01. Mai
Der erste Mai war für mich schon immer ein Tag, wie jeder andere auch. Warum sollte ein Anfang des Monats auch etwas außergewöhnliches sein? Es gibt schließlich zwölf davon im Jahr und so habe ich nie verstanden, warum manche Menschen den 1. Mai besonders finden. Vielleicht sollte ich zunächst ein wenig weiter ausholen, bevor ich dir erzähle, du seltsames Buch, warum ich zu dir gegriffen habe.
Zunächst will ich dir versichern, ich war kein schlechter Mensch und hatte ganz und gar keine bösen Absichten, als ich nach Aya zog. Damals war ich von den Sagen und Mythen fasziniert, die diese Stadt umgaben und so entschloss ich mich, Teil dieser zu werden. Ich möchte es kurz halten: Ich war enttäuscht von den Häusern und den Menschen dort, alles was mich aufmunterte, war der Tempel des Port, der Gott, der über Aya wacht. Ich zog in meine kleine Wohnung und ich betrat fast jeden Tag dieses Bauwerk Gottes. Dort lernte ich auch meinen treuesten Freund kennen, sein Name ist Rory. Und wie du vielleicht daraus schließen kannst, haben wir viel zusammen unternommen, zusammen Feste gefeiert und Verluste betrauert.
Rory war schon immer der Mutigere von uns beiden. Er wagte sich an Einbrüche, raubte Geschäfte aus und bestahl die Reichen und Mächtigen. Ich habe ihn nie verraten, nein. Ich habe mitgemacht. Wir waren damals jung und unerfahren, haben unseren Mut durch diese Taten unter Beweis stellen wollen.
Doch mit der Zeit lernten wir, was es wirklich bedeutet, ein Dieb zu sein, der überall gesucht wurde. Einmal durchsuchten die Wachen des Königs meine Wohnung, doch zu meinem Glück fanden sie nichts. Rory und ich bewahrten unsere Beute nie bei uns zu Hause auf. Nein, so dumm waren wir nicht gewesen. Trotzdem gaben wir zusammen unsere Häuser auf und lebten fortan in den Kanälen des Untergrunds. Oh ja, der Geruch war weniger als unangenehm und noch heute verfolgt mich manch schauderhafte Begegnung der Ratten, die dort hausen. Die Tage dort, die wir auch heute noch hier verbringen, sind genauso dunkel wie die Nacht und meine Augen gewöhnten sich, womöglich auch zu schnell, an die immerwährende Finsternis. So kam es, dass ich kaum noch am Tage in den Straßen von Aya zu sehen bin. Meinen Kumpanen Rory dagegen traf es nicht so hart, er besitzt bessere Augen als ich und kam mit den unterschiedlichen Begebenheiten gut klar.
Doch das Leben dort hat auch Vorteile, weißt du. Ich lernte mich unterirdisch zurechtzufinden, kannte schon bald die Lagen sämtlicher Kanaldeckel auswendig. So war es mir möglich erst kurz vor unseren Verbrechen auf der Bildfläche zu erscheinen und so schnell zu verschwinden, wie wir gekommen waren. Meine armseligen Kräfte nahmen zu, bei dem täglichen Rhythmus des Deckelhebens und -verschließens.
Zur Sicherheit verlegen wir unser Lager und Schlafplatz alle paar Tage, um den Kontrollen der Wachen zu entgehen.
Die Beute aber, die wir uns Woche für Woche anschaffen, behalten wir nicht lange. Die vielen Goldmünzen und unzähligen Taler schaufeln wir zu Bergen zusammen und geben sie den Lonern. Ein Loner, liebes Tagebuch, ist ein Aussätziger, ein Verstoßener der Städte des Königreiches. Diese bemitleidenswerten Menschen haben sich auf eine größere Insel zurückgezogen, um in Frieden zu leben. Sie errichteten kleine Häuser aus Holz, kauften Vieh von dem wenigen Geld, das sie noch besaßen und begannen dort ihr neues Leben. Diese Menschen leben am Abgrund der Zivilisation und beinhalten all das Leid, das sonst so perfekt verschleiert wird.
Damals wusste ich selbst nicht, wie Rory es schaffte, einen Schmuggler zu organisieren, der unsere erste Lieferung zu den Lonern brachte. Geld regiert die Welt, passte dort wohl am Besten. Und Geld hatten wir zur Genüge.
Ein paar Mal hatten wir es geschafft, den Kontrollen zu entgehen, denn weißt du, die Insel wird streng bewacht und niemand darf dieses Gebiet betreten. Die meisten unserer prall gefüllten Schiffe wurden abgefangen und das Gold dem König zurückgebracht. Niederschmetternd, wenn man bedachte, dass das Gold, das zuvor noch bei uns gelegen hatte, nun wieder dort war, wo wir es gestohlen hatten.
Rory war derjenige, der die Lieferungen organisierte und öfters sogar höchstpersönlich dafür sorgte, dass diese auch bei denen ankamen, für die sie bestimmt waren. Für einige Tage bleibe ich dann alleine und schmiede Pläne für neue Raubzüge, in dieser einen Sache bin ich mit aller Bescheidenheit wirklich besser als er. Hat die Überfahrt geklappt, so treffen wir uns am Tempel des Port, wo wir um Vergebung und Sündenerlass bitten. Port, der Gott der Seefahrer, scheint uns dafür wohl am Besten geeignet. An einem der solchen Tage hat er mir übrigens dich geschenkt, du Tagebuch.
Klappt die Überfahrt nicht, so treffen wir uns an den folgenden Tagen am Tempel. Einmal habe ich wochenlang auf Rory gewartet, doch am Ende erschien er immer.
Eine lange Geschichte, die jedoch nur einen Bruchteil meines Lebens bildet.