Dark starrte nachdenklich auf sein halbvolles Glas.
Was sollte er nun tun? Genauer gesagt – wo anfangen?
Die Reaktionen der anderen Belletristicans war höchst unterschiedlich ausgefallen – von großer Panik verbunden mit kopflosen Aktionismus, Verbarrikadieren im eigenen Heim bis zum sinnlosen Besäufnis in der Taverne. Glücklicherweise gab es genug Betroffene, die sich nach dem ersten Schock wieder beruhigten und überlegten, wie sie diese Bedrohung von sich und den anderen abwenden sollten.
Dabei stellte sich die Frage, ob man ihn, Dark den Vampir, überhaupt umbringen konnte. Schließlich war er bereits tot. Leider wusste er nicht sicher, ob dieses Gesetz auch auf Belletristica galt. Außerdem würde er weder seine Freunde noch sein verdorbenes Pseudonym im Stich lassen. Er musste alles versuchen, um Seth zu heilen und dadurch zu retten.
Ein Problem war, dass er ewig brauchen würde, um all die geforderten Zutaten zu finden. Wie hatten es die Betroffenen damals geschafft? Wieso gab es in der Chronik keine helfenden Hinweise, sondern nur eine Auflistung der Zutaten?
Welcher Idiot hatte diesen bescheuerten Text verfasst?
Dark seufzte und genehmigte sich einen weiteren kleinen Schluck. Er war nicht mehr hungrig, aber es half ihm, ruhig zu bleiben. Ein Vorteil an Vampirdasein war, dass übermäßiger Blutgenuss keine negativen Folgen hatte.
„Hattest du nicht schon genug?!“, wisperte plötzlich eine leise Stimme.
Erschrocken drehte er den Kopf. Eine kleine Fee schwirrte einige Meter neben ihn auf Augenhöhe und musterte ihn missbilligend.
Wenn es denn überhaupt eine war.
Dieses Wesen war winzig, von einem zarten Körperbau und besaß zwei schimmernde, schwarze Flügel, welche schnell schlugen und es dadurch schweben ließ.
Ein anmutiges Gesicht, umrahmt von langen lockigen Haaren und diese Zierlichkeit ließ einem sofort an eines der Fabelwesen denken – wenn es selbst nicht so dunkel gewesen wäre.
Die Fee schimmerte in einer Mischung aus Schwarz und Blau. Der Farbton erinnerte an jene Obsidiane, die man bisweilen in den Belle- Schatztruhen fand. Fast meinte man, diese kleine Frau sei aus Glas, den trotz der düsteren Farbe schien ihr Körper das Licht auf geheimnisvolle Weise zu reflektieren.
„Wer bist du ?“, wollte Dark mit einer Mischung aus Faszination und Neugierde wissen. Angst empfand er keine – er spürte, dass von diesem Geschöpf keinerlei Bösartigkeit ausging.
Ein kurzes Kichern war zu hören- die Kleine, gerade noch leicht verstimmt, wirkte nun freundlich. „Ich bin die schwarze Fee. Im Allgemeinen nennt man mich Dark.“
„Was?“ Perplex starrte er sie an. Die Anrede war passend, zugegeben, aber dass jemand den gleichen Namen trug wie er selbst, gefiel ihm weniger.
Das Gesicht der Frau wurde wieder ernst. Stimmungswechsel schienen ihr Markenzeichen zu sein.
„Ich hatte mir unser Treffen immer romantischer vorgestellt, aber angesichts der Dringlichkeit mache ich es kurz“, erklärte dem verwirrten Vampir. „Ich bin in dem Augenblick entstanden, als du Belletristica das erste Mal betreten hast. Ich bin dein geheimes Pseudonym.“
„Ein geheimes Pseudonym?“, wiederholte er lahm und schüttelte überfordert den Kopf.
„Der Lebensfunkentempel erschafft für jeden Hauptcharakter eine Fee, die dem neuen Einwohner gleicht“, fuhr sie leicht ungeduldig fort. „Wir haben unseren eigenen geheimen Bereich in Belle, den sonst niemand betreten kann, nicht einmal Ben oder Sebi. Beide haben selbst keine Ahnung von uns und manche kleine Erschütterungen in der Performance kommen von unseren ausgelassenen Festen und Feiern.“
Der Untote nickte, obwohl er nicht wirklich etwas verstand. Die Fee nahm dies aber als Aufforderung, weiterzuerzählen. „Es gibt widersprüchliche Überlieferungen, was mit uns geheimen Pseudonymen passiert, wenn wir mit unserem Vorbild Kontakt aufnehmen. Nur in Zeiten höchster Not ist es uns gestattet.“
„Die verdorbenen Pseudonyme“, ergänzte Dark.
„Sie sind noch nicht verloren, wenn ihr das Gegenmittel herstellt. Aber das weißt du ja. Ich bin hier, um dir bei der Suche zu helfen.“
„Du bist gekommen,
um mir die Zutaten geben?“
„Nein, leider kann ich das nicht. Aber ich bringe dir – uns – Hoffnung. Nützliche Dinge, die dich unterstützen. “
„Was sind das für ‚Dinge‘“, fragte er neugierig. Dieses Wesen schien der Himmel geschickt zu haben.
„Warte!“ Sie fuchtelte leicht mit den Armen. Ein seltsam dichter, schwarzer Nebel erschien wie aus dem Nichts auf seiner Tischplatte, um nach wenigen Augenblicken wieder zu verschwinden. Eine Gürteltasche lag plötzlich darauf.
„Dies ist meine Gabe. Ein Talisman, der dich schnell direkt zu den gesuchten Dingen führen wird – oder zumindest in deren Nähe. Auch ein ewiger Blutbeutel und mehrere kleine Glasgefäße für deine Zutaten findest du darin. Ich werde es dir noch genauer erklären.“
„Danke.“ Rasch griff er danach und öffnete wissbegierig die Tasche. „Was ist denn das in dem versiegelten kleinen Fläschchen?“
„Ach ja, das habe ich vergessen zu erwähnen. Ich sprach von Hoffnung und dies soll eine für dich für den Anfang sein.“
„Hoffnung?“
„Eine Zutat habe ich doch für dich. Die Träne eines Pseudonyms. Es ist mir nicht schwergefallen, angesichts der drohenden Gefahr um dich zu weinen.“