Inktober: Die Haarsträhne
Triggerwarnung: Stalking
Alles was ich wollte, bist du. Verstehst du das nicht?
Du solltest mir gehören. Du solltest mich lieben.
Du... du allein hättest mich retten können.
Ich gehe auf und ab. Ist heute der Tag? Vielleicht ist heute endlich der Tag an dem ich dich anspreche. Nervös schaue ich auf die Uhr und bewege mich in die Richtung, aus der du kommen wirst. Aus der du immer kommst, wenn du Feierabend hast. Du gehst mir auf der Straße entgegen. Wie immer zu dieser Jahreszeit trägst du den hübschen roten Mantel, der deine Figur betont. Langsam kommst du mir entgegen. Mein Herz hämmert laut in der Brust und meine Gedanken verschwinden. Die Zeit wird klebrig wie süßer Honig, dein Blick wandert durch die Gasse und bleibt nur für den Bruchteil einer Sekunde an mir hängen. Bevor ich den Mund öffnen kann, bist du schon an mir vorbei gegangen und der Moment ist verpasst. Innerlich verfluche ich mich für meine Feigheit.
Tage vergehen, an denen ich mich nicht nochmal aufraffen und meinen Mut zusammen nehmen kann. Wie sonst auch sitze ich nur in dem kleinen Café, hinter der verdunkelten Scheibe und schaue dir zu, wie du von der Arbeit nach Hause gehst. Eine ältere Frau spricht dich an und du redest mit ihr. Freundlich ziert ein Lächeln deine wundervollen Lippen. Wie gern ich sie küssen würde.
Ich schüttele den Kopf. Ich kann dich nicht einmal ansprechen. Was ist, wenn du mich auslachst? Mich abwertend musterst und nur Spott für meine Liebe findest?
Genau wie die anderen...
Nein. Wieder schüttele ich den Kopf, diesmal energischer. So wie die bist du sicher nicht. Nicht du. Du kannst mich lieben. Du kannst mich retten.
Die quälende Einsamkeit bringt mich um. Warum bin ich nur so wertlos? Die Stimmen in meinem Kopf sind wieder grausam, dieser Tage, und der Druck in mir steigt. Und steigt. Warum habe ich dich nicht angesprochen?
Ich muss dich haben. Ich muss. Ich muss etwas tun.
Als du wieder zur Arbeit gehst, warte ich, bis du außer Sichtweite bist, bevor ich mich langsam deinem Haus nähere. In alle Richtungen schaue ich mich um, um sicher zu gehen, dass niemand mich beobachtet. Wie immer ist das Fenster in deinem Badezimmer nur gekippt und mit dem Draht-Trick ist es ein Leichtes für mich, es zu öffnen. Rasch steige ich ein und lehne das Fenster wieder an.
Ich muss mein hämmerndes Herz beruhigen. Ich bin in deiner Wohnung. Zum ersten Mal dringe ich in dein Leben ein.
Tief atme ich den Duft ein, der mich umgibt. Die Dusche wurde heute Morgen schon benutzt und der Hauch deines Parfüms dringt mir in die Nase, berauscht mich. Ein bisschen noch genieße ich die Situation, fühle mich lebendig, bevor ich die Hand nach der Türklinke ausstrecke.
Das Geräusch von Schlüsseln, die deine Haustür öffnen, lässt mich jedoch inne halten und Panik steigt in mir auf. Hast du vielleicht etwas vergessen und musstest nochmal zurück?
Egal, ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich muss hier raus, bevor du mich entdeckst. Auf dem Weg zum Fenster sehe ich deine Haarbürste auf der Kommode liegen und ohne Zögern stecke ich sie ein. Wenigstens ein Teil von dir soll mir gehören. Ich bin schnell durch das Fenster wieder draußen und verschwunden, bevor du mich entdecken kannst. Nach kurzem Sprint um eine Ecke, die Straße entlang, springe ich in eine Straßenbahn und atme mehrmals tief durch. Mein Herz wird sich allerdings nicht so bald beruhigen.
Jetzt habe ich wirklich den ersten Schritt getan und du wirst unweigerlich wissen, dass ich existiere.
Zuhause angekommen ziehe ich nicht einmal die Schuhe aus, sondern gehe, die Haarbürste fest umklammert, direkt in mein Schlafzimmer. Dein Gesicht schaut mich an. Hunderte Fotos von dir zieren meine Wand und nun kann ich einen weiteren Teil von dir hinzufügen. Mit seligem Kichern ziehe ich die Haare zwischen den Borsten hervor und klebe die Strähne mit Klebeband auf mein Lieblingsbild von dir.
Als die Polizei mich festnimmt, weiß ich, dass du mich verraten hast. Sie sagen, meine Fingerabdrücke wären schon in anderen Fällen aufgetaucht.
Dass ich krank sei.
Ich weiß doch, dass ich krank bin.
Du solltest mich retten.