Es war schon spät, als sich Dark in sein Schlafzimmer begab.
Zugegeben, für vampirische Verhältnisse eher früh – aber er hatte sich mit den Jahren an die Lebensgewohnheiten der Sterblichen angepasst. Durch die Blutkonserven war aktives Jagen nicht mehr nötig, und gegen zu heftige Sonnenstrahlen half bekanntlich simple Sonnencreme.
So oder so, der Blutsauger war zufrieden – der Abend mit seinen Pseudonymen war sehr schön verlaufen, und statt einer großen Geschenkorgie war das gemeinsame Beisammensein im Vordergrund gestanden.
Fröhlich pfeifend wollte er gerade anfangen, sich für sein weiches Bett umzuziehen, als plötzlich eine Stimme aus dem Dunkel erklang:
„Frohe Weihnachten, Dark. Möge deine zwei spitzen Fangzähne immer ihr Ziel finden.“
Perplex drehte sich der Untote an. Wer war in der Lage, sich unbemerkt an einen Vampir anzuschleichen?
Lange brauchte er auf seine Antwort nicht zu warten. Eine verhüllte Gestalt löste sich aus dem Schatten der Wand und trat langsam auf ihn zu.
Eine Assassinenkluft! Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, hatte der Fremde auch schon seine Kapuze zurückgeschlagen und enthüllte ihm somit sein Antlitz. „Zugegeben, dieser Spruch ist nicht passend zu Weihnachten, aber ich hielt ihn für witzig.“
„Seth!“
„Ich freue mich, dass du dich noch erinnerst. Darf ich mich setzen?“
Der Blutsauger fing sich rasch. „Natürlich!“
Der Auftragsmörder nickte und ließ sich langsam auf dem Bett nieder. Eine andere Sitzgelegenheit gab es schließlich nicht.
„Sollen wir rüber in das Wohnzimmer gehen?“, schlug Dark deshalb vor, erntete jedoch nur ein Kopfschütteln.
„Es ist schon ok. Es gibt Unbequemeres als eine weiche Matratze.“
Neugierig musterte er Seth. Der Mann wirkte wesentlich ruhiger und nicht mehr so aufgewühlt wie bei ihrem letzten Treffen. In den ersten Tagen nach der Heilung war der Assassine alles andere als glücklich gewesen, sondern einfach nur verwirrt und beschämt.
Trotzdem musste er sichergehen. „Wie geht es dir, Seth? Ich habe dich seit unserem Abschied nicht mehr gesehen.“
Ein amüsiertes leises Lachen war zu hören, bevor sein Gesprächspartner antwortete. „Das mag sein, Dark. Ich habe dich in den letzten Tagen sehr wohl gesehen, war aber verborgen genug, um unbemerkt zu bleiben.“
„Das dürfte nicht sein, Seth! Du bist zweifellos ein Meister deines Fachs, aber ich bin ein Vampir. Ein Nachfahre des ehrwürdigen Draculas. Ich sehe perfekt im Dunkeln, habe bessere Ohren als jeder Sterbliche und mein Geruchsinn ist ebenfalls übermenschlich ausgeprägt.“
Der Mann nickte. „Daran zweifle ich nicht. Trotzdem war es mir problemlos möglich, mich vor dir zu verstecken.“
Der Vampir schluckte unbehaglich. „Muss ich mir Sorgen machen?“
Die unnatürlich hellen blauen Augen schimmerten in einem eigenartigen Glanz, als der Meuchelmörder antwortete: „Nein, brauchst du nicht. Ich hatte Zeit, um nachzudenken und um in mich reinzuhören. Ich bin ruhiger geworden und geistig gefestigt genug, um irgendwelchen bösen Einflüsterungen zu widerstehen.“
„Trotzdem dürftest du dich nicht unbemerkt an mich anschleichen können, das ist widernatürlich.“ Nach einem kurzen Zögern setzte sich der Vampir neben sein Pseudonym. „Müssen wir etwas unternehmen, Seth?“
„Nein. Davon abgesehen, wüsste ich nicht was.“ Ihre Blicke trafen sich. „Weißt du, ich hätte es schon damals gekonnt, als ich noch krank war - mich problemlos an dich heranschleichen, ohne dass es jemand gemerkt hätte. Du wärst chancenlos gewesen. Ich ließ es jedoch bleiben, und verzichtete sogar an jenem Abend darauf, auf diese Fähigkeit zurückzugreifen.“
„Heiliger Drac!“ Dem Unsterblichen lief ein Schaudern über den Rücken. „Gut, dass dich doch irgendetwas zurückgehalten hat. Warum erzählst du es mir erst jetzt?“
„Es war mir nicht von Anfang an klar. Viele Dinge liefen wohl auch unbewusst ab.“ Seth Tonlage war überraschend sanft, als er fortfuhr: „Ich habe es vor Kurzem festgestellt und getestet. Und bin zu einigen Schlüssen gekommen, was dieses Gift und seine Spätfolgen betrifft.“
Der Untote schluckte. „Und die wären?“
„Jetzt machst du dir Sorgen, das ist aber nicht nötig.“ Seth legte seinem Schöpfer beruhigend eine Hand auf dessen Schulter. „Die blauen Augen sind nur ein Phänomen. Offensichtlich wurden wir bei unserer Erschaffung so verändert, dass die Kernfähigkeiten – bei mir das Verbergen und damit mögliche Attentate – unnatürlich stark ausgeprägt sind. Durch den Heiltrank hast du meinen Geist wieder zur Besinnung gebracht – aber die Eigenschaften sind geblieben. Du siehst es ja auch an den Augen.“
„Ein ewiges Mahnmal, dass die Winterdämonen wiederkommen werden.“
„So könnte man es auch sehen.“ Der Mensch lächelte. „Ich habe mich mittlerweile an diesen Anblick gewöhnt. Ich möchte ihn den Einwohnern Belletristicas nicht zumuten.“
„Du unterschätzt sie. Also uns. Bei uns hat sogar ein echter Winterdämon Asyl gefunden, da ist deine geheimnisvolle Augenfarbe eine Kleinigkeit dagegen.“
„Das mag sein. Ich war beschämt, und bin es wohl immer noch. Aber das ist nicht mehr der Grund, weshalb ich mich im Augenblick noch im Verborgenen aufhalte.“
„Jetzt kommst du mir aber nicht mit diesem Spruch von wegen ‚Wir arbeiten im Dunkeln, um dem Licht zu dienen‘?“
Ein herzhaftes Lachen war die Antwort, bevor Seth antwortete. „Das Kredo der Bruderschaft ist so viel mehr als dieser eine Satz. Es würde aber heute zu weit führen, es dir zu erklären. Tatsache ist, dass ich meinen eigenen Weg finden muss. Und ich bin gerade dabei, ihn zu gehen.“
„Und dies ist dir nicht möglich, wenn du dich ab und zu in der Taverne blicken lässt?“, wunderte sich der Untote.
„Es würde nicht passen, Dark. Ich habe dort gelauscht, wie du dir sicher denken kannst. Nein, das ist nicht meine Aufgabe. Ich will es nicht für immer ausschließen, doch im Augenblick ist anderes angesagt.“
„Du bist ein unkontrollierbares Pseudonym mit einem ausgeprägten Willen, mein Assassine“, bemerkte der Vampir halb im Scherz, halb ernsthaft. „Es ist nicht leicht, sich daran zu gewöhnen.“
„Ich kann dir leider nicht sagen, wie sich das auswirkt. Vielleicht werden zukünftige Pseudonyme einen starken eigenen Willen haben, wer weiß das schon? Aber wäre das so schlimm? Schließlich hat sich dein Belletristica mit 2.0 ja auch verändert, oder?“
„Das stimmt. Und Leben ist Veränderung, wenn ich das als Untoter mal so sagen darf. Trotzdem muss mir nicht alles gefallen.“
„Ach, Dark.“ Überraschend steckte Seth die Arme aus und drückte den Vampir fest an seine Brust. „Auch wenn du mich vielleicht nicht siehst – ich werde in deiner Nähe sein. Und eines Tages ein vollwertiger Einwohner Belletristicas.“
„Das bist du doch jetzt schon. Deine Selbstfindungssuche ändert daran nichts!“, widersprach der Vampir.
„Wer weiß. Nur eines weiß ich sicher!“
„Und das wäre?“
Seth wandte sich vorsichtig aus der Umarmung. „Ihr Vampire seid einfach furchtbar kalt.“
E N D E