. Er konnte bereits mitsprechen, was sie sagen wollte, doch plötzlich stimmte der Text nicht mehr überein: „Pa sagt, ich soll nicht mehr mit dir telefonieren.“ Im Hintergrund konnte er das Auto seines Vaters knattern hören, wahrscheinlich kam er gerade von der Kirche zurück. Sie flüsterte nur noch: „Er sagte ganz schlimme Dinge.“ Sie schluchzte.
„Was hat er gesagt?“ Er ahnte es schon.
„Dass du besser nicht mehr nach Hause kommst. So einen Schlappschwanz“, sie rang mit dem Atem, „entschuldige mein Junge.“ Er merkte, wie sie den Tränen nahe war, und ein bisschen tat sie ihm leid.
„Ist schon gut, Ma, wir wissen beide, wie er ist.“
„Nein, little Johnny“, er hasste es, wenn sie ihn so nannte, aber er ließ sie gewähren, „er war wirklich außer sich.“
Er hörte, wie eine Tür aufging und sich Schritte dem Telefon näherten: „Ist er das?“ Es war die wütende Stimme seines Vaters, bei deren Klang John unbeholfen zusammenzuckte, obwohl er viele hundert Meilen entfernt war. Dieses Mal reichte die Hand nicht mehr bis zu seinem Kopf. Trotzdem hörte er ein Klatschen und den Aufschrei seiner Mutter. „Du kleine Schwuchtel wirst unser Haus nie mehr betreten!“
Dann war die Leitung tot. Er verfluchte seinen Vater in einer Lautstärke, dass sein Nachbar gegen die Wand klopfte. Das war der Moment, an dem beinahe sein Telefon in die Brüche ging. Der Zorn blieb noch eine Weile, bis die Traurigkeit sich durchsetzen konnte. Wer war er noch? Was war er noch? Er verlor sich in der Angst, dass ein Seil zerschnitten war, das ihn wenigstens irgendwo noch festhielt. All das nur für die Art, wie er sich empfand, wie sein Körper fühlte und fühlen wollte. Unbeholfen umarmte er sich selbst, nur um festzustellen, dass es keinen Ersatz für einen anderen Menschen war. Wäre er jetzt gestorben, wer hätte ihn gefunden? Wer hätte um ihn geweint? Wohin wäre die Liebe weitergezogen, die in seinem Herzen voller Sehnsucht auf die Gelegenheit wartete, an einen anderen Mann vergossen zu werden?
Als seine Tränen trockneten, überließ er seinem Körper die Führung. Etwas bewegte ihn dazu, sich auszuziehen. Nur ohne Kleidung fühlte er, dass er er selbst war. Kein Schutz, kein Verstecken, nur die Wahrheit. Eine Weile schaute er so auf aus dem Fenster, mit der Hand hinterm Kopf an die Wand gelehnt beobachtete er die Menschen auf der Straße, wie sie lachten, wie Familien mit ihren Kindern in Sonntagskleidung den Gehweg entlangschlenderten, wie sie alle Augen für irgendetwas hatten, nur nicht für ihn. Wahrscheinlich versteckte ihn die Spiegelung der Fenster, doch es war ihm egal.
Erst als er anfing zu frösteln, zog er sich für seinen Dienst an, versuchte unbeholfen, seine dunkelblonden Locken zu bändigen, was ihm heute überhaupt nicht gelang, und verließ seine Wohnung Richtung Bar.
„Hey Johnny, schön, dass es klappt.“ William, ein Schrank von einem Mann mit fettem Schnauzer, war in etwa das Gegenteil seines Äußeren, wusste aber mit seinem Körper für Ruhe zu sorgen.
„Hi Will.“
„Alles gut bei dir?“
„Es ist Sonntagabend, was willst du?“
„Du weißt doch, es ist der ruhigste Abend, die Leute trauern heute um das vergangene Wochenende.“
Ob das der Grund war, warum er das Licht mehr dimmte als an den anderen Tagen? Er zog sich die Schürze um und bediente die Gäste. Zum ersten Mal merkte er, dass am Sonntagabend die Stimmung tatsächlich trüber war. Anders dagegen war, dass das Klavier einen Spieler hatte.
„Ist der neu?“
„Mmh“, brummte William, „kam frisch in die Stadt und wollte spielen. Bezahlen kann ich ihn nicht, aber er hat eine Mütze aufs Klavier gelegt. Ich hoffe, die Leute kapieren es. Bring ihm das hier mal.“ Er drückte John ein Bier in die Hand.
Er brachte es zum Pianisten. „Hier, Sam, das ist für dich“, und stellte das Bier ab.
„Ich heiß zwar nicht Sam, aber wenn ich es noch einmal spielen soll, mache ich das für dich.“
Ob diese Antwort ihn zum ersten Mal an diesem Tag zum Lächeln brachte oder die Augen, die ihn anschaute, konnte er in diesem Moment nicht sagen.
„Hi James, ich heiße Joe.“
Es waren die Augen, die ihn stottern ließen. „Fast, Johnny, einfach nur Johnny.“
„Kann ich mir merken“, lachte er und wechselte mitten im Lied zu etwas Munterem.
Der Abend verging und es waren nur noch wenige in der Bar.
„Mach Feierabend, Johnny. Die restlichen bekomme ich noch alleine bedient.“
Es war nur der Hauch einer Idee, der eine etwas schnellere Herzschlag in seiner Brust, der ihn sagen ließ: „Ach, gib mir auch noch ein Bier. Ich setze mich noch kurz da rüber.“
William zuckte mit den Schultern und gab ihm ein Bier, mit dem er zu Joe ging. Er nahm auf dem Stuhl neben dem Klavier Platz und lauschte den Klängen. Tatsächlich waren an dem Abend ein paar Dollarnoten in die Mütze gewandert, Joe sah zufrieden aus.
In die Improvisation hinein meinte Johnny: „Mir gefällt, was du spielst. Erinnert mich ein bisschen an früher.“
„Hast du auch mal gespielt?“ Johnny lachte. Es war eine gute Zeit gewesen, als er damals Klavierstunden in der Kirche bekam. Als die Welt noch in Ordnung für ihn war. Joe rückte auf der Bank vor dem Klavier ein Stück nach links. „Komm, setz dich, und spiel einfach. Ich mache dann mit.“
„Was? Das soll gehen?“
„Natürlich.“
Johnny nahm einen großen Schluck, als würde er Mut direkt in sich hineinfüllen, und setzte sich auf die Bank. Seine Finger kramten mühevoll in den Erinnerungen, bis die ersten Töne eines Kirchenliedes leise die Bar füllten. Kaum war der erste Takt gespielt, setzte Joe mit ein, übernahm die tieferen Töne und gab der Melodie Halt. Ganz richtig hörte es sich nicht an, aber irgendwie schaffte es Joe, daraus etwas zu machen, das sich immer noch gut anhörte.
Als das Lied zu Ende war, streckte sich von hinten der Arm eines älteren Mannes mit zwei Scheinen Richtung Hut. „Da hat sich ja ein hübsches Duo gefunden“, meinte der ganz nebenbei.
„Danke“, kam es wie aus einem Mund. Sie treten sich dabei um und sahen, dass es der letzte Gast war. Ob er absichtlich bis zum Schluss gewartet hatte? Sie sahen beide noch das faltige Gesicht des alten Mannes, das irgendwie traurig wirkte. Doch schon drehte er sich um und ging.
„Weißt du, wo man hier irgendwo pennen kann?“
„Du hast noch keine Bleibe?“
„Nö.“
„Oh. Äh. Also, äh.“ Er stotterte. „Also ich wohne um die Ecke.“
„Wenn das gehen würde?“
„Naja, ist ja schon dunkel, wird keiner mitbekommen, oder?“
Von der Theke raunte es durch die Bar: „Jungs, macht Feierabend, ich will auch ins Bett. Und hier“, Will legte ein paar Dollarnoten auf den Tresen, „die sind für dich, gab irgendwie mehr Trinkgeld heute als sonst.“
„Danke!“
„Ja, ja. Schafft euch nach Hause.“ Und genau das taten sie.