Dies ist der zweite Anlauf für diesen Text, das Ergebnis des ersten Anlaufs hat es in die Oberwelt geschafft: https://belletristica.com/de/books/16661-gaydons-kurzgeschichten-edition-oberwelt/chapter/67254-rote-schuhe
Jetzt geht's aber in die Unterwelt und zwar passend zu der Übung aus diesem Buch hier: https://belletristica.com/de/books/17338-ubungsbuch-unterwelt/chapter/64222-schreibubung-2-figur, die Gruppe dazu findest du hier: https://belletristica.com/de/groups/256-helden-der-unterwelt#group
Kaffeelöffelgeklapper, gemischt mit einem Lachen hier, einem Plappern da, und heute sogar mit der Musik eines Pianisten, der sich tapfer im Hintergrund hielt, damit die Gäste nicht lauter sprechen mussten, füllten den Raum. Der Pianist hatte heute eine ganz besondere Herausforderung, denn sein Klavier stand nicht mitten im Raum wie sonst, sondern an der Wand, sodass er eben auch nur diese Wand sehen konnte und vielleicht noch das, was rechts und links von ihm passierte. Doch er war anders als viele andere Pianisten. Er konnte den Sound von Gästen aufnehmen, ihre Stimmung spüren, ob sie mit der Musik mitschwangen oder nicht. Genau darauf konnte er reagieren und noch im gleichen Stück, das er gerade zum Besten gab, kleinste Veränderungen einbauen, den Tastenanschlag etwas härter oder sanfter, den Rhythmus leicht verändern, mit dem Fortepedal etwas länger oder kürzer warten, bis er den Saiten wieder Ruhe verschaffte, und so am Skelett, den Muskeln und den Sehnen der Musik arbeiten, wie ein Physiotherapeut es an einem Menschen tun würde. So zumindest erklärte er es vielen Leuten, die zwar die Wirkung seiner Musik kannten, jedoch keine Vorstellung davon hatten, wie er es schaffte.
Der Wirt des Cafés, der ihn für heute anheuerte, verstand sehr gut, wie er arbeitete, und er war einer der ganz wenigen, die dafür auch den Preis zahlten, den er dafür aufruf. Warum der Wirt ihm jedoch verboten hat, sich den ganzen Abend und die ganze Nacht zum Gastraum umzudrehen, verstand er nicht. Es war ihm aber egal, die Augen waren ja sowieso nicht sein bester Sinn. So saß er also direkt neben dem Abgang zur Toilette und gab dem Wirt sein Wort, sich an die Abmachung zu halten. Dafür hatte er freie Wahl, was er spielen wollte. Nur einen einzigen Musikwunsch zur Mitternacht wurde ihm mitgeteilt.
Den Nachmittag füllte der Pianist das Café d’amour mit Kaffeehausmusik. Zu unterschiedlich waren seine Wahrnehmungen. Es gab sowohl Liebespaare im Raum, als auch vom Shopping gestresste Menschen, die sich zumindest eine Tasse Kaffee oder Tee erlaubten. Für einige von den Gästen schien das sogar die erste Erholung der ganzen Woche zu sein. Irgendwo rechts von ihm lachte eine Frau so herzlich, dass er etwas schneller spielte, fast zu schnell für dieses Stück und so bremste er wieder, bis auch wohl deren Gespräch wieder etwas ernster wurde. Da stimmte irgendetwas nicht mit den beiden, doch sie würden es leicht klären können. Anders als das Ehepaar links hinter ihm. Wegen irgendetwas war sie gar nicht gut auf ihren Mann zu sprechen, und er ließ das Fortepedal etwas länger gedrückt, damit die Musik etwas getragener wurde, bis sie wieder Halt fand. Nicht jeder, der das Café der Liebe betrat, war verliebt, doch er konnte es werden.
Die Zeit verflog und die Sonne ging unter als er merkte, wie die Gäste wechselten. Die Kaffee-Kuchen-Menschen verließen das Café zugunsten der Cocktail-Liebhaber, Menschen, die den Abend und vielleicht die Nacht zum Tag machen wollten. Als ein Kellner zu ihm kam und ihm einen Virgin Strawberry Daiquiri hinstellte, wusste er, was noch anders war: Schichtwechsel bei den Bedienungen. Ganz sicher waren die Frauen mit ihrer Schicht fertig und nur noch junge Männer wie dieser, schlank, elegant, im weißen Hemd und dieses Lächeln, das er kurz sehen konnte, und in dem ein Hauch von Erotik mitschwang, versorgten jetzt die Gäste. Der Kellner berührte ihn mit der Hand auf der Schulter, kam mit seinem Kopf näher und flüsterte ihm ins Ohr, dass es ihm so sehr gefalle, wie er heute Abend spielt. Auch wenn der Pianist sehr wohl spürte, wie die Leute im Raum in seiner Musik badeten, freute es ihn doch, diese kleine Rückmeldung zu erhalten. Und was für eine erotische Stimme der Kellner doch hatte! Ob er wusste, wie er auf ihn wirkte? Er bedankte sich mit einer kleinen Improvisation und genoss, wie der Kellner mit der Hand über seinen Rücken strich, bevor er wieder ging.
Wieder spürte er an den Tisch rechts, an dem gerade zwei Männer aufstanden. Aus dem Augenwinkel konnte er nur sehen, dass beide rote Schuhe anhatten und musste schmunzeln. Er war sich sicher, dass sie sich vor ein paar Stunden noch nicht kannten, und doch fanden sie so intensiv zu sich. Nun ja, seine Musik gab da sicherlich einen kleinen Beitrag dazu. Doch sie passten nicht mehr zu den anderen, die inzwischen im Raum waren, deshalb mussten sie jetzt gehen. Es gab mindestens ein Dutzend Frauen im Raum, die sich erhofften, an diesem Ort einen Mann zu finden. Warum spürte er von ihnen eine Sehnsucht und von den Männern nicht? Aber wenn diese Frauen auf die Spaß-Karte setzten, dann wollte er ihnen nicht im Wege stehen, im Gegenteil. Mit den Fingern auf den Tasten lud er alle ein, an dem Spaß teilzuhaben und ein Prickeln in ihm selbst zeigte ihm, dass alle in dem Raum mitgingen.
Das Licht wurde am Abend immer weiter verdunkelt, sodass aus dem Café langsam etwas wurde, was er selbst Höhle nannte. Außerdem wurden die Fenster mit dunkelroten Samtvorhängen verschlossen. Das Geräusch der Automatik, die sich dafür in Bewegung setzte, kannte er von bisherigen Engagements in diesem Café. Als wenn das ein Zeichen gewesen wäre, dass sie jetzt alle unter sich waren und niemand sie mehr beobachten konnte, hob sich das erotische Niveau im Raum um ihn herum. Er spürte, wie die ersten anfingen, sich zu küssen. Er hätte das selbst in absoluter Dunkelheit und Stille wahrgenommen, wie diese Energie zweier Menschen, die zueinander fanden, sich mehr als verdoppelte. Sein Spiel sorgte dafür, dass sie sich noch weiter multiplizierte. Nicht aufhören, weitermachen. Die Erotik, die durch den Raum schwang und jeden, der sich darin aufhielt, küsste, traf sogar ihn selbst, er schmolz mit den Anwesenden in die wohlige Wärme des Aufgehobenseins und des sich Fallenlassens. Die Erregung spürte er nicht nur hinter sich im Raum, sondern auch bei sich selbst und in seiner Unterhose wurde es eng. Für einen Moment spielte er nur mit seiner Linken die rhythmischen Akkorde, um seine Erektion zu mehr Bequemlichkeit zu verhelfen. Wie lange auch immer die Nacht dauern sollte, so lange würde auch er seine Erregung haben. Trotz der Schmerzen, die es verursachen konnte, mochte er diesen Zustand über Stunden zu haben, nicht zuletzt, weil er bei den Menschen den Wunsch der Entladung mit seinem Spiel ebenfalls bremste.
Die Uhr über dem Klavier zeigte ihm an, dass er noch eine Minute hatte bis Mitternacht. Die nutzte er mit einem Crescendo, das darauf hinarbeitete und merkte erst jetzt, dass sich der Raum hinter ihm verändert haben musste. Es gab mehr Platz denn je, wahrscheinlich waren Tische weggeräumt worden, sodass auch getanzt werden konnte. Mitternacht. Aus seinem Crescendo wurde absolute Stille und er wartete, bis alle Gäste im Raum mucksmäuschenstill waren. Dann begann er mit Lady Marmalade. Was geschah da hinter ihm? Die Spannung ging auf einen Höhepunkt zu und tatsächlich hätte er sich tatsächlich einmal gerne herumgedreht, doch er blieb bei der Musik und nach der ersten Reaktion des Publikums war ihm klar, dass sich jemand auszog. Nein, nicht eine Person, es waren mehrere. Männer oder Frauen? Nur Männer, das war klar, weil vor allem das weibliche Publikum johlte, doch es waren genügend Männer im Raum, die sehr gerne ebenfalls zuschauten. Er hoffte, er würde erfahren, ob es die Kellner waren, die hier ihre Haut zur Schau stellten. Sein Lied endete und alle applaudierten frenetisch. Dann verteilten sie alle wieder im Raum, doch anders, als wären die ganzen Paare einmal durchgewürfelt worden. Der Raum, der mehr rotes Licht erhielt füllte sich mit Obsession und sein Spiel gab dies sofort wieder. Hier war mehr, als nur Erotik, ganz sicher gab es Paare, die die Tanzfläche jetzt für engen Tanz und Zungenküsse nutzten. Er fing an, den Rhythmus in die Tasten zu hauen, den seine Gäste jetzt brauchten. Nicht aufhören, lasst euch tragen von meinem Spiel. Er merkte, wie sich jemand von hinten an ihn näherte, doch er unterbrach nicht. Spürte die warme Hand auf seiner linken Schulter und wie sich der Kellner, der ihn vorhin schon einmal lobte, sich neben ihn saß, nur er konnte das sein, da war er sich sicher. Seine Augen waren verschlossen, seine Finger wussten, wo die Tasten waren. Er hörte, wie eine zusätzliche Basstaste im Rhythmus mitspielte und sein linker Arm hochgehoben wurde, damit er den Platz für den Kellner freigab. Der übernahm die Basslage, während er mit seiner rechten improvisierte. Seine linke wurde nach oben geführt und er spürte küssende Lippen darauf. Seine Improvisation spiegelte sein Einverständnis. Seine Linke wurde an die Brust des jungen Mannes neben ihn geführt, Muskeln, keine Haare, samtweiche Haut und darunter die jugendliche Kraft. Doch er merkte, wie eine Berührung willkommen waren und wie er sie genoss. Dann wurde er zum rechten Bein geführt, auch das nackt. Zart in Richtung des Schrittes des jungen Mannes, direkt in die Mitte hinein und er spürte die harte Erektion, die der Kellner in seiner Unterhose hatte. Seine Hand wurde darauf gedrückt und er merkte, wie auch an seinem Bein eine Hand entlangfuhr, hin zu seiner Mitte, hin zu seiner Erregung. Ein wenig zu fest griff er zu, sodass er kurz etwas lauter spielte. Dann das Flüstern ebendieses Kellners mit der sinnlichen Stimme: „Spiel, dass die Menschen hier den Sex ihres Lebens haben!“ Und wieder wurde seine Linke geführt, zurück zu den Tasten. Er spielte. Er spielte die Lieder der wilden Liebe, die Lieder der Ungezwungenheit und Gelöstheit, die Lieder, die verrucht waren, weil sie jeden, der sie hörte, zu dem animierten, was man niemals in der Gesellschaft offen zeigen wollte, er füllte die Stunden, ohne jemals aufzuhören, bis er beinahe eins war mit jedem hier im im Saal, bis jeder seine Erlösung einmal hinausschrie, nicht zurückhalten, löse dich, gib frei, was immer du hast, gib Erfüllung und nimm Erfüllung, lass deinen Körper prickeln als bestünde er nur noch aus Sauerstoff und Ekstase, brülle die Befreiung in die Welt hinein! Nur er selbst, er war noch nicht befreit, liebte, wie andere sich im Sex ergossen, als ein Stuhl von hinten an seinen Klavierhocker gestellt wurde. Jemand nahm hinter ihm Platz und er hoffte so sehr, es ist der Kellner mit dieser Stimme, die allein es schaffen konnte, ihn um den Verstand zu bringen. Ein nacktes Bein rechts und ein nacktes Bein links klemmten ihn ein. Das säuseln dieser Stimme in seinem Ohr: „Spiel. Spiele deinen eigenen Orgasmus!“ Und er merkte, dass dieser Kellner keine Unterhose mehr trug, sein steifes Glied wurde an seinen Rücken gepresst und die Hände streichelten seine Brust. Immer lauter, immer kräftiger. Die Hände wanderten nach unten, öffneten seinen Reißverschluss und befreiten endlich, endlich erhielt sein Gemächt die Freiheit. „Spiel, spiel für mich!“ hörte er in seinem Ohr und seine Erregung entlud sich gemeinsam mit des Mannes, dessen Stimme für ihn noch mehr Sex bedeutete als das gerade Erlebte.
Als sein Spiel den Punkt des Fortissimo überschritten hatte, umarmte ihn der Mann, so wie seine Musik alle im Raum umarmte. Küsse, immer langsamer mit ein wenig Moll darin, spürte er an seinem Nacken. Doch die Nacht war noch nicht zu Ende. Der Raum im Abebben der Lust verwandelte sich weiter, mit seiner Musik deckte er die Menschen zu, so wie er jetzt gehalten wurde. Noch nie hat es jemand geschafft, ihm derart zurückzugeben, was seine Musik ansonsten bewirkte. Er wusste nicht, wie lange genau er so festgehalten wurde, er merkte nur, wie seine Musik immer langsamer wurde. Wenn die Menschen nicht gegangen waren, lagen sie ganz sicher noch irgendwo und schliefen, so wie der, der ihn so wunderbar hielt, ebenfalls tief und ruhig atmete.
Irgendwo zwängte sich ein erster Lichtstrahl durch einen Vorhang und der Mann, der noch immer hinter ihm saß, mit seinen nackten Beinen dicht an ihn geschmiegt, nahm die Hände von seiner Brust und legte sie ebenfalls auf das Klavier. Stimmte ein paar Takte mit ein, bis sie gemeinsam einen Schlussakkord den Tasten entlockten.
Stille.
„Dreh dich um“, wurde er eingeladen und der Pianist drehte langsam seinen Kopf. Das erste, was er sah, waren die dunklen Augen des Kellners, die ihn anlächelten. Ein liebevoller Kuss landete auf seinen Wangen. Dann drehte er den Kopf noch weiter und sah, wie alles an seinem Platz stand, bereit für das Frühstück, das gleich anfangen würde, die Kaffeemaschine bereits ihren Duft ausbreitete, als wäre in der Nacht nichts passiert. Erst jetzt wurde ihm die feuchten Stellen auf seiner Hose und hinten an seinem Hemd bewusst, die das klebrige Ergebnis der Ekstase sein mussten, die er erlebt, die er erzeugt hatte.
„Frühstück?“ fragte keck der Kellner.
Doch der Pianist wollte wissen: „Was ist heute Nacht passiert?“
„Was glaubst du? Es war deine Musik.“
Der Pianist nickte. „Ok, Rührei, bitte aus zwei Eiern.“ Mit einem Lachen lösten sie sich voneinander.