Diese Geschichte ist entstanden über den Dezember-Prompt der Beauties And Beasts-Gruppe. Das Bild kannst du dir hier anschauen: https://www.dropbox.com/s/ru82ijykqax25yq/16745513709063520867074509755255.jpg?dl=0
Sein Rücken schmerzte fürchterlich. Wie lange hatte er wohl schon hier auf dem harten Felsen gelegen? Die Kühle des Gesteins war schon in seinem Innersten angekommen, doch sie war nichts gegen die Eiseskälte, die sein Herz und seine Gefühle durchbohrten. Womit hatte er das verdient?
Mühevoll richtete er sich auf, vergrub seine kräftigen Hände in den Boden und hätte diesen am liebsten zwischen den Fingern verrieben. Nur einen Tag vorher wäre das ihm ein Einfaches gewesen, doch jetzt war er schwach, kaum in der Lage, sich aufzurichten.
Fahles Licht verhieß einen baldigen Sonnenaufgang, und er bemerkte, dass er auf einem Felsvorsprung saß. Er richtete seinen Blick in die Tiefe und versuchte zu erkennen, was dort unten war. Doch dafür war es noch nicht hell genug. Trotzdem oder genau deshalb zog der Abgrund ihn in den Bann: In diesem Nichts hätte die Scham keinen Grund mehr, ihn zu demütigen.
Ein Knacken von Holz riss ihn aus seinen Gedanken.
„Nanu? Herrje, Sie sind ja nackt!“ Die Stimme kam näher.
Ängstlich wollte er wegkriechen, aber wohin?
„Geht es Ihnen gut?“ Eine Hand kam auf ihn zu. „Hier, ich helfe Ihnen hoch.“
Er blickte die Hand an. Was hätte er damit machen sollen?
„Hallo?“, die Stimme schien auf seiner Kopfhöhe zu sein, nicht mehr von oben herab. „Können Sie mich verstehen?“
Keine Gehässigkeit klang mit dieser Frage, kein Vorwurf, kein Hass. Er traute sich und schaute auf. Seine Haare, die ihm wirr in die Stirn hingen, musste er mit einer Handbewegung zur Seite schieben. Er erkannte nur Sorge in dem Gesicht gegenüber. Als er sich immer noch nicht rührte, bewegte der andere beide Arme zu ihm und seinen Schultern, berührte ihn kurz und zuckte zurück.
„Sie“, stotterte der. „Sie sind ja kalt wie Eis!“ Er stand auf, öffnete seine Jacke und zog sie aus. Dabei drehte er sich um die eigene Achse und erschrak, als er Nackte ebenfalls vor ihm stand. War der vollkommen geräuschlos aufgestanden? Wer war das? Der Gedanke spielte jetzt keine Rolle, schließlich war der Mann vor ihm kurz vor dem Erfrieren. „Hier, ziehen Sie meine Jacke an. Bitte!“, und hielt ihm die Jacke mit ausgestreckten Armen hin.
Zögernd nahm der Nackte das Angebot an, wenn es den anderen glücklich machen würde. Wieder standen sie sich gegenüber, ohne dass etwas passierte.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen mit dem Zumachen.“ Es war ihm sichtlich peinlich, so nah an den Nackten herantreten zu müssen. Seine Hände zitterten, und er benötigte ein paar Versuche, den Reißverschluss zu schließen. Erst am Ende traute er sich, dem Fremden in die Augen zu schauen, in denen sich blauer Himmel zu spiegeln schien, obwohl es so bewölkt war. „Können Sie so laufen? Ich habe in der Nähe eine kleine Hütte.“ Als keine Reaktion kam, winkte er mit der Hand als Einladung, ihm zu folgen. Das schien zu funktionieren.
Wenig später waren sie in der Hütte angekommen. Im Ofen glimmte noch die Glut und er warf etwas Holz darauf, das kurz später wieder brannte.
„Ich koche einen heißen Tee für Sie, ok?“ Keine Reaktion, außer dass der Fremde ihn ansah. „Ok, heißer Tee. Wir haben zwar schon Frühling, aber es ist immer noch Zeit für heißen Tee“, sprach er mehr zu sich selbst und stellte einen Wasserkocher an. Wie froh er doch war, hier in der Hütte inzwischen Strom zu haben. Früher hätte das sehr viel länger gedauert. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Fremde die Jacke auszog, sich einen Stuhl nahm und dicht ans Feuer setzte. „Gut, gut“, beruhigte er sich. „Alles wird gut“, und brühte eine Tasse mit Pfefferminztee auf. Als er sie auf einem kleinen Tisch neben dem Kamin abstellte, sah er sich den Rücken des Fremden an. „Sie haben da eine Wunde!“ Sanft berührte er ihn in der Nähe, nur um ihm zu zeigen, wo die Wunde war.
Ein schmerzhafter Schrei ließ ihn die Hand vor Schreck zurückziehen. Also, so groß oder tief war die Wunde doch nicht, dass man so schreien musste. „Ach herrje, herrje, herrje. Das muss doch verarztet werden!“
Die Hand des Nackten fuhr herum und hielt ihn, kräftiger und bestimmter, als er es erwartet hätte, zurück. Die Finger waren noch immer eiskalt, und gleichzeitig so kräftig, dass sie keinen Widerspruch erlaubten. Also blieb er stehen und wieder schauten sie sich in die Augen. Schließlich ließ er von dem Gedanken ab, Verbandsmaterial zu holen, und zog sich einen anderen Stuhl herbei. Dann erst ließ ihn der Nackte los. „Ok ok, ich bleibe bei Ihnen, keine Sorge.“
Beide schauten sie in die Flammen, die die Wärme in den Raum abgaben. Die Neugierde obsiegte schließlich und er schaute sich den Fremden an. Wie kräftig er doch war, welch perfekten Muskeln ein breites Kreuz bildeten, einen Körper, den er schon einmal geliebt hatte, vor vielen Jahren. Er merkte nicht, wie der Nackte ihn ansah, als könnte er diese Erinnerungen ebenfalls sehen. Hatte er sich schon so sehr an das Schweigen gewöhnt, dass er vor Schreck derart zusammenzuckte, als die Stimme des Nackten, sehr viel tiefer und voluminöser, als er vermutet hatte: „Du auch?“, zu ihm sprach?
Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Hatte er sich verraten? Er hätte ihn nie anschauen dürfen. Nicht auf diese Weise. Nicht mit der Erinnerung an eine Lust, die nicht erwidert wurde und in einem Desaster endete. Die Zeit verstrich, unfähig etwas zu sagen, und doch wartete der Nackte, bis er eine Antwort bekam.
Minuten später flüsterte er: „Es tut mir so leid.“ Ob er damit meinte, dass er den anderen mit Begierde angeschaut hatte, oder ob er damit in der Erinnerung versank, wusste er selbst nicht.
„Dir muss es nicht leid tun, David.“
„Äh, woher, äh, woher kennst du meinen Namen?“
Doch er bekam keine Antwort: „Du bist ein Mensch. Du darfst lieben.“
Es dauerte eine Weile, bis diese Antwort in sein Bewusstsein durchgedrungen ist. „Ja, bist du denn keiner?“
Das Gesicht des Nackten wurde kraftlos, er senkte den Blick und eine Träne schien ihm über die Wange zu laufen. Doch statt einer Antwort richtete er sich auf, streckte die Schultern und mit einem sanften Rascheln erschienen zwei schwarze Flügel.
David starrte ihn an und hoffte so sehr, dass er das nur träumte. Doch der Traum verschwand einfach nicht. „Was bist du?“, traute er sich schließlich, wenn auch nur stimmlos, zu fragen.
Die Flügel verschwanden wieder und er setzte sich. Nachdenklich antwortete er schließlich: „Gefallen.“
David schien zu verstehen: „Aber haben Engel nicht weiße Flügel?“ Es waren Bilder aus den Erzählungen seiner Mutter, als er noch Kind war, die seine Frage formulierten.
„Nur so lange man nicht verstoßen wird.“
„Verstoßen“, wiederholte David mehr zu sich selbst. Das kannte er nur zu gut. Nur würde man einem Menschen niemals außen diesen Schmerz ansehen. Doch Menschen brauchen solche Zeichen nicht, um jemanden zu kennzeichnen.
„Warum hat man dich verstoßen?“
„Wir Engel bevorzugen niemanden. Niemals. Jeder Mensch auf dieser Welt hat Engel verdient.“ Er schluckte. „Aber wenn die Liebe besonders wird...“, er konnte den Satz nicht beenden, vergrub sein Gesicht hinter seinen Händen und weinte in sich hinein.
David konnte das nicht mit ansehen. Was seine Vergangenheit war, musste nicht auch die Vergangenheit anderer werden. Er beugte sich vor und nahm den Engel in die Arme, drückte ihn an sich. „Liebe ist immer nur Geben. Sie nimmt nichts. Niemals kann sie das, denn dann ist es keine Liebe mehr.“ Das Schluchzen an seinen Schultern wurde weniger und verebbte schließlich.
Der Engel löste sich, und er hatte sogar ein sanftes Lächeln auf den Lippen. „Es ist so viel komplizierter für mich.“
„Liebe kann nicht kompliziert sein. Es sind nur die anderen, die etwas Kompliziertes daraus machen.“
Der Engel dachte kurz nach. „Warum muss ich das von einem Menschen lernen?“
Doch für David war das die falsche Frage: „Warum kann das nur jemand erkennen, der gefallen?“ Er merkte, wie der Engel plötzlich wieder wärmer wurde, wie die Kälte aus ihm verschwand. Noch einmal blickte ihn das schöne Gesicht an, ein paar Haarsträhnen vor den Augen. „Du hast Recht!“, meinte er und seine Lippen näherten denen Davids. Der Kuss war das Intensivste, was David jemals erlebte, als würde ihn Licht durchfluten, größtes Glück schenken, und tiefste Zufriedenheit erzeugen. So groß, dass es ihn in eine andere Realität zu heben schien, bis er schließlich ganz darin aufging.
Die Sonne schien ins Zimmer seiner Hütte, als er aufwachte. Die Vögel zwitscherten ihre Frühlingslieder. Schon lange hatte David nicht mehr so gut geschlafen. Was war das nur für ein seltsamer Traum. Ein Engel? Er hatte einen Engel geküsst? Verrückt.
Fröhlich stand er auf, war voller Tatendrang. Als er das Fenster öffnen wollte, sah er auf dem Tisch eine schwarze Feder liegen. Das konnte doch nicht sein, oder? Er nahm sie und hielt sie ins Licht des Fensters, um sie sich genauer anzuschauen. Erstaunlicherweise schimmerte sie in allen Farben des Regenbogens, und zum ersten Mal hatte er nicht nur den Wunsch, sondern auch den Mut, wieder lieben zu wollen.